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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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NEVER LET ME GO (Mark Romanek/UK, USA 2010)


"We all complete."

Never Let Me Go (Alles, was wir geben mussten) ~ UK/USA 2010
Directed By: Mark Romanek

Hinter dem mit strengen erzieherischen Methoden geführten Waisen-Internat Hailsham verbirgt sich ein unfassliches Geheimnis: Sämtliche der hier beheimateten Schülerinnen und Schüler sind Klone, einzig und allein geschaffen, um irgendwann kranke Organe zu ersetzen - menschliche Ersatzteillager sozusagen. Um jedoch eine möglichst gesunde körperliche Entwicklung zu gewährleisten, lässt man den Kindern und Jugendlichen fast alle Freiheiten, die ihre "normalen" Pendants auch genießen können. Bis dann eines Tages als junge Erwachsene die erste "Spende" auf sie wartet, bis sie, in der Regel nach ihrer dritten Spende, 'vollenden', also ihren Existenzzweck erfüllt haben. Inmitten dieser fatalistischen Realität wachsen die drei Freunde Kathy (Carey Mulligan), Tommy (Andrew Garfield) und Ruth (Keira Knightley) auf, und bei dreien ist bekanntlich immer einer zuviel...

Tieftraurige, sich rückwärts wendende Dystopie, die zeitlich von den 1970ern bis in die 1990er hinein angesetzt ist. Innerhalb der alternativen Realität des Films ist bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts der Großteil aller Forschungsgelder in die Heilung schwerer Krankheiten geflossen, wobei die finale Konsequenz vorsieht, dass nur jederzeit verfügbare Ersatzorgane einen langfristigen, ultimativen Sieg über die Menschheitsgeißeln gewährleisten können. Den geklonten Kindern wird ihre medizinische Determinierung keineswegs vorenthalten - bereits in frühen Jahren werden sie mit ihrer Herkunft und ihrem Existenzzweck vertraut gemacht und so sukzessive an ihr künftiges Schicksal adaptiert. Da dennoch für viele menschliche Regungen Platz ist im Leben der Spender, wird Tommy bald zum Mittelpunkt einer amourösen Verflechtung: Während die etwas spröde Kathy ihn aufrichtig liebt, fackelt die eifersüchtige Ruth nicht lange und "nötigt" ihn zur rein körperlichen Beziehung. Dass all das am Ende keine Rolle mehr spielt, müssen alle drei, selbst Kathy, die noch vor ihrer ersten Spende lange Jahre als 'Betreuerin' für ihre Schicksalsgenossen tätig ist, verzweifelt einsehen.
Für den Videokünstler Romanek ist "Never Let Me Go", dessen Romanvorlage (Kazuo Ishiguro) vielerorts zu Begeisterungsstürmen hinriss, erst die zweite Arbeit fürs Kino. Sein Mut zur Tristesse gereicht ihm zur Ehre, anders hätte der Film jedoch auch nicht aussehen dürfen, um seine volle Wirkung zu entfalten. Große Emotionen, die einen planierraupengleich überrollen.

8/10

Internat Klone Organspende England Alex Garland Parallelrealität Kazuo Ishiguro Mark Romanek Schule


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127 Hours (Danny Boyle/UK, USA 2010)


"Don't lose it, Aron. Don't lose it."

127 Hours ~ UK/USA 2010
Directed By: Danny Boyle

Im April 2003 gerät der Extremsportler Aron Ralston (James Franco) während einer Kletterpartie in einen Felsspalt, in dem er, den rechten Unterarm unlösbar eingeklemmt, hängenbleibt. Der Haken: Niemand weiß von seinem Hiersein. Als ihm nach einigen Tagen sein streng rationiertes Wasser ausgeht, sieht Aron nurmehr eine Lösung, sein Leben zu retten...

Die mit atemberaubender Empathie aufbereitete Kinoversion dieser authentischen Geschichte gehört zu jenem kleinen Kreis von Filmen, die die Natur und ihren verführerischen Zauber als ebenso überwältigend wie heimtückisch zeichnen, in denen sich Mutter Wildnis für die Arroganz der Menschen rächt und eventuell Überlebende nur unter groben psychischen und/oder physischen Verlusten wieder aus ihren Klauen entlässt. Dabei ist die von Boyle mit nachvollziehbar überschwänglicher Faszination eingerahmte Canyon-Landschaft anfänglich natürlich keinesfalls abschreckend; im Gegenteil hat man als Zuschauer selbst das Bedürfnis, dort Zeit zu verbringen und in der goldenen Sonne zu schwelgen. Dann jedoch folgt die unweigerliche Unausweichlickeit. Franco stemmt die sicher nicht leichte Aufgabe, den Film nach den ersten zwanzig Minuten praktisch als einzige agierende, dazu noch höchst eingeschränkte Figur zum Ende zu tragen, mit bewundernswerter Intensität, derweil Boyle die seinen Protagonisten durchflutenden Bewusstseinströme, die später mit Halluzinationen einhergehen, zu visualisieren hat. Doch auch das gelingt erwartungsgemäß just dem Herrn, der einst "Trainspotting" inszenierte. Guter Film, ergo.

8/10

Gebirge Danny Boyle Colorado


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THE BIG TREES (Felix E. Feist/USA 1952)


"I'd better get out of here. It might be catching."

The Big Trees (Für eine Handvoll Geld) ~ USA 1952
Directed By: Felix E. Feist

Im Jahre 1900 entschließt sich der windige Holzfäller-Baron Jim Fallon (Kirk Douglas), nach Kalifornien zu gehen, um sich die per Regierungsedikt freigestellten Redwood-Bäume unter den Nagel zu reißen. Trotz seines denkbar kompromisslosen Vorgehens muss Fallon bald einsehen, dass die dort angesiedelten Quäker, allen voran die ihm nicht unsympathische Witwe Alicia Chadwick (Eve Miller) irgendwie Recht haben, wenn sie die uralten, gigantischen Mammutbäume als gottgleiche Präsenz auf Erden begreifen. Als Fallons ehemaliger Partner LeCroix (John Archer) sich mit der noch skrupelloseren Konkurrenz zusammentut und ihn übervorteilen will, stellt sich der nunmehr Geläuterte auf die Seite der friedliebenden Quäkersleut.

Auch wenn man den Namen Felix E. Feist auf das erste Hören naiverweise und nicht ganz unberechtigt für das Pseudonym eines Pornofilmers halten könnte, hat selbiger, bevor er später zum Fernsehen wechselte, neben diesem hübschen kleinen Technicolor-Western noch ein paar weitere mit Randolph Scott und Lex Barker auf dem Kerbholz sowie den "Gehirnfilmklassiker" (O.-Ton ofdb) "Donovan's Brain". "The Big Trees" ist die gemächlich erzählte Geschichte einer moralischen Schuldrückzahlung, wie sie weiland auch Walshs "Silver City" erzählte. Jim Fallon nimmt das Prinzip des Kapitalismus anfangs etwas zu wörtlich und vergisst als rücksichtsloser Glücksritter jede Form der Menschlichkeit. Kirk Douglas, man denke nur an Wilders "Ace In The Hole", konnte den schurkischen Schweinhund mit "Schaf im Wolspelz"-Attitüde verkörpern wie nur wenige sonst, weshalb er hier auch besonders auftrumpfen kann. Böse Zungen mögen sogar behaupten, "The Big Trees" gehöre ganz ihm, wenn man aber Feist dabei beobachtet, wie er selbst der Faszination der majestätischen Redwood-Bäume zu erliegen scheint, dann relativieren sich Aussagen wie die obige ganz schnell wieder. Kein großer Klassiker, aber ganz bestimmt eine nette Abwechslung für zwischendrin.

6/10

Kalifornien Holz Freundschaft period piece


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MARNIE (Alfred Hitchcock/USA 1964)


"You Freud, me Jane? "

Marnie ~ USA 1964
Directed By: Alfred Hitchcock

Marnie Edgar (Tippi Hedren) ist eine krankhafte Kleptomanin, die sich immer wieder unter falschen Namen in mittelständische Firmen einschleicht, um dann deren Tresore leerzuräumen. Als sie sich bei der Firma Rutland vorstellt, erkennt sie der Juniorchef Mark (Sean Connery) von einer früheren Begegnung wieder und stellt sie ein - nur, um auf ihren nächsten Coup zu warten und sie dann damit erpressen zu können. Mark weiß nämlich längst um die pathologische Stehlsucht Marnies und ahnt, dass für ihr Zwangsverhalten ein tief verwurzeltes, schreckliches Erlebnis verantwortlich sein muss. Bestimmte Schlüsselreize - Gewitter und die Farbe Rot - lösen zudem bei Marnie heftige Panikattacken aus. Mark zwingt sie, ihn zu heiraten, um ihr auf diese Weise helfen zu können. Der Weg führt schließlich nach Baltimore, zu Marnies Mutter (Louise Latham).

Erneut beschäftigte sich Hitchcock mit der Psychoanalyse und brachte mit "Marnie" eine Art bastardisiertes Konglomerat aus "Spellbound" und "To Catch A Thief" auf die Leinwand. Die beiden Geschichten vermischen sich dergestalt, dass zum einen ein infolge eines Gewalterlebnisses seit der Kindheit tief verwurzelter Schuldkomplex auf seine Aufdeckung und Lösung wartet. Der Patient (hier: die Patientin) hat ebenjenes Schlüsselereignis bis ins Erwachsenenalter hinein erfolgreich verdrängt und gelernt, jede symbolische Erinnerung daran in eine zwanghafte Verhaltensweise abzuführen. Bei Marnie, die sozusagen bis zur Oberkante voller Komplexe steckt, ist die Anzahl an Schlüsselreizen dabei durchaus alles andere als gering - neben den äußeren Faktoren "Rot" und "Gewitter" kommt noch ein irrationaler Männerhass dazu, der umso größer wird, je mehr Marnie sich von einer Person des anderen Geschlechts erotisch angezogen fühlt: Sex bedeutet Schuld. Als weitere Sublimierungsstrategie macht sie dann regelmäßig Ausritte auf ihrem Hengst Forio - da hat Hitch vielleicht etwas dick aufgetragen. Doch ist Marnie nicht die einzige nachhaltig gestörte Person in diesem buchstäblichen Psychoreigen. Zum einen wäre da Mark Rutland, der, ausgestattet mit ultimativem Machismo und als starker maskuliner Gegenpart selbst eine delikate Perversion pflegt. Ihn reizen nämlich offenbar vornehmlich Damen, die psychisch stark angegriffen sind, da er 1.) wie im Falle Marnie eine immense Macht über sie ausüben, sie gewissermaßen 'brechen' kann und 2.) seine geheimen Hobbys Verhaltensforschung und Psychoanalyse sozusagen am lebenden, wenn auch unfreiwilligen Objekt erproben kann. Dass diesem Charakter Hitchcocks unverhohlene Sympathien zufliegen, verrät manches über die Geisteshaltung des alternden Filmemachers. Rutland erpresst, zwingt, nötigt, vergewaltigt. Mit Erfolg! Für die kesse, deutlich attraktivere Lil (Diane Baker) interessiert er sich nicht, der Tropf. Aber warum auch - ist sie doch selbstbewusst und erfrischend aneurotisch! Dann wäre da noch Marnies Mutter, die typische hitchcocksche Matriarchin. Oszillierend zwischen den wenig sympathischen Attributen dominant, kalt, herzlos, krank, verrückt, übermächtig ist sie letzten Endes ein universelles Monster, dessen Liebe sozusagen unerwerblich ist. Man erinnere sich an "Notorious", "Strangers On A Train", "To Catch A Thief", "North By Northwest", "Psycho" und "The Birds", die dieses negative Mutterbild allesamt, wenn auch teilweise ironisch verklärt (Jessie Royce Landis hat das in "To Catch A Thief" und "North By Northwest" jeweils sehr sympathisch besorgt), transportieren. Nun fällt Bernice Edgar kaum in die Kategorie "vorsätzlich böse"; dass sie für ihre verlorene Jugend jedoch ihre Tochter verantwortlich macht, die einst im besten Sinne 'kindgerecht' agierte, macht sie nicht eben liebenswert.
Als stünde ich im Museum vor einem monströsen Fresko und wäre völlig aufgeschmissen: Ich muss hier und jetzt das Geständnis machen, dass "Marnie" mir als einziger Hitchcock-Film nicht nur höchst unsympathisch ist, sondern dass ich ihn gewissermaßen sogar abstoßend finde. Die Gründe dafür liegen allerdings bei mir ganz persönlich und vermutlich irgendwo im verworrenen Höhlendunkel meiner eigenen seelischen Untiefen begraben. Ich verstehe jeden, der den Film als einen Höhepunkt des hitchcock'schen Œuvres erachtet, würde ich ihn eigentlich doch selbst gern mögen. Es mag daran liegen, dass das im Film gezeichnete Weltbild ein ganz furchtbar zynisches und hässliches ist, dem fürderhin fraglos ein gigantischer Lebensfrust zugrunde liegt. Es mag an der fahlen Kälte liegen, mit der sämtliche Figuren, mit Ausnahme der im Gesamtkontext als "bedeutungslos" denunzierten Diane Baker, sich durch die Szenerie schleppen, an der narrativ induzierten Starre. Ich weiß nicht recht. Dabei ist "Marnie" doch formal bestimmt nicht unschön; das total artifiziell wirkende matte painting von Marnies Mutterhaus im Baltimorer Hafenviertel hält sogar eines der ästhetisch ansprechendsten Bilder des gesamten Hitchcock-Werks bereit und der in sepia viragierte Rückblick am Schluss mitsamt Bruce Dern als perversem Matrosen und wieder verwendetem "Vertigo-Zoom" ist nicht minder toll gemacht. Dennoch muss ich mich jedesmal durch diesen Film quälen und zwängen wie durch ein Treibsandmeer und hinterher geht's mir dann regelmäßig richtiggehend mies. Dazu kam, dass ich gestern einen ziemlich üblen Kater hatte. Es wollte sich alles nicht recht fügen, wie meist in Bezug auf "Marnie". Eine Punktwertung werde ich mir infolge tiefer intrapsychischer Grabenkämpfe in diesem Falle ersparen.

Madness Psychiatrie Baltimore Philadelphia Alfred Hitchcock


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VERTIGO (Alfred Hitchcock/USA 1958)


"You shouldn't have been that sentimental..."

Vertigo ~ USA 1958
Directed By: Alfred Hitchcock


Der wegen infolge eines Dienstunfalls unter Akrophobie leidende, vom Dienst retirierte Polizist Scottie Ferguson (James Stewart) wird eines Tages von seinem alten Collegefreund Elster (Tom Helmore) gebeten, dessen Frau Madeleine (Kim Novak) zu beschatten. Jene scheint offenbar unter einem sonderbaren, übersinnlichen Familienbann zu stehen: Ihre Großmutter Carlotta hatte sich einst im selben Alter das Leben genommen und nun sieht es aus, als versuche Madeleine, es ihr gleich zu tun. Nachdem Scottie Madeleine einige Zeit lang verfolgt, ihr das Leben gerettet, si dann kennengelernt und sich schließlich in sie verliebt hat, gelingt ihr der Suizid: Sie springt vom Glockenturm eines Klosters. Scottie fällt in einen Schuldkomplex gekoppelt mit tiefen Depressionen, die eines langwierigen Heilungsprozesses bedürfen. Danach findet er in den Straßen der Stadt eine Frau (Kim Novak), die Madeleine bis auf ein paar Details zum Verwechseln ähnlich sieht. Scottie spricht sie an, modelt sie nach und nach um und erkennt dann die Wahrheit...

Die Geschichte einer unerfüllten Nekrophilie. Nach der kantigen Realitätsstudie "The Wrong Man" kam dieser flirrende Fiebertraum "Vertigo", der zu dem direkten Vorgänger auf den zweiten und dritten Blick durchaus manche Analogien aufweist. Auch hier wird ein Protagonist zum Opfer einer schweren, katatonischen Depression infolge falscher Schuldgefühle und auch hier kann die Heilung nur ein Zufallswink der Vorsehung leisten. Auch das Motiv des Katholizismus zieht sich somit weiter fadengleich durch Hitchcocks Werk. Nachdem bereits Vater Logan und Manny Balestrero ihre Dämonen letzten Endes nur mittels ihres jeweils unerschütterlichen Glaubens auszuteiben vermochten, kommt Scottie Ferguson am Ende, als er, seiner Sinne beraubt, schon selbst ein Verbrechen zu begehen droht, eine engelsgleiche Nonne zur "Hilfe": Madeleine, die glaubt, in der Silhouette der Ordensschwester den Rachegeist der ermordeten Madeleine Elster zu erblicken, stolpert in den Unfalltod.
Einer Ellipse gleich hat sich das Schicksal erfüllt; Scottie Ferguson ist erlöst. Überhaupt ist der Film seinem Titel entsprechend bis obenhin angefüllt mit elliptischer Tunnelsymbolik, der das Kino unter anderem den häufig zitierten '"Vertigo"-Zoom' verdankt, im Zuge dessen die Kamera während eines harten Zooms manuell zurückgezogen wird. Auge, Häuserschlucht, Treppenhaus, hochgesteckte Damenfrisur, ja selbst eine Rose - das Tunnelbild findet sich immer wieder. Wunderbar in diesem Zusammenhang die mit Zeichentrickeffekten gestaltete Traumsequenz, die James Stewarts' vorübergehenden Abstieg in den Hades der Psychose einläutet. Überhaupt hat Stewart, mit Ausnahme vielleicht von dem fanatischen bounty hunter Howard Kemp in Anthony Manns "The Naked Spur" niemals sonst einen so ambivalenten Antihelden fernab von seinem üblichen Saubermann-Image spielen dürfen. Trotz härtester Konkurrenz vermutlich Bernard Herrmanns feinster Hitchcock-Score und natürlich der Film, dem ein anderer Meister, Brian De Palma, so ziemlich alles verdankt.
Marvelös.

10/10

Madness Psychiatrie San Francisco Alfred Hitchcock Paraphilie Akrophobie


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THE WRONG MAN (Alfred Hitchcock/USA 1956)


"An innocent man has nothing to fear, remember that."

The Wrong Man (Der falsche Mann) ~ USA 1956
Directed By: Alfred Hitchcock


Der New Yorker Jazzbassist und Familienvater Manny Balestrero (Henry Fonda) wird zu Unrecht verdächtigt, mehrere Raubüberfälle begangen zu haben und in ein langwieriges, zermürbendes Justizverfahren hineingezogen, das er erst ganz an dessen Ende und nur rein zufällig für sich entscheiden kann. Mannys Frau Rose (Vera Miles) hält dem Druck der Ereignisse nicht stand und verfällt in eine schwere Psychose.

Hitchcocks vorletzter Schwarzweiß-Film und seine letzte, sehr aus dem Rahmen der zuvor gefertigten, knallbunten und jeweils mit einigem Humor angereicherten Paramount-Werke fallende Arbeit für Warner. Weder gibt es hier das handelsübliche Regisseurs-Cameo, noch gestattet sich Hitch auch nur die geringste Liebäugelei mit der Irrealis. "The Wrong Man" beinhaltet, ja, ist härtester Realismus. Dies versichert uns der Regisseur zu Beginn des Films auch gleich selbst, als er im Gegenlicht vor das Publikum tritt und es der Authentizität der folgenden Geschichte versichert. Von zwei, drei Ausnahmen abgesehen fehlen nun auch alle visuellen Spielereien. Hitch verlässt sich ganz auf die Intensität seiner Darsteller, zuvorderst des bravourösen Ehepaars Fonda/Miles, das in tiefes, existenzielles Loch fällt und sich nur mit allergrößter Mühe und unter furchtbarsten psychischen Entbehrungen wieder daraus hervorarbeiten kann.
"The Wrong Man" symbolisiert wie kein anderes Werk des Regisseurs seine persönliche, tief verwurzelte, kafkaeske Angst vor staatlicher Übermacht und Willkür sowie die Furcht davor, unschuldig angeklagt und eingesperrt zu werden und nichts dagegen tun zu können. Nicht nur Hitchcocks naturalistischster, sondern neben "I Confess", dem nachfolgenden "Vertigo" und "Psycho" auch sein schwärzester, unerbittlichster Film.

10/10

Madness New York Alfred Hitchcock


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I CONFESS (Alfred Hitchcock/USA 1953)


"I can't tell you."

I Confess (Ich beichte) ~ USA 1953
Directed By: Alfred Hitchcock


Der deutsche Emigrant Otto Keller (O.E. Hasse), der mit seiner Frau Alma (Dolly Haas) zusammen als Küster in Québec tätig ist, ermordet aus Habgier den Anwalt Villette (Ovila Légaré). Um sein Gewissen zu erleichtern, vertraut er sich in der Beichte Pater Logan (Montgomery Clift) an, der selbst in unseliger Beziehung zu Villette stand: Jener hatte Logans frühere Geliebte Ruth (Anne Baxter), nunmehr mit einem hochrangigen Senator (Roger Dann) verheiratet, erpresst, eine angebliche Affäre zwischen ihr und Pater Logan publik zu machen, was einen furchtbaren skandal verursacht hätte. Der ermittelnde Inspektor Larrue (Karl Malden) stellt bald fest, dass Villettes Tod Pater Logan nicht ganz ungelegen kam und hat seinen Hauptverdächtigen gefunden. Logan ist derweil ans Beichtgeheimnis gebunden und kann über den wahren Täter, der sich weiterhin bedeckt hält, nichts aussagen.

Einer meiner liebsten Hitchcock-Filme, eine psychologisch und ethisch komplexe Meditation über Schuldfragen in morbiden Herbstbildern. Der ungewöhnliche Handlungsschauplatz Kanada, speziell das altweltlich ausschauende Québec, tut dem Film nur gut; es muss eben doch nicht immer London oder New York sein. Trotz weniger Dialogzeilen und des Ausbleibens jedweder Monologe (die eigentlich gut zu seiner rolle gepasst hätten) ist Montgomery Clift schier unglaublich als innerlich gequälter Priester: Er vollbringt das Kunststück, seine Innenwelt sich auf dem emotionslosen Gesicht des Geistlichen widerspiegeln zu lassen. Überhaupt tragen den Film neben seiner brillanten Inszenierung die großartigen Schauspieler: Hasse, Malden und die Haas. Seit "The Paradine Case" hat Hitch nicht mehr so bierernst und ohne Verzicht auf jedweden Humor (von zwei sanften Gags um den fahrradfahrenden Pater Benoit (Gilles Pelletier) abgesehen) gearbeitet. "I Confess" ist hartes, menschliches Drama, bei aller filmischen Kunst nahtlos auf dem Punkt, emotional involvierend und vor allem ungeheuer spannend erzählt. Wie gesagt, ein persönliches Highlight.

10/10

Alfred Hitchcock Kanada Kirche Courtroom


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UNDER CAPRICORN (Alfred Hitchcock/UK 1949)


"What kind of love is this?"

Under Capricorn (Sklavin des Herzens) ~ UK 1949
Directed By: Alfred Hitchcock


Australien, um das Jahr 1835: Der irische Ex-Sträfling Sam Flusky (Joseph Cotten) hat es in der Kolonie zwar zu Reichtum gebracht, sein gesellschaftliches Renommee und seine Akzeptanz durch die anderen emigrierten Großbürger in Sidney ist aufgrund seiner Vergangenheit jedoch praktisch nichtig. Hinzu kommt, dass Fluskys Gattin, die Aristokratin Henrietta (Ingrid Bergman), unter einer heftigen Depression zu leiden scheint. Als mit dem lebensfrohen Charles Adare (Michael Wilding), dem Neffen des neuen Gouverneurs (Cecil Parker), ein alter Bekannter von Henrietta nach New South Wales kommt, scheint sich ein Lichtstrahl für das Ehepaar Flusky anzukündigen...

Rückkehr nach England für zwei Filme. "Under Capricorn" bedeutete für Hitch die letzte Zusammenarbeit mit der Bergman, die hier ihre vermutlich stärkste und mutigste Rolle für den Regisseur spielt. Alkohol- und Medikamentensucht, speziell bei depressiven, jungen Frauen stellte natürlich ein gewisses Tabuthema in diesen Jahren dar und konnte vermutlich bloß deshalb akzeptiert werden, weil "Under Capricorn" als period piece und Kostümfilm verkauft wurde. Ähnlich wie "Rebecca" steht der Film im Zeichen feministischer Initiation - allerdings mit vertauschten Rollen. Um eine nicht standesgemäße Ehe glücklich führen zu können, müssen zunächst die Schranken und Unbill der Vergangenheit nebst irreparabel scheinender Schuldkomplexe ausgeräumt werden. Hier wie dort legt eine intrigante, böse Haushälterin (eine wunderbar hassenswerte Margaret Leighton) dem Glück der Ehepartner unerkannt schwere Steine in den Weg. Am Ende wartet dann die viel zu lange aufgeschobene, gemeinsame Erlösung auf das Paar Cotten/Bergman, das sich - eine behagliche Parallele - ja noch gut von Cukors "Gaslight" her kannte.
Das blasse, edle Technicolor des Films ist zwar höchst gekonnt eingesetzt und macht den ohnehin schönen "Under Capricorn" noch umso schöner - aber es half alles nichts. Der Film fiel allerorten durch und die Transatlantic machte nach diesem Projekt wieder dicht. Hitchcock nahm einen Vertrag bei Warner an, die bereits seine letzten beiden Filme international verliehen hatten, und kehrte, mittelmäßig frustriert, zunächst für drei Filme zum Schwarzweiß seiner großen Erfolge zurück.

8/10

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THE PARADINE CASE (Alfred Hitchcock/USA 1947)


"This was, indeed, no ordinary woman."

The Paradine Case (Der Fall Paradin) ~ USA 1947
Directed By: Alfred Hitchcock


Der renommierte Londoner Rechtsanwalt Anthony Keane (Gregory Peck) übernimmt die Verteidigung der Witwe Paradine (Alida Valli), die angeklagt ist, ihren blinden Ehemann Oberst Paradine vergiftet zu haben. Keane verfällt der kühlen Schönheit der exotischen Mordverdächtigen, sehr zur Besorgnis seiner Gattin (Ann Todd) und seines Mentors Sir Simon (Charles Coburn). Seine Obsession für den Fall und Mrs. Paradine steigert sich in solchem Maße, dass Keane blind wird für die Fakten.

Nach "Notorious" der letzte Film für Selznick, ein astronomisch teures Gerichtsdrama, dessen kostbare Eleganz und äußere Kühlheit im Grunde besser zu einem Visconti gepasst hätten als zu Hitchcock. In der Person Alida Vallis, die im Vorspann ganz mysteriös nur als 'Valli' angekündigt wird, findet sich sogar ein entsprechendes Bindeglied. Gregory Peck spielt als beherrschter Anwalt, der seiner Mandantin über jedes vernünftige Maß hinaus in blinder Leidenschaft zugetan ist, eine seiner großartigsten Rollen und widerlegt locker das ihm oftmals zuteil gewordene Vorurteil, er habe bloß bestimmte 'Typen' gemäß seines eigenen Profils spielen können. Charles Laughton und Charles Coburn sind als zwei feiste alte Männer zu sehen, von denen allerdings nur Coburn einen liebenswerten personifiziert. Laughton als Richter Horfield präsentiert sich als widerlicher alter Sack, der gern an jüngeren Damen herumfingert und dessen eigene Frau (Ethel Barrymore) offensichtlich bereits Jahrzehnte des Ehemartyriums zu durchleiden hatte.
So macht es die von großartigen Darstellern getragene Personenkonstellation des Films es seinem Publikum alles andere als leicht. Eine glatte Identifikationsfigur gibt es nicht; Gregory Peck verspielt seinen anfänglichen Sympathiebonus irgendwann, als offenbar wird, dass seine zuvor gepriesene Professionalität und Ratio von seiner Schwäche für die Valli nachgeben und seine Frau Ann Todd bleibt zu passiv, um jemanden mitreißen zu können. So ist "The Paradine Case" ein zwar gelungener, jedoch auch sehr kalter und gänzlich humorloser Film, der etwas aus dem hitchcockschen Rahmen fällt. Aber andererseits trifft dies ohnehin auf die meisten seiner Werke zu...

8/10

Alfred Hitchcock London Courtroom Ehe


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SHADOW OF A DOUBT (Alfred Hitchcock/USA 1943)


"Go... away!"

Shadow Of A Doubt (Im Schatten des Zweifels) ~ USA 1943
Directed By: Alfred Hitchcock


Die grüblerische Charlie (Teresa Wright), ein nicht ganz alltäglicher Teenager aus dem kalifornischen Kleinstädtchen Santa Rosa, sieht nurmehr eine Möglichkeit zur Aufhellung ihres von latenter Depression gefährdeten Alltags: Ihr Lieblingsonkel Charles (Joseph Cotten), den sie als lebenslustigen, warmherzigen Menschen im Hinterkopf hat, muss her. Bevor Charlie ihm jedoch ihre Einladung telegraphieren kann, hat sich Charles schon selbst angekündigt. Fast zeitgleich mit ihm treffen zwei angebliche Demografen (Macdonald Carey, Wallace Ford) in Santa Rosa ein, die sich ziemlich rasch als Polizisten entpuppen. Der Grund für ihr Kommen: Sie verfolgen Charles, da er ihm dringenden Verdacht steht, ein gesuchter Frauenmörder zu sein. Charlie erscheint diese Eröffnung ungeheuerlich, doch dann kommen ihr berechtigte Zweifel an Onkel Charlies Unschuld, die sich bald in schreckliche Gewissheit verwandeln...

Hitchcocks persönlicher Lieblingsfilm aus seinem Eigen-Œuvre trägt dieses große Attribut nicht zu Unrecht: "Shadow Of A Doubt" ist der bis hierhin vielschichtigste, gekonnteste, bravouröseste, kurzum: beste Film, den der Meister inszeniert hat. "Shadow Of A Doubt" erzählt gleich mehrere Geschichten parallel; die offensichtlichste davon schildert den Einbruch des puren Bösen in das kleinbürgerliche, amerikanische Familienidyll. Hinter dem bisher so beliebten Onkel Charlie, der sich nach außen stets erfolgfreich als freundlicher Herr von nebenan zu verkaufen wusste, verbirgt sich ein irrsinnig gewordener Misanthrop und Serienmörder, der die Leichtgläubigkeit von Familie und Freunden aufs Gemeinste für sich ausnutzt. Dabei ist seine Liebe zu seiner ältesten Nichte gleichen Namens, die über rein familiäre Zuneigung hinauszugehen scheint, anfänglich noch durchaus aufrichtig. Als das Mädchen Charlie dann von Onkel Charlies Schuld überzeugt ist und ihn mit ihrer Sicht der Dinge konfrontiert ist es, als reiße sein letzter Verbundsfaden zur Menschlichkeit. Von hier ab wird Onkel Charlie endgültig zum reinen Verbrecher. Dann haben wir noch eine märchenhafte Coming-Of-Age-Geschichte: Für die junge Charlie bricht mit der Ankunft ihres vormaligen Familienidols die Kindheit zusammen, was sich bereits zuvor durch eine von ihrer Familie hilflos beäugte Durchgeistigung ihres Seelenlebens bemerkbar gemacht hat. Wie sie selbst für ihren Onkel, so ist auch ihr Onkel für sie eine letzte Konnexion zum Besseren, die bitterböse enttäuscht wird. Für Charlie bedeutet diese Entdeckung jedoch eine zwar schmerzliche, letztlich jedoch notwendige Episode auf dem Weg zur Persönlichkeitsbildung und zum Erwachsenwerden. Schließlich porträtiert Hitch mit feiner Satire aufs Schönste die amerikanische Vorstadtfamilie. Besonders Patricia Collinge als Matriarchin und gute Seele des Hauses, deren Lebensinhalt von Vorgartenpflege, Kuchenbacken und Fensterputzen bestimmt ist und Hume Cronyn als Muttersöhnchennachbar mit ebenfalls psychotischer Determination sorgen für einige erheiternde Augenblicke.
Übergroßes Meisterwerk, ohne Wenn und Aber.

10/10

Alfred Hitchcock Serienmord Familie Satire Kalifornien Coming of Age





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