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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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THIS IS ENGLAND '86 (Tom Harper, Shane Meadows/UK 2010)


"I love you. I know you don't love me but I love you."

This Is England '86 ~ UK 2010
Directed By: Tom Harper/Shane Meadows

Drei Jahre nach seiner Zeit mit dem Skin Woody (Joseph Gilgun) und seiner Clique hat sich der mittlerweile fünfzehn Jahre alte Shaun (Thomas Turgoose) wieder ganz in sich zurückzegogen. Allzu gravierend die Ereignisse des Abends, an dem der bekiffte Combo (Stephen Graham) den farbigen Milky (Andrew Shim) unvermittels krankenhausreif geprügelt hat. Woody und seine Freundin Lol (Vicky McClure) wollen derweil heiraten, die Hochzeit muss jedoch wegen Woodys Zögern vertagt werden. Als Lols Vater (Johnny Harris), ein veritables Schwein, wieder in der Gegend auftaucht, zieht sich die junge Frau noch mehr in sich zurück. Nicht lange, da kommt es auch schon zur Katastrophe mit ungeahnten Konsequenzen...

Allein durch die gut doppelte Erzählzeit hat (und nutzt) Shane Meadows in seiner fürs Fernsehen produzierten Fortsetzung der Skinhead-Saga "This Is England" die Möglichkeit, noch sehr viel differenzierte Figurenporträts anzulegen und die die teilweise nur oberflächlich eingeführten Charaktere des Originalfilms deutlich schärfer zu konturieren. Dass ausgerechnet die bislang als kaum mehr denn als liebenswerte Heldenfreundin gezeichnete Lol ganz sacht ins narrative und emotionale Zentrum der kleine Reihe gerückt wird, indem die Geschichte ihr sowohl eine schwierige Lebenskrise aufbürdet als auch einige unfassbare Details aus ihrer familiären Vergangenheit preisgibt, wäre kaum zu vermuten gewesen. Auch der am Ende von "This Is England" noch so prächtig in seiner Absage an die National-Front-Nazismus stilisierte Shaun steht vor neuen Identitätskrisen: Seine Mom (Jo Hartley) bendelt mit dem Einzelwarenhändler Sandhu (Kriss Dosanjh) an. Immerhin ist Shaun mittlerweile alt und groß genug, um seinerseits wirklich etwas mit der exaltierten Smell (Rosamund Hanson) abstarten zu können. Der zuvor noch so fürchtenswerte Banjo (George Newton) ist derweil ein nettes Lämmchen geworden und voll in die Clique integriert, während man von Combo zunächst überhaupt nichts hört, seine spätere Einlassung aber umso dramatischer ausfällt. Lieben, Hassen, Freud, Leid, Leben, Ska, Pop, Punk. Und über allem schweben Thatcherismus und die Fußball-WM in Mexiko. Alles in gut drei Stunden "This Is England '86" geballt und im Überfluss vorhanden. Mehr geht nicht. Es lohnt sich daher, sich davon mitreißen zu lassen und am Ende um weitere Anekdoten um Lol & Co. zu betteln. Tatsächlich ist das nächste update ja bereits am Start. Gut für mich.

10/10

Tom Harper Shane Meadows England period piece Subkultur Freundschaft Sexueller Missbrauch Rape & Revenge Sequel TV-Serie


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WHAT'S THE MATTER WITH HELEN? (Curtis Harrington/USA 1971)


"Men can be quite a bit lower than the angels."

What's The Matter With Helen? (Was ist denn bloß mit Helen los?) ~ USA 1971
Directed By: Curtis Harrington

Nachdem ihre Söhne wegen eines Frauenmordes verurteilt wurden, verlassen die beiden von der Journaille aufs Korn genommenen Mütter Helen (Shelley Winters) und Adelle (Debbie Reynolds) die Provinz Iowas, um sich im Hollywood der frühen dreißiger Jahre eine neue (Schein-)Existenz zu errichten. Sie eröffnen ein Talentstudio, in dem junge Shirley-Temple-Nacheiferinnen gefördert und "entdeckt" werden können. Adelle lehrt die Elevinnen Tanz und Gesang, Helen spielt dazu Klavier. Doch es ziehen bald Besorgnis erregende Wolken auf: Während die attraktive Adelle von einem reichen und verständigen Verehrer (Dennis Weaver) umgarnt wird, flüchtet sich die dickliche, ungrazile Helen in die stupiden Radiosendungen der Predigerin Alma (Agnes Moorehead) und wird immer seltsamer. Zudem scheint die beiden Frauen ein mysteriöser Verfolger zu belagern, der irgendetwas mit dem Mordopfer ihrer Jungs zu tun hat...

Shelley Winters eventually goes mad: Nach Robert Aldrich brachte der bis heute schwer unterrepräsentierte Regisseur Curtis Harrington das Hag-Horror-Genre zu seinem vorläufigen Endpunkt. "What's The Matter With Helen?" bietet jedoch noch wesentlich mehr: Eine böse Traumfabrik-Satire und diverse Seitenhiebe gegen die Profitgier der in den USA so beliebten Medienprediger. Ganz wunderbar vor allem die Parallelisierung der beiden B-Diven: Während Debbie Reynolds sich noch immer zu präsentieren weiß und die überaus ansehnlichen Beine voller Elan in die Höhe schwingt, hat die zwölf Jahre ältere, schon immer etwas "individuelle Schönheit" Shelley Winters ihre äußeren Reize nicht nur eingebüßt, sondern sieht als graue, sich der Psychose annähernde Depressionspatientin sogar noch zehn Jahre älter aus als sie tatsächlich ist. Um die eigenartig-dysfunktionale Zweckbeziehung dieser beiden so gegensätzlichen Frauenfiguren herum konstruiert Henry Farrell, der bereits die Vorlagen für "Baby Jane" und "Sweet Charlotte" auf dem Kerbholz hatte, eine merkwürdig theatralische, pastellfarbene Geschichte um Abhängigkeiten, Anhänglichkeiten und mörderische Gewalt. Interessanterweise blieb der Reynolds eine Zweitkarriere als B-Movie-Queen versagt; für die beeindruckende, wunderbare Shelley Winters gab es danach noch einiges auf diesem Sektor zu vermelden...

8/10

Curtis Harrington Henry Farrell Hollywood Kalifornien Great Depression Camp Madness Freundschaft Hag Horror period piece


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THE KILLING OF SISTER GEORGE (Robert Aldrich/USA 1968)


"Some people prefer two eggs but I think one's enough."

The Killing Of Sister George (Das Doppelleben der Sister George) ~ USA 1968
Directed By: Robert Aldrich

Nobody wants you when you're down, old and ugly - diese böse Erfahrung macht die alternde Londoner Actrice June Buckridge (Beryl Reid), die seit Jahren in der beliebten Langzeit-TV-Soap "Applehurst" die Krankenschwester George spielt. Als die BBC, im Speziellen die Directrice Mercy Croft (Coral Browne), Junes Rolle aus der Serie streichen und sie somit herausmobben will, hat man leichtes Spiel: Infolge der fragilen Beziehung mit ihrer Freundin Alice (Susannah York), um deren Fortbestand June tagtäglich fürchtet, flüchtet sie sich nämlich mit zunehmender Regelmäßigkeit in den Suff und macht dann schonmal unsittlich ein paar junge Nonnen an. Als die sich betont konservativ gebende Croft ihre eigene Leidenschaft für Alice entdeckt, ist June endgültig verloren.

Wiederum Bahnbrechendes von Aldrich, das ähnlich wie der unmittelbar zuvor gefertigte "The Legend Of Lylah Clare" bereits jene gleichermaßen zynische und desillusionierte Sicht des Regisseurs auf die Dinge des Lebens vorwegnimmt, die sein gesamtes Spätwerk bestimmen soll. Allein die beiläufig wirkende Darstellung des Londoner Lesbierinnen-Milieus in Zeiten, da die Filmkategorie 'Queer Cinema' in etwa so utopisch angemutet haben dürfte wie Tablets, nimmt sich revolutionär aus; So here Aldrich finally got, allein unter Frauen, die keine Männer (mehr) brauchen. Ohne auch nur den geringsten Schritt in Richtung Denunziation oder Feme zu unternehmen berichten Stück und Script von einer rein weiblichen Dreiecksbeziehung, an deren bösem Ende einzig der Karrierismus der Jüngeren den Stutenkampf der beiden Älteren bestimmt.
Coral Browne, die bereits in "Lylah Clare" eine wütende Matriarchin darzustellen hatte, ist wiederum fantastisch als alte Redaktionshexe mit bourgeoiser Maske und verdrängter Sexualität, derweil die noch unglaublichere Beryl Reid bis zur Selbstaufgabe eine der monumentalsten Frauenfiguren präsentiert, der ich je das erquickliche Vergnügen hatte, im Film zuzusehen. Schauspiel- und Auteurkino von allerhöchsten Himmelsgnaden ist das zutiefst berührende Resultat. Und: Aldrich at his very finest for sure.

10/10

Robert Aldrich Fernsehen London based on play Skandalfilm Alkohol Homosexualität


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THE LEGEND OF LYLAH CLARE (Robert Aldrich/USA 1968)


"Drecksau! Keep your hands off me!"

The Legend Of Lylah Clare (Große Lüge Lylah Clare) ~ USA 1968
Directed By: Robert Aldrich

In der Person der völlig unbekannten Deutschemigrantin Elsa Brinkmann (Kim Novak) findet der Regisseur Lewis Zarken (Peter Finch) endlich ein Ebenbild seiner früheren Frau, des skandalumwitterten Hollywoodstars Lylah Clare (Kim Novak), deren Tod vor zwanzig Jahren ebenso mysteriös wie ihr ganzes Leben und Wesen ist. Dem ihm seit längerem angetragenen Projekt, ein Biopic über die Verblichene zu drehen, stimmt Zarken nunmehr endlich zu, kann er doch die Hauptrolle mit Elsa, die umgehend von ihm den klangvolleren Künstlernamen 'Campbell' aufgedrückt bekommt, besetzen. Durch ihr glamouröses Auftreten, das dem von Lylah immer weniger nachsteht, hat Elsa bald schon einen Namen in den Klatschspalten, wenngleich bisher noch kein Fetzen Zelluloid mit ihr öffentlich zu sehen war. Ganz unmerklich verwandelt Zarken sie nunmehr auch charakterlich in ein Gleichnis seiner toten Gattin und auch Elsa selbst identifiziert sich parallel dazu mehr und mehr mit Lylah...

Skandale, Eklats, missachtete Menschlichkeit, Wahnsinn und heimliche Homosexualität: Hollywood stinkt bis zum Himmel. Und als ob vergangene Werke diesen Umstand nicht bereits zur Genüge demonstriert hätten, musste Aldrich ihn mit seiner zusätzlich als kleine "Vertigo"-Hommage komponiertem "The Legend Of Lylah Clare" nochmals bloßlegen. Ganz bewusst tritt wiederum Kim Novak als die "Wiedergekehrte" auf, die diesmal tatsächlich das Resultat einer Art seelischen Re-Inkarnation zu sein scheint und der, um der Erwartungshaltung ihrer Umwelt gerecht werden zu können, nichts anderes übrigbleibt, als sich in die vorgefertigte Persönlichkeitsschablone Lylah Clares zu fügen. Man kennt das: Nach der forcierten äußeren Anpassung erfolgt irgendwann fast unmerklich auch die psychische, und darauf dann nurmehr Wahnsinn und Verderben. Aldrich, der im Laufe von "Lylah Clare" gleich zwei besonders schicke Rückblenden präsentiert, konnte für diesen erschütternden Ummodelung einer Seelenlandschaft auf ein wunderbares Ensemble aus bereits bekannten Weggefährten bauen: Der stets große Peter Finch, Ernest Borgnine als feister, profitgeiler Produzent ("I don't make films - I make movies!"), Milton Selzer und ein junger Gabriele Tinti als geiler Gärtner. Dass damit wenig bis gar nichts schiefgehen kann, davon kann man sich in dem vielleicht ein klein wenig zu lang geratenen Epos um Lug, Trug, und was dabei herauskommt, zur Genüge überzeugen.

8/10

Robert Aldrich Hollywood Film im Film Camp


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WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE? (Robert Aldrich/USA 1962)


"I didn't bring your breakfast because you didn't eat your din-din."

What Ever Happened To Baby Jane (Was geschah wirklich mit Baby Jane?) ~ USA 1962
Directed By: Robert Aldrich

Schwestern und Todfeindinnen: Seit frühester Kindheit sind Blanche (Joan Crawford) und Jane (Bette Davis) sich gegenseitig bis aufs Blut verhasst; ein Umstand, der vor allem durch den Neid aufeinander wachgerufen wurde. Während Jane als ein vom Vater (Dave Willock) "produzierter" Kinderstar reüssieren konnte, war Blanche eine gefeierte Filmdiva im golden age Hollywoods. Ein Autounfall, bei dem Blanche verkrüppelt und an den Rollstuhl gefesselt wurde, bereitete beider Karrieren ein jähes Ende. Seitdem muss sich die mehr und mehr dem Whiskey zusprechende Jane um Blanche kümmern. Als Jane sich schließlich dazu berufen fühlt, trotz ihres bereits welken Äußeren einen zweiten Karrierefrühling anzustreben, kann nichts sie aufhalten.

"What Ever Happened To Baby Jane", ein Monster von Film und stilprägendes Kino, präsentierte dem staunenden Kinopublikum nichts Geringeres als eine in der Tradition von Wilders "Sunset Boulevard" stehende Demontage der Traumfabrik im ausladenden Camp-Gewand und machte sich dazu die bislang stets off screen stattgefundene, publikumswirksame Zerfleischung der Hollywood-Diven Davis und Crawford zunutze. Nachdem die beiden Ikonen ihre besten Jahre lange hinter sich gelassen hatten, spielten sie ausgerechnet für den bis dato eher als "Männerfilm-Regisseur" bekannten Robert Aldrich zwei Schwestern, die, wie sich am Ende zeigen wird, an ihrem jeweiligen Los selbst die primäre Schuld tragen. Aldrichs Inszenierung der beklemmenden häuslichen Situation ist von einer bis dahin von ihm nicht gesehenen, klaustrophobischen Meisterschaft; der psychische und physische Terror, den Blanche Hudson durch ihre regressiv-psychotische Schwester zu erleiden hat, wird beinahe subjektiv nachvollziehbar. Das Haus der beiden altjüngferlichen Prä-Seniorinnen avanciert dabei zur Bühne für Davis' unglaubliche Präsentation. Ohne die geringste Scheu, sich als faltige, clownesk überschminkte Scotch-Hexe in Szene setzen zu lassen, singt, tanzt und keift sie sich launigst durch ihre Rolle und erteilt der sich stets im rechten Licht befindlichen, eitlen Live-Pepsi-Reklame Crawford eine pralle Lektion darüber, dass großes Spiel und große Schönheit nicht zwingend einhergehen müssen. Dennoch ist natürlich auch sie sehenswert bis dorthinaus. Perfektion allerorten.

9/10

Robert Aldrich Hag Horror Madness Schwestern Hollywood Terrorfilm Camp Henry Farrell


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TUFF TURF (Fritz Kiersch/USA 1985)


"This isn't Connecticut. No one has insurance around here."

Tuff Turf (Love-Fighters) ~ USA 1985
Directed By: Fritz Kiersch

Von Connecticut nach Culver City: Für den Teenager Morgan (James Spader), ohnehin kein "einfacher" Junge, nicht eben die leichteste Umstellung. Nach dem Besuch diverser Eliteschulen findet der junge Mann sich nach dem wirtschaftlichen Fall des Vaters (Matt Clark) nurmehr in West-L.A. wieder und macht sich in der Person des brutalen Schlägers Nick (Paul Mones) umgehend einen veritablen Todfeind. Als Morgan zudem sein Interesse an Nicks Freundin Frankie (Kim Richards) bekundet und damit offene Türen einrennt, dreht Nick endgültig durch.

Wenngleich "Tuff Turf" als Vertreter der harten Teenagerfilm-Welle der Achtziger, in denen sich eines oder mehrere Individuen gegen eine gewalttätige gegnerische peer group zur Wehr zu setzen haben, durchaus einen breiten Fuß in der Tür hat, ist er über einen gewissen Insider-Status nie hinausgekommen. Recht schade eigentlich, denn für den fönfrisierten James Spader, der gleich darauf in dem themenverwandten "The New Kids" eine Rolle von der anderen Seite des Spektrums spielte, stellt "Tuff Turf" einen beachtlichen Meilenstein dar. Zusammen mit seinem Kumpel Robert Downey Jr., der auch im Film Spaders Buddy ist, gibt er am Ende den bösen Jungs, die die Gewalt- und Toleranzspirale immer weiter ausreizen und zu immer drastischeren Mitteln greifen, um den seinerseits immer röter sehenden Gegner zu triezen, nicht nur mit Dobermännern und Luftpistolen Saures.
Die etwas märchenhaft angelegte Romanze, die ein wenig von der "West Side Story" abschaut und mit einer Prise modischer, letztlich jedoch unbedeutender Sozialkritik versetzt ist, wird dabei zum Drehmoment und Motor des dargestellten teenage war. Die Girls - sie waren schon immer unser heimlicher Untergang.

6/10

Fritz Kiersch Los Angeles Teenager Rache Familie


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CALIGOLA (Tinto Brass/I, USA 1979)


"If only all of Rome had just one neck..."

Caligola ~ I/USA 1979
Directed By: Tinto Brass

Rom im Jahre 37: Caligula (Malcom McDowell), Enkel des amtierenden Kaisers Tiberius (Peter O'Toole), lässt seinen Großvater von seinem Berater Macro (Guido Mannari) ermorden und sich selbst zum Imperator krönen: Der Beginn einer vierjährigen Schreckensherrschaft, die nach diversen Regierungsskandalen und Bloßstellungen des Senats schließlich von einem lange schwelenden Prätorianer-Aufstand beendet wird.

"Caligola" stellte seinerzeit die erste Möglichkeit für das Feuilleton dar, guten Gewissens einen Film mit pornographischem content besprechen zu dürfen, was natürlich prompt mit der zu erwartenden Ablehnung und mit oberflächlichem Widerwillen quittiert wurde. Blödsinn. Selbst in der nachträglich von "Penthouse"-Kopf Bob Guccione und seinen Schergen umgeschnittenen und modifizierten Fassung, die dann zu Brass' Leidwesen zur allgemein bekannten avancierte, markiert "Caligola" das einzigartige Fanal eines Wahnsinnsprojekts, das mit seiner ebenso kunstvollen wie provozierenden Bildsprache von vornherein als Kulturaffront begriffen werden musste. "Caligola" ist letzten Endes zu einer monströsen Kino-Hydra mutiert, als das zerrissene Werk vierer Egomanen mit jeweils völlig unterschiedlichen Vorstellungen des abschließenden Resultats. Der Scriptautor Gore Vidal hatte den Film als satirische Studie um Cäsarenwahn und Korrumpiertheit im Angesichte totaler Macht konzipiert, Tinto Brass wollte dann daraus eines seiner voluminösen Erotikepen formen, die Produzenten Guccione und Franco Rosselini zerstritten sich und waren zu keiner weiteren Zusammenarbeit bereit; schließlich ließ Guccione nach Beendigung der Dreharbeiten die Filmrollen ohne Brass' Einverständnis in die USA fliegen, um dort die in aller Welt gezeigte Schnittfassung zu besorgen. Der vorliegende Film mag mit Brass' Intentionen nicht mehr viel zu tun haben und es ist bedauerlich, dass Kernsequenzen wie eine Senatsrede, die Caligula von seinem Hengst Incitatus halten ließ, nicht nur weggefallen, sondern anscheinend verschollen sind. Dennoch erscheint mir der Film trotz seiner nachträglich von Guccione und Giancarlo Lui eingefügten Hardcore-Elemente stimmig und erstaunlich wohlkomponiert. Um die Darstellung eines irrsinnigen Charakters halbwegs nachvollziehbar arrangieren zu können, sollten gewisse Ungewöhnlichkeiten zum Maß gemacht werden und ebendies ist hier eben der Fall. "Caligola", sich in Blut und Sperma suhlend, beeindruckt und begeistert mich sogar in dieser Form als einer der wenigen Filme, denen ich das Prädikat 'absolutistisch' zukommen lassen würde. Ein einzigartiges Werk vor allem, und, das ist das Schönste, unter Garantie vor geistloser Neuanordnung gefeit.

9/10

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THE DESCENDANTS (Alexander Payne/USA 2011)


"Paradise can go fuck itself."

The Descendants ~ USA 2011
Directed By: Alexander Payne

Dem auf Hawaii lebenden Anwalt Matt King (George Clooney) stehen schwere Tage bevor: Seine seit einem Bootsunfall im Koma liegende Frau Elizabeth (Patricia Hastie) wird nicht mehr aufwachen, seine beiden Töchter Alex (Shailene Woodley) und Scotty (Amara Miller) lassen etwa stündlich irgendwelche Erziehungsdefizite durchblicken, dann erfährt Matt auch noch, dass Elizabeth ihn betrogen hat und verlassen wollte. Schließlich soll er dem Verkauf eines riesigen Stücks Küstenland zustimmen, das seit Generationen im Besitz seiner Familie ist und von dem sich seine vielen Cousins und Cousinen den großen Reibach erhoffen. Zeit, Bilanz zu ziehen.

Paynes ewiges Thema, die Krise des modernen amerikanischen Mannes, wird auch in "The Descendants", immerhin seinem ersten Projekt seit sieben Jahren, aufs Neue durchexerziert - selbstverständlich auf die üblich perfektionierte Art und Weise, mit der der Filmautor zu Werke zu schreiten pflegt. Sein filigranes, analytisches Auge für Verschrobenheiten und Charakterstudien kommt ihm dabei wie stets zu Gute und auch die etwas ungewohnte, reduzierte Perspektive auf das allzu gern als touristisch-paradiesisch verbrämte Hawaii als einer von fünfzig US-Bundesstaaten passt. Leider gibt sich Payne allzu oft der Melancholie hin, lässt sich von der emotionalen Konnotation seines Topos um Abschied, Trauer und Neubeginn überwältigen und verzichtet nahezu gänzlich auf humorige Spitzen; tatsächlich weicht mit Ausnahme ein paar grotesker Momente die implizite Komik der Erkenntnisbildung vollständig aus seinem Film. Mit umso größerem Elan widmet er sich der zärtlichen Wiederannäherung von Vater und Töchtern und schildert ihre Rückkehr in die familiäre Funktionalität.

7/10

Alexander Payne Hawaii Familie Ehe


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CHAPLIN (Richard Attenborough/USA, J, F, I 1992)


"If you want to understand me, watch my movies."

Chaplin ~ USA 1992
Directed By: Richard Attenborough

Der große Filmemacher und Slapstickpionier Charles Chaplin (Robert Downey Jr.) geht mit seinem Biographie-Lektoren George Hayden (Anthony Hopkins) seine Lebensgeschichte durch, rund um Chaplins Emigration nach Amerika, seine ersten Gehversuche beim Film, seine zahlreichen Ehen und schließlich seine Zwangsausweisung durch Chaplins ewigen Intimfeind, den FBI-Chef J. Edgar Hoover (Kevin Dunn).

Mustergültiges Biopic, das ich immer gern als Finale einer entsprechenden Trilogie betrachtet habe, welche meiner Kontinuitätslogik zufolge dann mit "Gandhi" und "Cry Freedom" ihre ersten zwei Drittel hervorgebracht hätte. Allen drei Filmen gemein ist die jeweils atemberaubend inszenierte Lebenszeichnung einer ikonischen Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts, wobei "Chaplin" natürlich nur einen sekundären politischen Subtext beinhaltet. Jener beschränkt sich auf Chaplins Kleinkrieg mit Hoover, der dem Künstler regelmäßig Staatsfeindlichkeit vorwarf, dessen Vielweiberei mit deutlich jüngeren Partnerinnen dem FBI-Direktor ein ewiger Dorn im Auge war und der somit 1952 unter dem Deckmantel eines Scheinprozesses prompt des Landes verwiesen wurde, nachdem er mit seiner letzten Frau Oona (Moira Kelly) eine Europareise angetreten hatte. Es gibt also viel zu berichten und Attenborough erfüllt diesen seinen Auftrag bravourös, stets unter dem Banner der für solche Filme üblichen Mischung aus Faszination und Kritik. Downey Jr.s beängstigend selbstaufgegebenes Spiel ist eine Sternstunde authentifizierter Filmdarstellung und dürfte bis heute den unangefochtenen Höhepunkt seiner Laufbahn markieren. Dazu gibt es viel Glamour, liebevoll-detailversessene Ausstattung, eine bis in Kleinstrollen fantastische Besetzung und John Barrys gewohnt schwelgerische Musik, die sowieso jeden Film zur Oper generiert. Ein Hochgenuss.

9/10

Charles Chaplin Richard Attenborough Film im Film Biopic Ehe period piece Hollywood J. Edgar Hoover


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J. EDGAR (Clint Eastwood/USA 2011)


"No one freely shares power in Washington, D.C.."

J. Edgar ~ USA 2011
Directed By: Clint Eastwood

Informationen sind Macht: Gegen Ende seines Lebens zieht der langjährige FBI-Direktor J. Edhgar Hoover (Leonrado Di Caprio) Bilanz und lässt einen seiner Agents (Michael Rady) seine Autobiographie für ihn schreiben. Was sich allerdings in seinem Privatarchiv, befindlich in Hoovers persönlichem Büro, angesammelt hat und in seinen seelischen Untiefen, bleibt Hoovers Geheimnis über seinen Tod hinaus.

"Gepflegt" war das erste Attribut, das mir während Eastwoods versiertem Biopic durch den Kopf schoss; gepflegt in Auftreten, Attitüde und Weltperspektive. Die Altersmilde des konservativen Filmemachers kristallisiert sich allein schon durch seine Themwahl und den entsprechenden Approach aus - "J. Edgar" behandelt als eines seiner vordringlichen Themen totgeschwiegene Homosexualität und das daraus resultierende Unglück für alle Beteiligten. Hoover und sein engster Vertrauter Clyde Tolson (Armie Hammer) leben in einem eheähnlichen Verhältnis zusammen - dennoch kommt es nie zu öffentlicher Körperlichkeit, nie zu einer "falschen" Regung, die Hoovers weiße Publikweste mit rosa Flecken besudeln könnte. Darin spiegelt sich auch die tief verwurzelte Paranoia des besessenen Ermittlers wieder, der zeitlebens damit befasst war, über sämtliche Landesprominenz permanent im Bilde zu sein und Verschwörungen sowohl hinter dem Aufkommen des Kommunismus in den frühen Zwanzigern als auch hinter der Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigern witterte. DiCaprio, mittlerweile höchst erfahren im Porträtieren von Personen mit tief verwurzeltem Neurosengeflecht, lässt einmal mehr durchscheinen, dass er irgendwann zu den großen Schauspielern des frühen dritten Jahrtausends gezählt werden wird; tatsächlich scheint sein Spiel sogar immer noch nuancierter und perfektionierter zu werden, je mehr Erfahrungen mit Weltregisseuren er sammelt.

8/10

Clint Eastwood FBI J. Edgar Hoover period piece Biopic Washington D.C. Homosexualität McCarthy-Ära Kalter Krieg





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