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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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CHAPLIN (Richard Attenborough/USA, J, F, I 1992)


"If you want to understand me, watch my movies."

Chaplin ~ USA 1992
Directed By: Richard Attenborough

Der große Filmemacher und Slapstickpionier Charles Chaplin (Robert Downey Jr.) geht mit seinem Biographie-Lektoren George Hayden (Anthony Hopkins) seine Lebensgeschichte durch, rund um Chaplins Emigration nach Amerika, seine ersten Gehversuche beim Film, seine zahlreichen Ehen und schließlich seine Zwangsausweisung durch Chaplins ewigen Intimfeind, den FBI-Chef J. Edgar Hoover (Kevin Dunn).

Mustergültiges Biopic, das ich immer gern als Finale einer entsprechenden Trilogie betrachtet habe, welche meiner Kontinuitätslogik zufolge dann mit "Gandhi" und "Cry Freedom" ihre ersten zwei Drittel hervorgebracht hätte. Allen drei Filmen gemein ist die jeweils atemberaubend inszenierte Lebenszeichnung einer ikonischen Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts, wobei "Chaplin" natürlich nur einen sekundären politischen Subtext beinhaltet. Jener beschränkt sich auf Chaplins Kleinkrieg mit Hoover, der dem Künstler regelmäßig Staatsfeindlichkeit vorwarf, dessen Vielweiberei mit deutlich jüngeren Partnerinnen dem FBI-Direktor ein ewiger Dorn im Auge war und der somit 1952 unter dem Deckmantel eines Scheinprozesses prompt des Landes verwiesen wurde, nachdem er mit seiner letzten Frau Oona (Moira Kelly) eine Europareise angetreten hatte. Es gibt also viel zu berichten und Attenborough erfüllt diesen seinen Auftrag bravourös, stets unter dem Banner der für solche Filme üblichen Mischung aus Faszination und Kritik. Downey Jr.s beängstigend selbstaufgegebenes Spiel ist eine Sternstunde authentifizierter Filmdarstellung und dürfte bis heute den unangefochtenen Höhepunkt seiner Laufbahn markieren. Dazu gibt es viel Glamour, liebevoll-detailversessene Ausstattung, eine bis in Kleinstrollen fantastische Besetzung und John Barrys gewohnt schwelgerische Musik, die sowieso jeden Film zur Oper generiert. Ein Hochgenuss.

9/10

Charles Chaplin Richard Attenborough Film im Film Biopic Ehe period piece Hollywood J. Edgar Hoover


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J. EDGAR (Clint Eastwood/USA 2011)


"No one freely shares power in Washington, D.C.."

J. Edgar ~ USA 2011
Directed By: Clint Eastwood

Informationen sind Macht: Gegen Ende seines Lebens zieht der langjährige FBI-Direktor J. Edhgar Hoover (Leonrado Di Caprio) Bilanz und lässt einen seiner Agents (Michael Rady) seine Autobiographie für ihn schreiben. Was sich allerdings in seinem Privatarchiv, befindlich in Hoovers persönlichem Büro, angesammelt hat und in seinen seelischen Untiefen, bleibt Hoovers Geheimnis über seinen Tod hinaus.

"Gepflegt" war das erste Attribut, das mir während Eastwoods versiertem Biopic durch den Kopf schoss; gepflegt in Auftreten, Attitüde und Weltperspektive. Die Altersmilde des konservativen Filmemachers kristallisiert sich allein schon durch seine Themwahl und den entsprechenden Approach aus - "J. Edgar" behandelt als eines seiner vordringlichen Themen totgeschwiegene Homosexualität und das daraus resultierende Unglück für alle Beteiligten. Hoover und sein engster Vertrauter Clyde Tolson (Armie Hammer) leben in einem eheähnlichen Verhältnis zusammen - dennoch kommt es nie zu öffentlicher Körperlichkeit, nie zu einer "falschen" Regung, die Hoovers weiße Publikweste mit rosa Flecken besudeln könnte. Darin spiegelt sich auch die tief verwurzelte Paranoia des besessenen Ermittlers wieder, der zeitlebens damit befasst war, über sämtliche Landesprominenz permanent im Bilde zu sein und Verschwörungen sowohl hinter dem Aufkommen des Kommunismus in den frühen Zwanzigern als auch hinter der Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigern witterte. DiCaprio, mittlerweile höchst erfahren im Porträtieren von Personen mit tief verwurzeltem Neurosengeflecht, lässt einmal mehr durchscheinen, dass er irgendwann zu den großen Schauspielern des frühen dritten Jahrtausends gezählt werden wird; tatsächlich scheint sein Spiel sogar immer noch nuancierter und perfektionierter zu werden, je mehr Erfahrungen mit Weltregisseuren er sammelt.

8/10

Clint Eastwood FBI J. Edgar Hoover period piece Biopic Washington D.C. Homosexualität McCarthy-Ära Kalter Krieg


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AT CLOSE RANGE (James Foley/USA 1986)


"He's my father."

At Close Range (Auf kurze Distanz) ~ USA 1986
Directed By: James Foley

Erst als junger Erwachsener lernt der in einem Provinzkaff beheimatete Brad Whitewood Jr. (Sean Penn) seinen kriminellen Vater Brad Whitewood Sr. (Christopher Walken) kennen. Zunächst beeindruckt von der anarchistischen Coolness seines alten Herrn, der ihm unter anderem ein Auto schenkt, muss Brad Jr. bald einsehen, dass sein alter Herr ein gemeingefährlicher, opportunistischer Psychopath ist. Als Brad Jr. im Gefängnis landet, versucht sowohl das FBI ihn zu einer Aussage gegen seinen Vater zu bewegen, was dieser außerhalb der Knastmauern mit irrsinnigen Druckmitteln und einer Jagd auf die Freunde seines Sohnes quittiert, der schließlich sogar Brads Bruder Tommy (Chris Penn) zum Opfer fällt. Dennoch entschließt sich Brad Jr., mit seiner Freundin Terry (Mary Stuart Masterson) das Weite zu suchen. Doch sein Dad lässt ihn nicht so einfach gehen...

Ein jeder hat sie ja, diese Handvoll Filme, die einen, ganz ohne mit äußerem, grellem Naturalismus aufwarten zu müssen immer wieder, einem Pflasterstein gleich, mitten in die Fresse treffen und völlig fertig, ausgeblutet und schweigend zurücklassen. "At Close Range" hat jene ungeheure Wucht schon bei mir hinterlassen, seit ich ihn in den Achtzigern das erste Mal gesehen habe und er unmerklich und umweglos in meinen Lieblingsfilm-Olymp aufgestiegen ist, wo er bis heute ein, wie ich just wieder mal kopfschüttelnd bemerken musste, völlig unberechtigtes Schattendasein fristet. "At Close Range" geht an die Grenzen psychischer Belastbarkeit und darüber hinaus, ist ein ungeheuer kraftvoller Film, der das Fegefeuer der Oberflächlickeiten seiner Entstehungsphase komplett ignoriert und in eine ganz andere Richtung weist als all die gelackten Großstadtdramen dieser Zeit (wie etwa der unmittelbar zuvor gesehene "Against All Odds" von Taylor Hackford). Foley zeichnet die schwüle, südstaatliche US-Provinz als saftig-grüne Hölle, in der geheuchelte Blutsbande nichts mehr zählen, wenn es um Geld und Macht geht; hier tragen die Gangsterpatriarchen bestenfalls vor gericht Nadelstreifenanzüge und pflegen ihren angeblichen "Familien"-Habitus nur so lange, wie niemand ihnen gefährlich wird oder an ihrem Thron zu sägen droht. Christopher Walken habe ich niemals, selbst bei Ferrara, bedrohlicher erlebt als in diesem Film, in dem er einen Proleten-Patriarchen von zunächst bewundernswerter Lässigkeit gibt; ganz den ewig typischen Walken-Gestus vor sich hertragend. Irgendwann jedoch, als es ihm ans Leder zu gehen droht, explodiert Brad Whitewood Sr., benutzt, manipuliert, entpuppt sich als höchst irdener Appalachen-Derwisch, vergewaltigt die Freundin seines Sohnes, tötet schließlich gar seinen Jüngeren, den "Bastard", wie er den einst außerehelich gezeugten Tommy boshaft zu nennen pflegt. Zu einer solchen auratischen Intensität hat es der große Chris Walken - zumindest meinem subjektiven Empfinden nach - später nie mehr gebracht.
Ähnliches gilt für James Foley, dessen bis dato große Sternstunde dieser mit aller Macht an die Substanz seiner Zuschauerschaft gehende Film geblieben ist, wenngleich er seinen Stern mit der Mamet-Adaption "Glengarry Glenn Ross" immerhin nochmal aufflackern lassen konnte. Vermutlich liegt es daran, dass Foley ein Filmemacher ist, der seine kreative Klimax stets im Zuge reziproker Wechselseitigkeit erreichte. Wenn man sich dagegen einen ganz ähnlich angelegten, jüngeren Film wie "Winter's Bone" anschaut, weiß man wieder um das Potenzial dieses kleinen großen, hammerharten Monsters von Film.

10/10

James Foley Südstaaten Familie Freundschaft Appalachen Coming of Age Marihuana


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AGAINST ALL ODDS (Taylor Hackford/USA 1984)


"It's simple: either you want to play football again, or you don't."

Against All Odds (Gegen jede Chance) ~ USA 1984
Directed By: Taylor Hackford

Nachdem Footballstar Terry Grogan (Jeff Bridges) wegen einer Schulterverletzung aus dem Team fliegt, steht er zunächst mittellos da. Da engagiert ihn sein alter Freund, der Buchmacher Jake Weiss (James Woods), als Schnüffler: Terry soll in Mexiko Jakes Verflossener Jessie Wyler (Rachel Ward) nachspüren, die zufälligerweise auch die Tochter der Besitzerin (Jane Greer) von Jakes Ex-Team ist. Als sich Terry und Jessie begegnen, beginnen sie fast vom Fleck weg eine heftige Affäre, die ein abruptes Ende findet, als Jakes früherer Trainer Sully (Alex Karras) in Yucátan mit einer Pistole vor ihnen steht und von Jessie erschossen wird. Zurück in L.A. versucht Jake, Terry wiederum für seine miesen Geschäfte einzuspannen und ihn gleichermaßen von Jessie fernzuhalten.

Dass "Against All Odds" bis heute stets nur als flaues Remake des Tourneur-Klassikers "Out Of The Past" gehandelt zu werden scheint, wird ihm nicht gerecht. Zwar ist der Film eines jener so typischen Beispiele, die veranschaulichen, mit welch glitzernden Reiz-Methoden im Hollywood der Achtziger Kino gemacht, Oberflächen-Trends etabliert, gesetzt und weitergesponnen wurden (ein anderes zu nennendes Werk in diesem Zusammemhang ist McBrides "Breathless", bekanntlich ebenfalls die Transponierung eines völlig andersartigen Klassikers in die damalige Gegenwart), genausogut ist er jedoch auch ein hervorragendes Form-Exempel dieser Periode. Wenn die jeweils perfekt gebauten Jeff Bridges und Rachel Ward nackt in einem Maya-Tempel aufeinanderliegen um Liebe zu machen, beäugt von steinernen archaischen Götzenbildern, dann stellt sich rasch das befremdliche Gefühl ein, zwei ätherischen Retortenmenschen beim interstellaren Koitus zuzusehen und man wähnt, dass ausgemachter Körperkult heute keineswegs eine temporäre Modeerscheinung war und/oder ist. Überhaupt entpuppt sich der gesamte Film, wie besonders die schöne Schlusseinstellung demonstriert, am Ende als große Ode an die makellose Physis Rachel Wards, in die Taylor Hackford zu dieser Zeit ganz offensichtlich schwer verschossen war. Doch auch sonst hat "Against All Odds" seine Qualitäten: Die schwülen klimatischen Verhältnisse von L.A. und Mexiko passen hervorragend in diese Tage und waren sogar vordringlicher Grund, warum ich, gegenwärtig elend bett- und/oder couchlägerig, mir Hackfords Film mal wieder anschauen wollte. Neben Phil Collins' wunderschönem Titelsong freilich.
Man begehe bitteschön nicht den allseits zum Nachteil gereichenden Fehler, "Against All Odds" als bloße Neuadaption zu betrachten. Andernfalls nämlich langt er dazu, gehörig Eindruck zu schinden.

7/10

Taylor Hackford Los Angeles Mexiko Karibik neo noir film noir Remake Football


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RED WHITE & BLUE (Simon Rumley/USA 2010)


"Where is she?"

Red White & Blue ~ USA 2010
Directed By: Simon Rumley

Durch nachbarlichen Zufall lernen sich die beiden verlorenen Seelen Erica (Amanda Fuller) und Nate Noah Taylor) kennen - sie eine sich treiben lassende, promiske, in ihrer Kindheit missbrauchte und HIV-positiv diagnostizierte Frau mit übermächtigen Bindungsängsten, er ein ausgebrannter Golfkriegsveteran mit einem tief verwurzelten Hang zum Sadismus. Beide scheinen die jeweils gewaltigen Löcher im Leben des anderen zu füllen, bis Erica ihre lotterlebige Vergangenheit zum Verhängnis wird. Ein seinerzeit unwissentlich von ihr angesteckter Musiker (Marc Senter) steht plötzlich vor den Trümmern seiner Existenz und rächt sich an Erica. Für Nate wiederum wirkt ihr Verschwinden wie der Selbstauslöser einer schlummernden Zeitbombe...

Simon Rumley, eigentlich aus England stammend, siedelt seine zweite Regiearbeit in Austin, Texas an, also einem der "amerikanischsten" amerikanischen Orte. So kommt wohl auch der ungewöhnliche Titel zustande, der nur wenige Rückschlüsse auf das Geschehen im Film zulässt. Man weiß über Nate nur, dass ihm ein latenter Wahnsinn innewohnt, der, einmal zum Ausbruch gebracht, seine letzte Konsequenz fordert, bis er wieder abgestellt werden kann. Offenbar ist er nebenbei auch die Sorte Patriot, die die USA sich eigentlich nicht wünscht, von der es aber hinreichend viele gibt: Ein bereits psychisch schwer gestörter Mann, dem der Kriegseinsatz noch mehr zugesetzt hat und der aufgrund seiner phasenhaften Skrupellosigkeit sogar von der CIA als sdchlafender "Mann für besondere Fälle" benutzt wird. Dass ausgerechnet dieses Monster von ein paar unwissenden, dummen Garagenrockern von der Leine gelassen wird, muss zwangsläufig mit Blut und Tod vergolten werden. Zwar bleiben die entspechenden visuellen Auswüchse Simon Rumleys relativ zurückhaltend; allein deren Andeutung setzt dem Betrachter jedoch schon genug zu. Dem Regisseur ist eine harter, intensiver und höchst sehenswerter Dreiakter gelungen, den sich jeder, der den Glauben an das mainstreamferne US-Kino zu verlieren droht, mal gönnen sollte. Es lohnt.

9/10

Simon Rumley AIDS Rache Texas Independent Madness


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BALADA TRISTA DE TROMPETA (Álex de la Iglesia/E, F 2010)


Zitat entfällt.

Balada Trista de Trompeta (Mad Circus - Eine Geschichte von Liebe und Tod) ~ E/F 2010
Directed By: Álex de la Iglesia

1937 wird ein Zirkusclown (Santiago Segura) unfreiwillig von einer Miliz in die Bürgerkriegswirren hineinbefördert und prompt verhaftet. Sein kleiner Sohn Javier (Jorge Clemente) versucht ihn zu befreien, verursacht bei einer entsprechenden Aktion jedoch den Tod des geliebten Vaters. Als Erwachsener tritt Javier (Carlos Areces) in den frühen Siebzigern einem Zirkus bei - als "trauriger Clown". Prompt verliebt er sich in die schöne Seilartistin Natalia (Carolina Bang), doch diese ist bereits mit dem trunksüchtigen, gewalttätigen Chefclown Sergio (Antonio de la Torre) liiert. Nachdem Sergio Javier und Natalia bei einem harmlosen Tête-à-tête erwischt, bringt er den friedlichen Javier fast um. Dieser dreht daraufhin durch und verstümmelt Sergio zur Unkenntlichkeit, was zugleich das Ende des Zirkus zur Folge hat. Doch die bizarre Dreiecksgeschichte ist damit noch lange nicht zu Ende...

Eine überaus ansehnliche Allegorie über die franquistischen Jahre Spaniens hat de la Iglesia da gefertigt, zugleich eine Hommage an Jodorowskys "Santa Sangre" und natürlich eine der schönsten, wenn nicht gar die schönste Liebesgeschichte im Kino seit der Jahrtausendwende. Natürlich gönnt "Balada Trista" seinem am Ende, nach ungeheuren emotionalen und aktionistischen Turbulenzen zusammengefügten Paar keinen glücklichen Abgang, aber man weiß ja, dass die wahrhaft bezaubernden Romanzen in der Literatur ohnehin stets kurz und heftig sind, bevor sie die Patina der Gewohnheit und Gewöhnlichkeit grau färben kann. Am Schluss bleiben nur Tod und Tränen und die ins Leere laufende Rivalität zweier verlorener Liebesbesessener. Zuvor gibt es freilich noch die Odyssee Javiers durch die franquistischen Wirren zu beobachten, während derer er unter anderem wie ein Wildschwein im Wald hausen und schließlich als (immerhin bissiger) Jagdhund für den Generalissimo en persona herhalten muss. Später dann noch Selbstverstümmelung und Amok; eigentlich gibt es faktisch nichts, was "Balada Trista" nicht aufböte, zumindest nicht nach Sam Fullers altem Kinocredo über die Schlachtfeld-Emotionalität auf der Leinwand.

9/10

Zirkus Álex de la Iglesia Spanien Spanischer Bürgerkrieg Franquismus period piece Parabel Groteske Clowns Madness


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WOLF (Mike Nichols/USA 1994)


"What are you, the last civilized man?"

Wolf ~ USA 1994
Directed By: Mike Nichols

Während einer Firmenreise durch das verschneite, nächtliche Vermont wird der New Yorker Verlagsdirektor Will Randall (Jack Nicholson) von einem Wolf gebissen. Schon bald verbessert sich sein körperliches Befinden, verstärken sich seine Sinne, mobilisiert sich sein kompletter Charakter. Und Will steigt hinter die Kompromisslosigkeit seiner Mitmenschen. Einzig Laura Alden (Michelle Pfeiffer), die Tochter seines Chefs (Christopher Plummer), erweckt noch Gefühle in ihm. Als im Central Park jeweils am Morgen die ersten Leichen gefunden werden, beginnt Will sich aber doch Sorgen zu machen.

In seinem, von ein paar unpassenden Zeitlupeneffekten abgesehen, schönsten und intelligentesten Film seit "Carnal Knowledge" treibt Mike Nichols den in "Regarding Henry" eingeschlagen Weg der Mannsbild-Vivisektion zur Blüte. Es bedarf nämlich, so die These von "Wolf", einer Rückkehr zu den animalischen Urinstinkten, um als Vertreter jenes Geschlechts in den Neunzigern zu elementarer Authentizität zurückkehren zu können. Will Randall ist ein alter, müder und verweichlichter Typ Ende 50, den es kaum tangiert, dass sein schmieriger Arbeitskollege und selbsternannter Freund Stewart Swinton (brillant: James Spader) ihm nicht nur den Job wegnimmt, sondern ihn auch noch mit seiner Frau betrügt. Oder zumindest will er davon nichts wissen. Oder er ist schlicht zu phlegmatisch zur Bewältigung solcherlei Existenzkrisen. Will Randall hat aufgehört zu leben ohne tot zu sein. Erst jener mehr oder minder verhängnisvolle Wolfsbiss auf der nächtlichen Landstraße in New England bringt seine Lebensgeister zurück - um den Preis inflationär gesteigerter Haardichte zwar, aber deshalb keinesfalls unerfreulich. Mit dem verbesserten Ich-Gefühl einhergehend kommt auch seine berufliche Motivation zurück und seine sexuelle Virilität. Motivationstraining per Wolfsbiss; Raubtiereiweiss anstelle von Speed. Am Ende bleibt zwar nurmehr die Entscheidung zwischen einer vollkommenen Existenz als Mann oder Tier; diese beantwortet sich durch eine moralische Einladung jedoch von selbst. Außerdem wird Will sein künftiges, wölfisches Leben nicht allein führen müssen.

8/10

Mike Nichols New York Werwolf Duell Parabel


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REGARDING HENRY (Mike Nichols/USA 1991)


"I can read!"

Regarding Henry (In Sachen Henry) ~ USA 1991
Directed By: Mike Nichols

Nachdem er bei einem Raubüberfall schwer verwundet wird, steht dem als besonders skrupellos berüchtigten New Yorker Rechtsanwalt Henry Turner (Harrison Ford) eine langwierige Rekonvaleszenz bevor: Auf den Entwicklungsstand eines Säuglings zurückkatapultiert muss er sich sämtliche Hirnfunktionen erst neu aneignen und wieder zu seiner Familie finden. Dabei zeigt sich im Laufe der Zeit, dass ein Neuanfang im Falle Henry Turners keinesfalls ein Fluch, sondern ein Segen ist.

Nach seinem losen Frauenfilm-Zyklus widmete sich Nichols ab den Neunzigern der Problematik des hoffnungslos rollenüberforderten Patriarchats. Die für soziale Erfolge unerlässliche Gratwanderung zwischen Softie und Oberarschloch zu beherrschen ist eben nicht jedem Vertreter unseres Geschlechts vergönnt. Auch Henry Turner nicht, der sich bereits vor langer Zeit für Ersteres entschieden hat, der zum Sprachrohr großkapitalistischer Interessen verkommen ist, der, wie man später erfährt, seine Frau betrügt und dessen putzige Tochter (Mikki Allen) ihm ein bloßer Klotz am Bein ist. Da ist der neue Esszimmertisch doch deutlich wichtiger! Doch dieses fleischgewordene Albtraumrelikt der Yuppie-Ära bekommt sogleich sein schicksalhaftes Fett weg: Raus aus der renommierten Kanzlei, ran an die Gehhilfe und aus dem sabbernden Säugling im Erwachsenenleibe gerinnt innerhalb der verbleibenden achtzig Filmminuten ein zwar nach wie vor re-infantilisierter, dafür aber umso geläuterterer Familiendaddy, ganz so, wie Amerika ihn möchte und braucht. Ein Softie nunmehr, mit Bettqualitäten freilich. Eigentlich seltsam, dass Robin Williams den nicht spielen durfte.
Zumindest der intelligente Nichols wählt bezüglich dieses fürchterlich kitschigen Stoffs die einzig probate aufrichtige Entscheidung: Einen fürchterlich kitschigen Film draus zu machen nämlich. Eine komplette Riege von stereotypen Abziehbildern (ganz schlimm: Bill Nunn als Onkel-Tom-Physiotherapeut) tanzt durch das vorhersehbare Geschehen wie durch ein Rodgers/Hammerstein-Musical, nur ohne Musik. Doch anstatt sich verzweifelt gegen die Klischiertheit dieses im Grunde genommen unmöglichen Stoffs zu stemmen und prätentiöses Kritikerkino zu machen, nutzt Nichols seine Ressourcen so gut es geht und macht seiner gesteigert verlustgefährdeten Reputation alle Ehre. Am Ende steht zwar ein etwas peinliches Filmmärchen mit Mentalitätsanleihen aus der Phantastik, das einen aber, wenn hier und da durch seine Hemmungslosigkeit auch unfreiwillig komisch, zumindest keine Millisekunde langweilt. Und allein das ist schon einen Asbach Uralt wert.

5/10

Mike Nichols Amnesie Behinderung Familie New York J.J. Abrams


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DRIVE (Nicolas Winding Refn/USA 2011)


"There's no good sharks?"

Drive ~ USA 2011
Directed By: Nicolas Winding Refn

Ein Stuntman und nebenberuflicher Fluchtwagenfahrer (Ryan Gosling) übernimmt Verantwortung für eine benachbarte Familie, deren Vater Standard (Oscar Isaac) soeben aus dem Gefängnis entlassen wurde und gleich wieder in den kriminellen Sumpf gerät. Als der Driver erfährt, dass der bei einem Überfall erschossene Standard nur als Strohmann in einem aus dem Ruder geratenen Mafiakrieg fungiert, hält ihn nichts mehr zurück.

"Drive" schreibt sie fort, die wortkargen, urbanen Gangster-Mythen von Jean-Pierre Melville, Walter Hill und Michael Mann, unter passgenauer Nutzung und Ergänzung der mittlerweile bewährten, flächig-transzendenten und traum-haften Bildwelten Nicolas Winding Refns, die sich auch auf US-Terrain gleichsam faszinierend ausnehmen. Wieder einmal wird der Moloch Stadt, besonders das nächtliche Lichtteppich-L.A., zum inoffiziellen Protagonisten eines Gangsterfilms, denn "Drive" kann nur vor großstädtischer Kulisse zu seiner ganz speziellen, hochtourigen Form auflaufen, anderswo wäre er nicht nur uninteressant, sondern wohl geradezu redundant. Der schweig- und einsame Held, eine Art Jeff Costello des neuen Jahrtausends, markiert eine unergründliche Mischung aus pflichtbewusstem Profi und grenzautistischem Proleten, sein Bewusstsein wie alle Refn-Hauptcharaktere in fremden Sphären parkend und bei Bedarf zu einer unaufhaltsamen Killermaschine explodierend. Gosling spielt diese geradezu orakelhafte Figur mit bewundernswerter Gleichmut, irgendwo im Niemandsland zwischen Tranxilium und Ephedrin. Und wie nach jedem von Refns meisterlichen Filmen möchte man am Ende gar nicht raus, sondern am liebsten noch viel länger verweilen in seinem bizarren Universum aus entanonymisierter Zärtlichkeit, Gewalt und Kryptik.

9/10

Nicolas Winding Refn Los Angeles car chase Auto Stuntman Mafia


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WORKING GIRL (Mike Nichols/USA 1988)


"Nothing happened."

Working Girl (Die Waffen der Frauen) ~ USA 1988
Directed By: Mike Nichols

Die Karrierepläne der New Yorker Bürokraft Tess McGill (Melanie Griffith) scheitern letztlich nicht an ihrer ohnehin nicht zu unterschätzenden Intelligenz, sondern daran, dass sie ihre proletarische Staten-Island-Herkunft in Manhattan nie ganz abstreifen konnte. Als sie bei der arroganten Katharine Parker (Sigourney Weaver) als Sekretärin anfängt, lernt sie von dieser unfreiwillkigerweise einiges über opportunistisches Geschäftsgebahren - Tess' Eintrittskarte zur Welt der Hochfinanz.

Jeder, der behauptet, "Working Girl" gehöre mit zum Unausstehlichsten, was die Kinoindustrie in den achtziger Jahren ausgekotzt hat, der hat wohl vollkommen Recht. Dennoch leistet Nichols' dritter Frauenfilm innerhalb dieser Dekade gleichfalls Beträchtliches. Er bietet nämlich eine historische Lehrstunde über die Ellbogenmentalität der Generation Yuppie sowie ein Transportmittel für die bizarren Auswüchse des amerikanischen Erfolgstraums. Als Schmachtfetzen für all die Kaffekocherinnen und Telefondamen dieser Welt - temporary hair crimes included - begreift er sich wohl ebenso als romantic comedy; diese irrelevante Selbstwahrnehmung hat heute aber kaum mehr Nachhall. Stattdessen erhält man, wie bereits ein Jahr zuvor im Zuge von Herbert Ross' "The Secret Of My Succe$s" die Möglichkeit, einem gutherzigen, sozialen Naivling auf seinem gerechten Weg Richtung Spitze zu begleiten und die Suggestion, sich dabei mit ihm bzw. ihr gut fühlen zu sollen. Dass das Zeugnis solcherlei erzkapitalistisches Strebertumes eher einer Tortur gleichkommt, konnte ich selbst erst mit dem Abstand der Jahre für mich herausfiltern. Lediglich die letzte Einstellung, die demonstriert, auf dem Rücken wie vieler Kleinsträdchen die großstädtische Wirtschaft eigentlich operiert, scheint mir eines einstigen New-Hollywood-Regisseurs würdig. Immerhin: Von all den "kleineren" Gallionsfiguren dieser Periode ist Nichols einer der wenigen, der am Ball bleiben und sich bis heute durchkämpfen konnte. Damit entspricht die Mentalität dieses Films vermutlich auch zu einem gewissen Maß seinem persönlichen Gusto. In memoriam Monte Hellman, Richard Rush, Hal Ashby et. al..
Dennoch muss ich zugeben, "Working Girl" von Zeit zu Zeit noch immer gern anzuschauen. My bad.

5/10

Mike Nichols New York Yuppie Feminismus





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