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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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THE WAR ZONE (Tim Roth/UK, I 1999)


"What're we gonna do now?"

The War Zone ~ UK/I 1999
Directed By: Tim Roth


Nach ihrem Umzug ins raue Devonshire scheint für Toms (Freddie Cunliffe) Familie soweit alles ganz gut zu laufen. Die Mutter (Tilda Swinton) ist schwanger und wird demnächst ein kleines Mädchen zur Welt bringen, der Vater (Ray Winstone) gibt sich recht erfolgreich im Handel mit Antiquitäten. Nur der Fünfzehnjährige selbst ist alles andere als zufrieden mit seinem erzwungenen Leben in der Einöde. Eines Tages entdeckt er dann seine drei Jahre ältere Schwester Jessie (Lara Belmont) zusammen mit dem Vater in der Badewanne. Zur Rede gestellt, winkt diese ab, leugnet, flüchtet aus. Nach einem weiteren heimlich beobachteten Erlebnis in einem Bunker an der Küste ist sich Tom dann sicher, dass Jessie vom Vater missbraucht wird. Als dieser sich dann auch noch an der neugeborenen Alice vergreift, sieht Tom nur einen Ausweg...

Tim Roths bislang einzige Regiearbeit ist ein Höhepunkt des transgressiven Kinos, einem Knüppel zwischen den Beinen gleich, und zählt zum Heftigsten und Unerträglichsten, was ich an Film kenne. Das Missbrauchsthema greift Roth, der sich im Zuge der Dreharbeiten selbst als ehemaliges Opfer geoutet hat, so unerbittlich, schnonungslos und ehrlich auf, wie es eben möglich ist. Vor allem die Sprengung der familiären Grenzen, die verzweifeln machende Offenlegung der absoluten Dysfunktionalität dieses auf wenige Personen begrenzten, an sich so verschworenen Mikrokosmos kehrt "The War Zone" nach außen, ganz zu schweigen von der nur allzu typischen Reaktion des zu Beginn als so nett und patent eingeführten Vaters im Angesicht der Konfrontation mit der Wahrheit. Roths Film verweigert sich schließlich jeder Lösung für seine Beteiligten und lässt sie der inneren und äußeren Leere anheim fallen, die ein sich als guter Patriarch tarnender Zerstörer nur hinterlassen kann, lebend oder tot.
Roth ist einer der wichtigsten, wenn nicht gar der wichtigste Spielfilmbeitrag zum Topos 'sexueller Missbrauch innerhalb der Familie' gelungen. "The War Zone" affektiert in höchstem Maße und fügt mit seiner unnachgiebigen Intensität beinahe physische Schmerzen zu. Mir war nach der Betrachtung dermaßen übel, dass ich mich fast übergeben musste und der an sich geplante Nachfolgefilm musste wegen unvorhergesehener Publikumsüberforderung ausfallen. Werde ich mir frühestens in zehn Jahren wieder ansehen (können). Ehrfurchtgebietend gut.

10/10

Sexueller Missbrauch Inzest England Transgression Tim Roth Familie


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THE COUNTESS (Julie Delpy/F, D 2009)


"Look at me - I'm old and ugly."

The Countess (Die Gräfin) ~ F/D 2009
Directed By: Julie Delpy


Nach dem Tod ihres Mannes (Charly Hübner) verguckt die wohlhabende ungarische Gräfin Erszébet Báthory (Julie Delpy) sich in den wesentlich jüngeren Istvan Thurzo (Daniel Brühl), anstatt dem profitorientierten Werben seines Vaters Gyorgy (William Hurt) nachzugeben. Jener vereitelt die Liebschaft zwischen der Gräfin und seinem Sohn, indem er diesen des Landes verweist und jeden Briefkontakt verhindert. Erszébet verzweifelt darüber und glaubt, ihres Alters wegen verschmäht worden zu sein. Dieser Wahn gipfelt schließlich in ihren legendären Bluttaten: Zahllose Jungfrauen müssen ihr Blut hergeben, damit die Gräfin Bathóry ihren manischen Traum von ewiger Jugend aufrechterhalten kann. Einige Jahre später sorgt Istvan selbst, im Auftrage seines rachsüchtigen Vaters, für ihre Verhaftung.

Böse Zungen könnten Julie Delpy unterstellen, in eine mittelschwere Lebenskrise geraten zu sein, dass sie ausgerechnet die historische Gestalt der Erszébet Báthory benutzt, um ein feministisches Pamphlet um Selbstbestimmung und die Emanzipation von tradierten Werten zu erstellen. Sie selbst scheint keine unwesentlichen Probleme damit haben, ihre unzweifelhaft makellose Schönheit in die Jahre kommen zu sehen, anders kann ich mir ihre hängeäugige Darstellung jedenfalls nicht erklären. Ich muss allerdings zugeben, mir ein etwas "historischeres", um nicht zu sagen ausufernderes Porträt dieser schillernden Gestalt erhofft zu haben und nicht so sehr ein intimes, vor Schwermut triefendes Frauendrama. So sind die besten Momente des Films tatsächlich jene wenigen, in denen er sich der naturalistischen Darstellung der bluttriefenden Gräueltaten der Bathory widmet. Die durch die Delpy versuchte Ehrenrettung ihrer Person, unabhängig davon, ob sie nun fünfzig oder zweihundert Mädchen geschächtet hat, erschien mir jedenfalls unpassend, um nicht zu sagen: gewagt. Davon abgesehen stieß mir persönlich die Grundperspektive des Films auf als entschieden zu aufgesetzt-feminin. Leider mittelschwer enttäuschend. Dann lieber doch nochmal die Hammer-Version mit Ingid Pitt.

4/10

Madness period piece Julie Delpy Historie


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LA GRANDE ILLUSION (Jean Renoir/F 1937)


Zitat entfällt.

La Grande Illusion (Die große Illusion) ~ F 1937
Directed By: Jean Renoir


Während des Ersten Weltkriegs geraten die beiden französischen Fliegeroffiziere Boeldieu (Pierre Fresnay) und Maréchal (Jean Gabin) in deutsche Gefangenschaft. Dort lernen sie den jüdischstämmigen Rosenthal (Marcel Dalio) kennen und freunden sich mit ihm an. Nachdem mehrfacher Verlegung innerhalb der Reichsgrenzen kommt das Trio schließlich in die Gefangenenfestung Burg Alzheim, die von dem bereits schwer versehrten Aristokraten Major von Rauffenstein (Erich von Stroheim) geleitet wird, der einst bereits die Gefangennahme von Boeldieu und Maréchal verantwortete. Rauffenstein akzeptiert nur den seinerseits blaublütigen Boeldieu als ebenbürtigen Kriegsgegner; der Proletarier Maréchal und der Jude Rosenthal sind aufgrund ihrer Herkunft für ihn von gesellschaftlicher Unterklasse. Als Boeldieu seinen Freunden mit einem selbstlosen Ablenkungsmanöver die Flucht ermöglicht und dafür den eigenen Tod in Kauf nimmt, gerät Rauffenstein ins Grübeln. Maréchal und Rosenthal schlagen sich derweil erfolgreich in Richtung Grenze durch.

Renoirs großes, humanistisches Meisterwerk gibt sich als Leinwand-Fortführung der revolutionären Ideale von 1789: Alle Menschen seien gleich, versichert es, unabhängig von ihrer sozialen Klasse, ihrer Nationalität und anderen von den Menschen selbst aufgestellten Scheinschranken. Irgendeiner großen Illusion unterliegt jeder Charakter im Film, sei es Maréchal, der beständig daran glaubt, dass der große Krieg bald beendet wäre und zugleich der letzte, der die Menschen plagt, sei es Rosenthal, der mit ihm von zu Hause aus zugestellten kulinarischen Köstlichkeiten die triste Realität der Kriegsgefangenschaft verleugnet, sei es der trotz seiner steifen Erziehung an egalitäre Werte glaubende Boeldieu oder schließlich von Rauffenstein als lebendes Fossil einer aussterbenden Gesellschaftsordnung.
Bei Renoir ist nichts überflüssig, jedes einzelne Mosaikstückchen erweist sich als unerlässlich. Seine aus damals höchst ungewöhnlich erscheinenden Winkeln gefilmte Einstellungen heben sich bewusst (und als formale Träger ihrer Botschaft) ab von althergebrachter Konventionalität, die Szenenwechsel, teilweise mitten im Dialog angesetzt, scheinen zuweilen hart, sind jedoch in ihrer Realitätsverpflichtung doch nur konsequent. Der nicht zu unterschätzende Wirkungsradius des Films spiegelt sich über die Jahrzehnte, viele der ihrerseits zu großen Klassikern avancierten Werke um Kriegsgefangenenlager wie "Stalag 17", "The Bridge On The River Kwai" oder "The Great Escape" sind von ihm mittel- oder unmittelbar beeinflusst. Noch heute zehrt man davon, s. "Inglourious Basterds".
Viele große Werke werden ja bereits von Haus aus mit einem Untertitel in die Welt entlassen; müsste man diesem nachträglich einen geben, könnte er etwa lauten: "La Grande Illusion oder wie ein Film nach der Spanne eines Lebens weiterhin aktuell bleibt".

10/10

POW Existenzialismus Jean Renoir Historie WWI Gefaengnis


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ONLY ANGELS HAVE WINGS (Howard Hawks/USA 1939)


"Heads you stay, tails you go."

Only Angels Have Wings (SOS Feuer an Bord) ~ USA 1939
Directed By: Hoiward Hawks


Die Unterhaltungskünstlerin Bonnie Lee (Jean Arthur) landet in dem südamerikanischen Nest Barranca, wo der draufgängerische Pilot Geoff Carter (Cary Grant) eine kleine Fluglinie leitet. Der Beruf des Piloten, so erfährt Bonnie bald ziemlich unumwunden, ist dabei ein oftmals tödlicher. Dennoch verliebt sie sich in Carter, der allerdings keine Frau mehr an sich heranlässt, seitdem er einmal sitzengelassen wurde. Dennoch kann auch er seine Gefühle für Bonnie nicht lange verbergen. Als der Pilot MacPherson (Richard Barthelmess) und seine Gattin (Rita Hayworth) nach Barranca kommen, sieht sich die ruppige Idylle noch mehr gestört als ohnehin schon.

Eine von Hawks' Spezialitäten war es, vor zumeist exotischem Hintergrund einen Mikrokosmos mit einer ganzen Phalanx so knarziger wie herziger Typen zu entwickeln und in Verbindung damit eine bestenfalls als loses Gerüst vorhandene, episodenhafte Geschichte abzuspulen, die kaum mehr als eine Alibifunktion besaß. Eines der besten Beispiele dafür ist sein später Film "Hatari!", gewissermaßen ein jüngerer "Only Angels Have Wings". Die Coolness und komödiantische Leichtigkeit des bunten Afrika-Abenteuers geht der in den Ateliers der Columbia gefilmten Fliegerstory noch ab; die Grundfesten jedoch sind eindeutig dieselben: Cary Grant in einer seiner ersten ernsten Rollen gibt den von keiner Ungelegenheit leicht zu beeindruckenden Luft-Superhelden, dessen betont maskuline Kraft natürlich nur solange vorhält, wie ihm keine passende Frau unter die nach Zärtlichkeit gierenden Finger gerät; dazu kommen Barthelmess und Thomas Mitchell in eigentlich wesentlich dankbareren Rollen als tief verwurzelte Todfeinde, die sich später auf rührende Weise aussöhnen sowie ein gutes halbes Dutzend weiterer Charakterköpfe, die gerade soweit vorgestellt und eingeführt werden, dass der Zuschauer das Gefühl hat, sie bereits seit Äonen zu kennen und selbst zum kurzzeitigen Einwohner Barrancas zu werden. Diese heimelig-familiäre, beileibe nur vorgeblich so naive Atmosphäre konnte niemand anderes so kreieren wie der Meister.

8/10

Howard Hawks Suedamerika Fliegerei





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Funxton

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