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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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PARENTHOOD (Ron Howard/USA 1989)


"Women have choices, and men have responsibilities."

Parenthood (Eine Wahnsinnsfamilie) ~ USA 1989
Directed By: Ron Howard

Vater werden ist nicht schwer - Vater sein dagegen sehr, wie man seit Menschengedenken weiß, und für Gil Buckman (Steve Martin), Familienvater dreier Sprösslinge (Jasen Fisher, Alisan Porter, Zachary Lavoy), Bruder dreier mehr oder minder problembehafteter Geschwister (Dianne Wiest, Harley Jane Kozak, Tom Hulce), Sohn, Schwager, Onkel und was sonst noch alles, gilt jene Weisheit im Überfluss. Er selbst wirft seinem Dad (Jason Robards) vor, einst bei seiner Erziehung einen lausigen Job gemacht zu haben - und steht jetzt selbst vor dem Problem, dass sein Ältester Kevin (Fisher) eine Sonderschulempfehlung am Hals hat wegen emotionaler Instabilität. Hinzu kommen all die Probleme und Problemchen, die seine Schwestern und sein jüngerer Bruder am Halse haben, und jene sind ebenfalls nicht zu unterschätzen...

Kann sein, dass, hätte ich "Parenthood", dessen deutscher Titel eine ausgemachte Frechheit ist, jetzt erstmals gesehen, ihn etwas zu süßlich fände. All das mittelständische Herumgeplärre kämpft nämlich mit der stetigen Gefahr der inhaltlichen Belanglosigkeit und scheut darüber hinaus auch nicht Klischee und Kitsch. Die Figuren sind durch die Bank geprägt von Stereotypismen bzw. trauter US-amerikanischer Gleichmacherei. Das schwarze Schaf der Familie ist nicht ohne, aber auch nicht so verdorben, dass man sich seinetwegen größere Sorgen machen müsste. Die meisten Anderen sind leicht neurotisch, jedoch unter entsprechenden Rahmenbedingungen. Der Opa ist ein Bilderbuch-Patriarch, die Uroma lustig verkalkt. Ansonsten halten alle samt und sonders irgendwie zusammen und demonstrieren somit die Stärke von Blutbanden. Am Ende sprießt dann der multiple, frühlingsgebundene Nachwuchs in Form lauter kleiner neuer Babys, die das republikanische Erbe ihrer Ära irgendwie weitertragen und selbst dereinst für neue Generationen kleiner Republikaner sorgen werden. Die dazugehörige Szene ist übrigens wirklich herzrührend und zu Randy Newmans unterlegter Musik großartig montiert. Nun kenne ich "Parenthood" aber schon so lange wie er alt ist und darf ihn als einen Evergreen bezeichnen, der mich seit gut zwanzig Jahren immer wieder aus der Alltagslethargie reißt. Ein kleiner, persönlicher Klassiker eben, dem ein halbwegs nüchternes Gerechtwerden durch meine Wenigkeit leider völlig versagt bleiben muss. Weil ich ihn, trotz seiner nicht wenigen Schwächen, unheimlich lieb habe. Wegen seiner traumhaften Besetzung in ungetrübter Höchstform und wegen Randy Newmans Titelsong. Und Joaquin hieß damals tatsächlich noch 'Leaf'.

8/10

Ron Howard Familie Kinder Ensemblefilm Midlife Crisis


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LITTLE FOCKERS (Paul Weitz/USA 2010)


"Are you prepared to be... the Godfocker?"

Little Fockers (Meine Frau, unsere Kinder und ich) ~ USA 2010
Directed By: Paul Weitz

Pam (Blythe Danner) und Greg Fockers (Ben Stiller) Zwillinge Samantha (Daisy Tahan) und Henry (Colin Baiocchi) feiern bald ihren fünften Geburtstag. Dazu haben sich beide Großelternpaare angekündigt. Jack Byrnes (Robert De Niro) macht sich angesichts einer Herzattacke zudem Sorgen um das Fortleben seines Status als Familienpatriarch und plant, Greg auf seine zukünftige Rolle vorzubereiten, zumal sein anderer Schwiegersohn (Tom McCarthy) dessen Frau just verlassen hat. Natürlich zieht das paranoide Verhalten Jacks, der sogleich bei seinem Besuch auch bei den Fockers eine Ehekrise vermutet, Greg der Fremdgeherei bezichtigt und das etwas seltsame VerhaltePams mehr und mehr durchdrehender Ex-Lover Kevin Rawley (Owen Wilson) wieder auf der Bildfläche auf...

Auch wenn "Little Fockers" den ersten beiden (meine Eindrücke zum ersten Sequel lassen sich hier nachlesen), von Jay Roach inszenierten Filmen der Trilogie nicht ganz das Wasser reichen kann, lässt er sich dennoch als durchaus witzige Fortsetzung goutieren. Das grundsätzlich identische Konzept der beiden Vorgänger, unpassende Familienmitglieder aufeinanderprallen und hochnotpeinliche Situationen meistern zu lassen, ging hier jedoch zwangsläufig nicht mehr auf. Stattdessen vertieft man die Beziehungsgeflechte der bereits etablierten Figuren und demonstriert, dass jede zwischenzeitliche Aussöhnung zwischen Schwiegervater Jack und Schwiegersohn Greg lediglich einen Aufschub für die endgültige, in Handgreiflichkeiten ausartende Kulmination bedeutete. Die Ausschlag gebende Situation markieren nun auch nicht mehr potenziell aufregende Szenarien wie Heiratsantrag und Familienplanung/ -zusammenführung, sondern das profane Leben danach und die dazugehörigen, unausweichlichen Krisen. Als Stimme der Versuchung stellt man Stiller die leckere Jessica Alba gegenüber, als zusätzlichen Nerventester indes Harvey Keitel, der einen schmierigen Bau-Vorarbeiter mit sichtlichem Vergnügen interpretiert. Owen Wilsons Part des sich auf esoterische Irpfade begebenden Kevin Rawley gleicht mittlerweile vollends dem des Eli Cash aus "The Royal Tenenbaums" und ist damit der größte komödiantische Markstein dieses ansonsten eher zu gepflegtem Schmunzeln anregenden Films.

7/10

Paul Weitz Chicago Sequel Familie Ehe


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MEET THE PARENTS (Jay Roach/USA 2000)


"I will be watching you..."

Meet The Parents (Meine Braut, ihr Vater und ich) ~ USA 2000
Directed By: Jay Roach

Bevor er seiner geliebten Pam (BlytheDanner) einen Heiratsantrag macht, will der Chicagoer Krankenpfleger Greg Focker (Ben Stiller) zunächst die Zustimmung von Pams Vater Jack Byrnes (Robert De Niro) einholen. Für dieses Unterfangen wählt er das Hochzeitswochende von Pams jüngerer Schwester Debbie (Nicole DeHuff). Jack entpuppt sich nicht nur als Ex-CIA-Agent, sondern zudem als erzkonservativer, paranoider Kontrollfreak und Albtraum von einem Spießer, dessen Vorstellungen vom perfekten Schwiergersohn garantiert niemand gerecht werden könnte. Greg lässt sich durch das inquisitorische Gehabe seines zukünftigen Schwiergervaters jedoch schwer aus der Ruhe bringen und tritt in ein Fettnäpfchen nach dem anderen.

Vorzügliche Fremdschäm-Komödie, die das von Ben Stiller regelmäßig bediente Konzept, seine Figuren als Sympathieträger in scheinbar ausweglose oder höchst blamable Situationen aufs Neue variiert und im Grunde eine, wenn auch vollends perfektionierte, Abfolge von Volten abliefert, an deren Ende die große Konfliktlösung wartet. Der vordergründige Ideenreichtum speist sich primär aus der Passionsgeschichte des Gaylord Focker, für den sich ein im Prinzip simpler Heiratsantrag zur Tortur seines Lebens ausweitet. Sekundär ist die Konterkarierung der von Stiller und De Niro inerpretierten Figuren für das außerordentlich reibungslose Funktionieren der Geschichte verantwortlich - der unkonventionelle, aus ultraliberalem Hause stammende Frauenversteher vs. den überkommenen Cold-War-Machismo desalten Knochens Byrnes. Dass Stiller sich jedes zweite Ding, dessen De Niro ihn verdächtigt, tatsächlich selbst lappt, gehört natürlich ebenso zur elementaren formalen Grundausstattung.

8/10

Jay Roach Verlobung Wochenende Chicago Familie Duell


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STAND BY ME (Rob Reiner/USA 1986)


"I never had any friends later on like the ones I had when I was twelve."

Stand By Me ~ USA 1986
Directed By: Rob Reiner

Angesichts der Ermordung seines Jugendfreundes Chris (River Phoenix) erinnert sich der Schriftsteller Gordie Lachance (Richard Dreyfuss) an seine Kindheitsjahre, in denen er (Wil Wheaton) sich zusammen mit seinen drei besten Freunden Chris, Teddy (Corey Feldman) und Vern (Jerry O'Connell) auf die abenteuerliche Suche nach der Leiche eines gleichaltrigen Jungen macht. Der schlussendliche Fund des Toten wird zu einer biographischen Zäsur für alle Beteiligten.

Ich habe das große Glück, mit Stand By Me aufgewachsen zu sein. Als ich den Film seinerzeit mit meinem besten Freund im Kino gesehen habe, waren wir etwa imselben Alter wie Gordie, Chris,Teddy und Vern und deswegen ebenso weltverständig und emotionsoffen, wie es elf- und zwölfjährige Jungs eben sind, bevor Mädchen und Bier zu den existenzbestimmenden Themen werden. Einen besseren Zeitpunkt für die Premiere von Reiners wahrscheinlich schönstem Film kann ich mir im Nachhinein jedenfalls nicht vorstellen. "Stand By Me" hat mich im Laufe der letzten 25 Jahre stets begleitet und ist nie wieder von meiner Seite gewichen. Die Perspektive allerdings hat irgendwann ganz unmerklich von dem jungen hin zum alten Gordie gewechselt, dessen Blick auf seine Kindheit und jenes zugleich so schöne wie morbide Erlebnis auf der Straße zum Erwachsenwerden ja ebenso nostalgieverklärt sind wie die eigenen Rückblicke, die man, um diverse Erfahrungen reicher und gereifter, so pflegt. Diese universelle Erzählsprache, die nicht allein Stephen Kings Vorlage "The Body", sondern auch dem filmgenuinen Script und natürlich Reiners brillanter Inszenierung zuzuschreiben ist, die witzige popkulturelle Zitate pflegt und die die Musikhits der Zeit hörbar macht, ist es, die "Stand By Me" erst zu seiner speziellen Empathie und seiner so gemeinverständlichem Persönlichkeit verhilft. Ganz davon abgesehen, dass er einen der besten mir bekannten Filme über Freundschaft und Unschuldsverlust darstellt.

10/10

period piece Coming of Age Stephen King Rob Reiner Oregon Freundschaft Road Movie


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GIÙ LA TESTA (Sergio Leone/I 1971)


"When there's revolution, there's confusion."

Giù La Testa (Todesmelodie) ~ I 1971
Directed By: Sergio Leone

Zwei ungleiche Männer ziehen sich gegenseitig hinab in die Wirren der Mexikanischen Revolution: Sowohl für den Strauchdieb Juan Miranda (Rod Steiger) als auch den exilierten irischen Ex-Rebellen John Mallory ist 'Revolution' zunächst kein Thema. Miranda gibt sich betont opportun und unpolitisch, während Mallory als Revoluzzer im eigenen Lande Freundschaftsverlust und Verrat erlebt hat und just davor eigentlich fliehen wollte. Als sie dann doch auf Seiten Zapatas aktiv werden und sich den bösartigen Colonel Reza (Antoine Saint-John) zum Feind machen, erleben die beiden, bald zu Freunden gewordenen Männer die ganze Palette von blutigen Preisen, die im Zuge eines Regierungssturzes bezahlt werden müssen.

Und wieder zurück zu jener Mischung aus Humor und Elegie, die zwei Filme vorher bereits "Il Buono, Il Brutto, Il Cattivo" auszeichnete. Demonstrativ geäußertes politisches Desinteresse und Ignoranz werden ersetzt durch moralische Integrität; der schlitzohrige Einzelgänger ist schließlich bloß ein Staubkorn angesichts des furchtbaren Sturms, den das Wesen des Krieges entfacht. Nach dem ersten, eher luftig angelegten Drittel, in dem Miranda und Mallory sich kennen lernen, gegenseitig aufs Kreuz legen und ihre erste gemeinsame Mission, nämlich die Befreiung politischer Häftlinge, durchführen (Miranda freilich noch unfreiwillig), ändert sich der Ton schlagartig. Einem Massaker, das die beiden Freunde an einer Regierungstruppe begehen, folgen der Mord an Mirandas Familie, eine erst durch den Verrat des zuvor gefolterten Dr. Villega (Romolo Valli) ermöglichte Massenexekution im strömenden Regen und schließlich die finale Abrechnung mit Reza. Die Toten türmen sich meterhoch und machen "Giù La Testa" zu Leones kompromisslosestem Film. Dazu bekommen wir eine der schönsten Filmmusiken, die Ennio Morricone je komponierte und die mit ihrer teils bahnbrechenden Traurigkeit bereits auf das große Meisterwerk "Once Upon A Time In America" hindeutet. Rod Steiger beweist erneut, welch ein fantastischer Schauspieler er war und auch der pferdegebissige Coburn ist großartig wie immer. Mir hat "Giù La Testa" heuer im Direktvergleich besser gefallen als "C'Era Una Volta Il West", weil Leone hier darauf verzichtet, gleich von Beginn an Oper um der Oper Willen zu präsentieren, sondern sein Epos sich fast unmerklich und ganz von allein entfalten lässt, bis man am Ende wie erschlagen im Sessel sitzt.

10/10

Sergio Leone Mexiko Mexikanische Revolution period piece Historie Irische Revolution Amerika-Trilogie Freundschaft Rache Italowestern


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C'ERA UNA VOLTA IL WEST (Sergio Leone/I, USA 1968)


"Keep your lovin' brother happy."

C'Era Una Volta Il West (Spiel' mir das Lied vom Tod) ~ I/USA 1968
Directed By: Sergio Leone

Für die Ex-Prostituierte Jill (Claudia Cardinale) aus New Orleans wird die Reise zu ihrem neuen Ehemann Brett McBain (Frank Wolff) und dessen drei Kindern zu einer unwillkürlichen Trauerfahrt. Kurz vor Jills Ankunft werden die McBains von dem Killer Frank (Henry Fonda), der mit dem Eisenbahnmogul Morton (Gabriele Ferzetti) paktiert, erschossen. Die Bluttat wird dem ortsbekannten Unruhestifter Cheyenne (Jason Robards) und seiner Bande zugeschrieben, der sich solcherlei Verleumdung jedoch nicht gern anhören mag. Und dann ist da noch ein geheimnisvoller, namenloser Mundharmonika-Spieler (Charles Bronson), der die gesamte, verworrene Situation zu überblicken scheint und ganz eigene Ziele verfolgt...

Angesichts des pompösen "C'Era Una Volta Il West", der im Nachhinein als Startschuss für Leones Amerika-Trilogie galt, wirken die vorherigen drei Western mit Clint Eastwood fast wie eine Art von sich immer mehr verfeinernder Generalprobe. Zwar übte sich Leone mit "Il Buono, Il Brutto, Il Cattivo" bereits im Epischen und ordnete die Geschichte seiner drei opportunistischen Antihelden dem historischen Sezessionskriegsgeschehen unter, der alles überlagernde, dreckige Humor des Films wirkt im Vergleich zum vorliegenden Film jedoch wie ein letztes pubertäres Aufbäumen innerhalb eines freudianischen Entwicklungszyklus. Mit "C'Era Una Volta" wäre somit die Adoleszenz erreicht; Leone endgültig erwachsen geworden und, damit einhergehend, der Italowestern an seiner Reifekulmination angelangt. Tatsächlich ist dies ja das letzte echte Schlüsselwerk der Untergattung, sieht man von ein paar eher im subkutanen Genre-Aficionado-Bereich kultivierten Einzelstücken ab. Danach hatte der italienische Western tatsächlich nichts wesentliches mehr zu sagen; sämtliche vorkommende Typologien wurden ihrer eigenen Mythologie überantwortet und zu Metafiguren deklariert. Selbst der klassische amerikanische Western bekam sein Fett weg; Jack Elam und Woody Strode werden gleich zu Beginn verheizt, Henry Fonda, einst aufrechter, demokratischer Held ohne Fehl und Tadel, ist nunmehr als der vermutlich dämonischste Bösewicht des Leinwand-Westens zu sehen, erschießt und quält Kinder, beleidigt seinen todkranken Kompagnon, rotzt seinen Kautabak durchs Gelände und ist über allem noch ein misogynes Schwein. Dass ausgerechnet solchen Männern Pioniergeist und Grenzausweitung zu verdanken sein sollen, mag Leone am Ende aber dann doch nicht eingestehen. Ein letztes Mal triumphiert der rächende Fremde ohne Namen in Almería, diesmal freilich interpretiert von Leones einstiger Wunschbesetzung für den Ponchoträger, Charles Bronson. Der Rest ist, mit Verlaub, Geschichte.

9/10

Sergio Leone Amerika-Trilogie Eisenbahn Dario Argento Bernardo Bertolucci Rache Freundschaft Italowestern


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JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE (Werner Herzog/BRD 1974)


"Ein schönes Protokoll, ein gutes Protokoll. Solch ein Protokoll gibt es nicht alle Tage!"

Jeder für sich und Gott gegen alle ~ BRD 1974
Directed By: Werner Herzog

In der Stadt Nürnberg wird am 26. Mai des Jahres 1828 ein junger Mann (Bruno S.) auf einem Dorfplatz vorgefunden, der einen schwer verwahrlosten Eindruck macht. Aus dem bisschen Geschreibe, das der Findling zu kritzeln im Stand ist, wird ersichtlich, dass sein Name 'Kaspar Hauser' lautet. Offenbar, so erfährt man, nachdem Kaspar gelernt hat, mit der Außenwelt zu kommunizieren, habe er sein ganzes bisheriges Leben in einem dunklen Verlies zugebracht und sei schließlich von einem ihm unbekannten Mann (Hans Musäus) hierher geführt worden. Den aufrechten Gang und seine spärliche Schreibfähigkeit habe er von dem Unbekannten erlernt. Nacheinander nehmen sich zunächst der Gefängnisaufseher Hiltel (Volker Prechtel) und dann der Theologe Daumer (Walter Ladengast) Kaspars an. Zwischenzeitlich muss er, um für seinen Unterhalt zu sorgen, auch in einer Kuriositätenschau auftreten und wird überhaupt zu einer lebenden Legende, der man unter anderem bald eine mysteriöse adslige Herkunft andichtet. Nur fünf Jahre nach seinem Erscheinen wird Kaspar schließlich von jenem Unbekannten, der ihn einst nach Nürnberg brachte, erstochen.

Für das historische Teilprogramm des Neuen Deutschen Films bildete das Sujet "Kaspar Hauser" ein willkommenes Gepräge, eignete es sich doch vortrefflich, um Parallelen zur sich gegenwärtig einnistenden Post-Wirtschaftswunder-Spießigkeit im geteilten Deutschland der frühen Siebziger zu ziehen und jene dann mittels einer wunderbar abseitigen Mischung aus Tragödie und eigenwilligem Humor filmisch aufzubereiten. Herzog zaubert purste Poesie aus dem Hut, wenn er immer wieder scheinbar unmotivierte bildliche Zäsuren auftischt: wogende Weizenfelder und Abendhimmel vorzeigt, einen Hag im sich brechenden Dämmerlicht oder vorgeblich Beiläufiges wie dumm stierende Passanten und Gaffer. Hier zeigt sich die grandiose Beobachtungsgabe, die vielen Regisseuren des deutschen Autorenfilms zu eigen war nebst ihrer Fähigkeit zur trockenen Kommentierung. Grandios die Einstellung, in der der fabulierfreudige Zirkusdirektor (Willy Semmelrogge) Kaspar als Höhepunkt seiner menschlichen Exoten vorstellt, die erst Farbe durch den vollends seiner Dichtung zuzuschreibenden Anekdotenreichtum bekommen. Die folgende Flurflucht der Gesellen, zu denen auch ein angeblich miniaturisierter König, ein "Mozartkind" und ein Flöte spielender Indianer zählen, wirkt wie eine Rebellion im Käfig. Und immer wieder betreten obskure Gestalten die Szenerie; ein Mathematiker (Alfred Edel), der mittels angeblich logischer Zusammenhänge Kaspars Geisteszustand zu untersuchen probiert, engstirnige Kirchenmänner (u.a. Enno Patalas) und, meine persönliche Lieblingsfigur, der alles wiederholende, kleinwüchsige Protokollant. Sehen, hören, staunen - geht hier alles.

9/10

Werner Herzog Biopic Kaspar Hauser Historie period piece Nürnberg Parabel Biedermeier


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DR. JEKYLL & SISTER HYDE (Roy Ward Baker/UK 1971)


"How are you today, Mrs. Hyde?"

Dr. Jekyll & Sister Hyde ~ UK 1971
Directed By: Roy Ward Baker

Der besessene Wissenschaftler Dr. Jekyll (Ralph Bates) sucht krampfhaft nach einem Mittel, das der Menschheit universelle Immunität gegen jedwede Infektionskrankheit gewährt. Das Insistieren seine Freundes Robertson (Gerald Sim) bringt ihn jedoch auf eine ganz neue Idee: Die Suche nach dem ewigen Leben. Ein Trunk, bestehend aus dem Sekret weiblicher Hormondrüsen, verwandelt Jekyll im Selbstexperiment schließlich in die eiskalte Mrs. Hyde (Martine Beswick), die sich im Hause als Jekylls verwitwete Schwester vorstellt. Um ihre stets nur befristete Existenz weiterhin zu gewährleisten und auszuweiten, geht Mrs. Hyde im East End auf die Jagd nach jungen Prostituierten.

Der wohl einzige Film, der eine Schnittmenge bildet aus den drei großen Schauermotiven des viktorianischen London: Jekyll & Hyde, Jack The Ripper sowie die beiden Leichendiebe Burke (Ivor Dean) und Hare (Tony Calvin) landen rigoros in einem Topf und werden zu einer schmackhaften Gemengelage verquirlt, die zum Besten gehört, was Hammer in den Siebzigern noch vorzuzeigen hatte. Unabhängig von den etwas wild zusammengewürfelten Ausgangsfiguren ist "Dr. Jekyll & Sister Hyde" nämlich die durchaus ernstzunehmende Parabel einer geschlechtlichen Identitätslosigkeit. Hier dient die alte Geschichte von der Persönlichkeitsspaltung in Es und Über-Ich einmal nicht dazu, den urtümlichen Konflikt zwischen Trieb und Ethos zu illustrieren, sondern vielmehr zur Freisetzung eines lange lauernden Fetisch. Als Mrs. Hyde erfreut sich Jekyll über sein prächtiges Paar Brüste und stolziert im roten Abendkleid durch Whitechapel, stets die neiderfüllten Blicke der armen Huren auf sich spürend. Ein sexuelles Interesse an Männern ist dabei bestenfalls peripher vorhanden: Mrs. Hyde will an die Hormonausschüttungen ihrer Geschlechtsgespielinnen, um Jekyll endgültig in den intergrund drängen zu können. Mit famoser Ausstattung und einem trotz des etwas krude anmutenden Sujets völlig konzentriert arbeitenden Regisseur relativiert "Dr. Jekyll & Hyde" den etwas hilflosen Humor aus "The Horror Of Frankenstein" wieder und untermauert Ralph Bates' Status als später Studiostar. Außerdem ist die zwischen kühl und feurig chargierende Martine Beswick wahrlich zum Anbeißen.

8/10

Hammer Roy Ward Baker mad scientist Madness Jekyll und Hyde Victorian Age period piece Jack The Ripper Robert Louis Stevenson Burke & Hare Serienmord London


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THE HORROR OF FRANKENSTEIN (Jimmy Sangster/UK 1970)


"Good boy. Well done."

The Horror Of Frankenstein (Frankensteins Schrecken) ~ UK 1970
Directed By: Jimmy Sangster

Baron Victor Frankenstein (Ralph Bates), einem gewissenlosen Dandy, ist zur Verfolgung seiner Ziele jedes Mittel Recht. Frankenstein plant, den Tod selbst zu besiegen und leblose Körper mittels galvanischer Kräfte neue Vitalität einzuhauchen. Seine Experimente kulminieren in der Schaffung eines aus Leichenteilen bestehenden, bösen Flickwerkmonsters (David Prowse), das mit Ausnahme seines Herrn und eines kleinen Mädchens (Carol Jeayes) jedwede Person ins Jenseits befördert, die zufällig seine Wege kreuzt.

Anstatt nach fünf "Frankenstein"-Filmen mit Peter Cushing nonchalant den sechsten Teil hinterher zu schieben (dieser ließ noch vier weitere Jahre auf sich warten, hatte dann aber wiederum David Prowse im Gepäck, diesmal als haarigen Affenmenschen), entschloss sich die Hammer zunächst für etwas, das im gegenwärtigen Kino in aller Munde ist: Ein Reboot. "The Horror Of Frankenstein" lässt sich im Direktvergleich zu den durchweg traditionellen Cushing-Filmen denn auch recht eindeutig als eine schwarze Komödie einordnen. Ralph Bates ist als großmäuliger, arroganter Youngster zu sehen, dessen Egomanie so weit geht, dass er zu keiner weiteren gefühlsmäßigen Regung denn zur Autoerotik fähig ist und dass er jeden Menschen, der ihm etwas bedeuten sollte, kurzerhand aus dem Weg räumt. Als sein Vater (George Belbin) ihm den Geldhahn zudreht, präpariert er dessen Lieblingsflinte, als sein bester Freund Wilhelm (Graham James) ihm den Rücken zukehrt, setzt Frankenstein ihn unter Strom. Diverse Mitwisser und Erpresser werden ebenfalls von ihm oder seinem ungeschlachten Hausfaktotum eliminiert. Ferner nutzt er die Notlage der schönen, ihn liebenden Elisabeth (Veronica Carlson) schamlos aus und engagiert sie - als Hausmädchen!
Das Beste jedoch: Wo Peter Cushing jeweils am Ende der omnipräsenten Kinomoral, derzufolge Verbrechen sich nicht lohnt, nachzugeben hatte, kommt Ralph Bates ungeschoren davon. Das einzige Beweismittel für seine Skrupellosigkeit endet zwar unreiwillig im Säurebad - das war's aber auch schon. Am Ende bleibt nur sein etwas genervtes Antlitz im Closeup - muss eben ein neues Ungetüm her. Selbiges blieb jedoch Wunschdenken, denn das zweite, potenzielle "Frankenstein"-Franchise aus dem Hause Hammer blieb bei diesem recht obskuren, aber zumindest witzigem, singulären Einzelschuss.

6/10

Jimmy Sangster Hammer Frankenstein Groteske Schwarze Komödie period piece mad scientist Madness


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THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI (David Lean/USA, UK 1957)


"You're two of a kind, crazy with courage. For what? How to die like a gentleman. How to die by the rules - when the only important thing is how to live like a human being!"

The Bridge On The River Kwai (Die Brücke am Kwai) ~ USA/UK 1957
Directed By: David Lean

Thailand, 1943. Als der ein mitten im Urwald liegendes Kriegsefangenenlager kommandierende Colonel Saito (Sessue Hayakawa) den britischen Oberst Nicholson (Alec Guinness) und dessen Regiment übersandt bekommt, ahnt der fanatische, japanische Offizier nicht, dass ein ihm in punkto Dickköpfigkeit ebenbürtiger Duellant ins Haus steht. Nicholson weigert sich strikt, Saitos der Genfer Konvention widersprechender Anordnung, derzufolge auch die Offiziere beim geplanten Bau einer Brücke über den Fluss Kwai körperlich arbeiten sollen, Folge zu leisten. Dafür wird er geschunden und gefoltert, kann sich am Ende jedoch gegen Saito, der die Brücke termingerecht fertiggestellt bekommen muss, durchsetzen. Damit nicht genug wird der Brückenbau bald zu Nicholsons höchstpersönlicher Obsession und zu einem widersinnigen Symbol für den ungebrochenen Kampfgeist der britischen Armee. Der aus Saitos Lager entkommene Amerikaner und Hochstapler Shears (William Holden) erhält schließlich den Auftrag, Nicholsons Brücke im Zuge eines waghalsigen Kommandounternehmens zu sprengen...

Mit "The Bridge On The River Kwai" begann ein neuer Abschnitt in der Regisseurs-Karriere David Leans. Bereits populär geworden durch einige, vergleichsweise spartanisch gefertigte britische Kunstwerke, fertigte Lean ab 1957 nurmehr große, prachtvolle Historienepen mitsamt Überlänge und Breitformat, die ihm jeweils immer gigantischere Meriten eintrugen und immer ausgedehntere kreative Pausen nach sich zogen. Dies hatte zur Folge, dass Lean in den knapp drei Dekaden zwischen 1957 und 1984 nur fünf Filme inszenierte, wobei der Abstand zwischen den letzten beiden immerhin satte vierzehn Jahre betrug. Die sich leicht als Trilogie um angeknackste Helden im Clinch der Geschichte lesen lassenden ersten drei Meisterwerke dieser absoluten Phalanx großer Kinokunst beginnt eben mit "The Bridge On The River Kwai", einem Kriegsopus, das um ganze fünf in Identitätskrisen befindliche Männer kreist. Da sind der japanische Offizier Saito, dessen Lebensmaxime sich gänzlich aus dem Bushidō speist, sein in berufsethischer Hinsicht nicht minder verbohrter, englischer Berufsgenosse Nicholson, dessen bürokratische Kriegssicht ihn langsam den Verstand kostet, der flapsige und zynische Amerikaner Shears, ein reiner Opportunist und Antiheld, schließlich der wiederum fanatische Brite Warden (Jack Hawkins), prinzipiell ein Bruder Nicholsons im Geiste, am Ende jedoch dessen letztes Verhängnis und schließlich der Sanitätsoffizier Clipton (James Donald), der einzige Mann dieses Quintetts, der eine klare Sicht der Dinge wahren kann. Abseits von der sorgfältig ausgearbeiteten und jeweils brillant dargestellten Charakterzeichnung dieser Figuren sowie einem allgegenwärtigen Galgenhumor wirft Lean natürlich auch diverse Schauwerte in die Waagschale, man denke nur an die ausufernde Natursymbolik - beispielsweise die bei einem Dschungelgefecht aufsteigenden Scharen von Fledermäusen.
Die kulturelle Hinterlassenschaft dieses großen Kunstwerks zuvorderst: "The Bridge On The River Kwai" ist ein Film, an dem man aufgrund seiner perfekten Stimmigkeit und Balance auch nach 55 Jahren rein gar nichts ändern möchte.

10/10

David Lean Pierre Boulle WWII Pazifikkrieg Gefängnis Flucht Thailand Best Picture





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