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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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AFTER HOURS (Martin Scorsese/USA 1985)


"I don't know what came over me." - "Lack of discipline." - "Possibly."

After Hours ~ USA 1985
Directed By: Martin Scorsese


Der mit seinem Leben unzufriedene New Yorker Programmierer Paul Hacket (Griffin Dunne) lernt nach einem gewöhnlichen Arbeitstag in einem Diner die attraktive Marcy (Rosanna Arquette) kennen, erhält von ihr die Nummer ihres WG-Apartements in Uptown Manhattan (das sie mit ihrer Künstlerfreundin Kiki (Linda Fiorentino) bewohnt) und ruft nur kurze Zeit später bei ihr an, um möglichst noch in derselben Stunde ein Rendezvous zu bekommen. Eine folgenschwere Entscheidung, denn Soho erweist sich als bizarrer Hort verrückt gewordener Nachteulen, die keinen Spaß verstehen.

Best to be seen by double mit dem im selben Jahr erschienen "Into The Night", einem meiner Lieblingsfilme nebenbei. Zwei in ihrer ganz individuellen Weise recht eigenwillige Insomnie-Komödien, wobei der sich für "After Hours" erstmals bei Michael Ballhaus' Brillanz als dp bedienende Scorsese sich noch weniger als sein Kollege John Landis um Oberflächen und Narrativik schert und stattdessen ein reines Panoptikum des Irrsinns aufbietet, das bei aller Absurdität und grotesken Komik tieftraurig ist und nicht zuletzt Scorseses eigene Seelenlage widerspiegelt, nachdem sein erster Versuch, die Kazantzakis-Verfilmung "The Last Temptation Of Christ" zu stemmen, brutal gescheitert war. Griffin Dunne, der das Projekt mehr oder weniger eingestielt hatte, gibt an, sich zwischenzeitlich auch um Tim Burton als Regisseur bemüht zu haben, was vermutlich ebenfalls nicht die schlechteste Wahl gewesen wäre, zumindest in Relation zu dem abgründigen Humor des Stücks. Das, was Paul Hacket hier des Nachts in den Bohème-Kreisen Manhattans passiert, wirkt im Gegensatz zu Ed Okins L.A.-Erlebnissen zumindest halbwegs geerdet; erscheint deswegen aber auch um einiges weniger märchenhaft. Eine gerüttelt Maß Kafka steckt hierin; der von anonymen Antagonisten verfolgte Unschuldige, der in die unaufhaltsamen Zahnräder der Verfolgung gerät. Dabei träumt Paul durchaus von der Freiheit, immerhin liest er Henry Miller - für einen EDV-Experten sicherlich keine eben typische Lektüre. Doch schon das Öffnen und Schließen der Pforten seiner Firma weist wesentlich mehr Elemente von Orwell und Bradbury auf. Paul ist nur ein Atom innerhalb des allumfassenden, repressiven Gefüges, umso verlorener sein Strampeln.
Einer der interessantesten, wenn auch sperrigsten und weniger zugänglichen Filme des Regisseurs.

9/10

Bohème Insomnie Martin Scorsese Subkultur Nacht New York


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THE KING OF COMEDY (Martin Scorsese/USA 1982)


"I figure it this way: Better to be king for a night than schmuck for a lifetime."

The King Of Comedy ~ USA 1982
Directed By: Martin Scorsese


Der kleine New Yorker Laufbursche Rupert Pupkin (Robert De Niro) träumt von einer Fernseh-Karriere als Stand-Up-Comedien und glaubt, in der Late-Night-Show des erfolgreichen Talkers Jerry Langford (Jerry Lewis) ein ideales Sprungbrett für seine Zwecke gefunden zu haben. Das Problem liegt bloß darin, dass sich Langford nicht die Bohne für Pupkin interessiert und jeden seiner Annäherungsversuche zunehmend schroff zurückweist. Mithilfe der Stalkerin Masha (Sandra Bernhard) kidnappt Pupkin schließlich Jerry Langford und erpresst damit einen Auftritt in dessen Sendung.

In Rupert Pupkin findet sich ein naher Verwandter von Travis Bickle mit ganz ähnlichen biographischen Zügen: Eine tickende Zeitbombe, unter desolater Einsamkeit leidend, die ihr zunächst unscharf umrissenes Ziel mit allem erforderlichen, bisweilen beängstigendem Nachdruck verfolgen wird. Dabei gibt sich der Film keinesfalls damit zufrieden, Pupkin als den Schizo von vorderster Front zu denunzieren: Seine für ihn unmöglich zu überbrückende Chancenlosigkeit und die damit gekoppelte Gewissheit, als optionaler Kneipenkomödiant zu einem Leben am Boden verurteilt zu sein, verleihen seinen Anstrengungen erst die erforderliche Chuzpe. Das älteste amerikanische Pioniersideal unbarmherziger Willenskraft - wie bereits in "Taxi Driver" in einen pathologisch gefärbten Gegenentwurf pervertiert. Dass Pupkins Idol Jerry Langford bei aller berechtigten Furcht vor der Aufdringlichkeit der Massen jede Bodenhaftung verloren hat, präsentiert Scorsese als streitbare Diskussionsgrundlage. Steht einem Karrieristen, so er nur lang genug dafür schuftet, nicht auch das Grundrecht zu, sich arrogant zu geben? Ganz unabhängig von Langfords Bemühungen, die Stacheln der Unnahbarkeit zu präsentieren, wird Rupert Pupkin wie weiland Travis Bickle erst zum bizarren Helden der Massen, nachdem er den Sprung ins kalte Wasser der Gesetzlosigkeit gewagt hat. Bei Scorsese heißt es: crime pays - zumindest, solange es nicht organisiert ist.

9/10

Fernsehen New York Martin Scorsese Satire


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RAGING BULL (Martin Scorsese/USA 1980)


"You didn't get me down, Ray."

Raging Bull (Wie ein wilder Stier) ~ USA 1980
Directed By: Martin Scorsese


Aufstieg und Fall des aus der Bronx stammenden Mittelgewichtsboxers Jake La Motta (Robert De Niro), seine Heirat mit der wesentlich jüngeren Vickie (Cathy Moriarty), seine krankhaft-paranoide Eifersucht, die irgendwann zum Bruch mit seinem Bruder Joey (Joe Pesci) führt, schließlich die zweite Karriere als Entertainer in Nachtclubs.

Scorseses Porträt eines pathologisch gewalttätigen Menschen bezieht seine ungeheure Intensität aus dem Gespür des Regisseurs für explosive Situationen. Kaum eine Dialogsequenz, die nicht mit Streit, Hieben oder Tränen endet, kaum ein Konflikt, der ein zufriedenstellendes Ende fände. "Raging Bull" als Boxfilm zu bezeichnen, käme indes einer Majestätsbeleidigung gleich; in dieses Sparte wird er zuweilen höchstens gedrängt, weil die Hauptfigur rein zufällig eben Boxer ist. Tatsächlich geht es wie bereits in früheren Filmen Scorseses um die Unfähigkeit des italienischstämmigen Amerikaners in zweiter oder dritter Generation, sein rückständiges Rollenverständnis aufgeben zu können und zugleich die ewuge Unsitte, selbst eine hoffnungslos tradierte Machismo-Oberfläche zu pflegen. Diese Charakterzüge repräsentiert keineswegs nur Jake, auch sein jüngerer Bruder Joey, mehr aus Gründen der Blutverwandtschaft Jakes Berater und Manager, vertritt ein derartiges Image. Scorsese, der sich hier vielleicht auf dem Höhepunkt seiner inszenatorischen Innovation befindet, kultiviert darüberhinaus diverse der aus seinen späteren Gangsterfilmen bekannten Elemente: Urplötzliche Gewalteruptionen nach sich langsam hochschaukelnden Stresssituationen etwa oder ganz schlicht ein cholerischer Joe Pesci, dem es im Moment der blinden Rage gleichgültig ist, ob er sein Gegenüber (der wie auch später stets unselige Frank Vincent) zu Tode prügelt.
Exquisit und einmalig derweil Michael Chapmans schwarzweiße Kamera, die die mit edelste (stil-)bewusste Farbentledigung beinhaltet, die mir im Film bekannt ist.

10/10

Mafia Martin Scorsese Miami Paul Schrader New York Ethnics Biopic Boxen


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NEW YORK, NEW YORK (Martin Scorsese/USA 1977)


"I made a lot of mistakes. So I'll make another one. This one's on me."

New York, New York ~ USA 1977
Directed By: Martin Scorsese


New York in den Vierzigern: Der Kriegsheimkehrer und brillante Saxophonist Jimmy Doyle (Robert De Niro) verliebt sich Hals über Kopf in die Jazzsängerin Francine Evans (Liza Minnelli). Ihre bald eingeläutete Ehe bringt jedoch mehr Schwierigkeiten denn Erfüllungspotenzial mit sich, bis beide schließlich erkennen müssen, dass sie ihre jeweiligen Lebensträume nur ohne den anderen verwirklichen können.

Mit seinen betont artifiziellen Kulissen und szenischen Arrangements wäre "New York, New York" eigentlich ein großartiges Musical, tatsächlich aber ist er im strengen Gattungssinne gar keines. Die Musik ist hier kein narrativer Bestandteil, der Film konstruiert sich um die Musik herum sowie um die existenzielle Liebe zu ihr. Die jazzigen Nummern finden hier ausschließlich auf der Bühne statt und nicht im Eiscafé oder im Bad; hinzu kommt die dicht gestaltete Präsentation einer seltenen Wahrheit, nämlich der, dass es selbst innerhalb einer Musikrichtung ganz und gar unterschiedliche Ausrichtungen gibt, so unterschiedlich, dass sie gar getrennte Lebenswege erfordern. Jimmy Doyle lebt den Jazz der verrauchten Kneipe, bläst sein Horn bis zum Umfallen und in teils wenig eingängigen Tönen, kokst mit seinen Bandkollegen auf dem Barklosett und ist auch sonst Musiker durch und durch. Francine Evans indes ist ein Publikumsmensch, je größer das Publikum, desto mehr blüht sie auf, sie singt ihre Stücke weniger für sich denn für die Massen da draußen. Eine wesentliche Inkompatibilität, der das ansonsten einander durchaus zugetane Paar nicht standhalten kann.
Scorsese sagt oft, er bedaure, dass "New York, New York" innerhalb seines Oeuvre häufig vorschnell global als "peripher", "unwesentlich" und "exotisch" bezeichnet werde - ich kann mir denken, derartige Einschätzungen entstammen vornehmlich jenen Experten bzw. Kritikern, die glauben, mit der Kenntnis von "Goodfellas" und "Casino" im Hinterkopf seien sie Scorsese-Intimi. Denkter.

8/10

New York Musik Martin Scorsese Veteran Jazz


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TAXI DRIVER (Martin Scorsese/USA 1976)


"Loneliness has followed me my whole life. Everywhere. In bars, in cars, sidewalks, stores, everywhere. There's no escape. I'm God's lonely man."

Taxi Driver ~ USA 1976
Directed By: Martin Scorsese


Der einsame New Yorker Vietnamveteran Travis Bickle (Robert De Niro) nimmt einen Job als Taxifahrer an und arbeitet ausschließlich in der Nachtschicht. Ist er ohnehin schon äußerst unzufrieden mit dem üblen Zustand der urbanen Rotlichtbezirke, so veranschaulichen ihm seine Touren durch das neonbeleuchtete Manhattan nur umso deutlicher, dass es so nicht weitergehen kann mit dieser Stadt. Zwei Begegnungen führen schließlich dazu, dass Travis auf seine Weise "mobil macht": Die attraktive Wahlkampfhelferin Betsy (Cybill Shepherd) lässt ihn abblitzen, nachdem er sie in ein Pornokino ausführt, von der minderjährigen Prostituierten Iris (Jodie Foster), die ihm nächtens zweimal begegnet, glaubt er derweil einen leisen Befreiungswunsch zu vernehmen, den er ihr unbedingt erfüllen möchte.

Nachdem Charles Bronson als Paul Kersey anno 74 erstmals als rotsehender Rächer durch den nächtlichen Central Park tingelte um dort Kleinkriminelle zu erledigen, betrieben Paul Schrader und Scorsese nur zwei Jahre später bereits zielgerichteten Ikonoklasmus: Ihr Vigilant präsentiert sich als kaputter Soziopath, als "avenger without a cause", der sich nach seinem abschließenden Amoklauf nur deshalb nicht selbst zu richten vermag, weil er zuvor alle Magazine leegefeuert hat. Die größte Form von Zynismus erfolgt allerdings erst durch die ihn umgebende, ihn zum Helden und Retter stilisierende Mediengesellschaft. Scorsese folgt Travis' psychischem Niedergang so nüchtern und kommentarlos wie nur möglich, kommuniziert über Bilder und Impressionen anstatt vage Beweggründe zu ermitteln oder vordergründige Charakteranalyse zu betreiben - die vielleicht größte Stärke des Films. Bernard Herrmanns bald romantisch angehauchter Jazzscore dudelt dazu, als betreibe "Taxi Driver" auch noch ganz bewussten Stilbruch.
Die großstädtische Anonymität, in der der ohnehin schwer traumatisierte Kriegsheimkehrer Travis Bickle sich bewegt, ist angefüllt mit dysfunktionalen Sozialgliedern: Seine Arbeitskollegen sind verlogene Dummschwätzer, seine Angebetete entpuppt sich gleich beim ersten unglücklichen Treffen als kaum mehr denn ein oberflächliches Modepüppchen, das sich einzig darum liberal gibt, um auch auf intellektueller Ebene als schick zu gelten. Der Politiker Palantine (Leonard Harris) ergießt sich in hohlem Populismus und betreibt leere Wähleranbiederung, ein sich bourgeois gebender nächtlicher Fahrgast (Martin Scorsese) entlarvt sich selbst als zugekokster Größenwahnsinniger, ganz ähnlich wie der gewaltbereite Eckladenbetreiber (Victor Argo) von nebenan. Der Kindernutten auf die Straße schickende Zuhälter Sport schließlich vereint nur die allermiesesten Eigenschaften in sich und bietet daher das dankbarste Ziel für Travis' aufgestaute Triebentladung. Bei der Vorstellung all dieser Figuren geht der Film geschickt genug vor, sein Publikum zu heimlichen Komplizen des seinerseits selbst schwer gestörten Titelcharakters zu machen, eine gleichermaßen perfider und intelligenter Ansatz.
Ohne "Taxi Driver" hätte das New Yorker Underground-Kino nie die Blüte der nächsten Jahre erreicht, wäre das Werk von Autoren wie Abel Ferrara, Frank Hennenlotter, William Lustig oder James Glickenhaus, das teils direkten Bezug nimmt auf Scorseses archetypisches Meisterwerk, kaum denkbar. So genuin gemein, schwarzhumorig und hinterhältig war seitdem nicht viel.

10*/10

Veteran Insomnie Madness Vigilantismus Paul Schrader New York Martin Scorsese Nacht New Hollywood


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ALICE DOESN'T LIVE HERE ANYMORE (Martin Scorsese/USA 1974)


"So long, suckers!"

Alice Doesn't Live Here Anymore (Alice lebt hier nicht mehr) ~ USA 1974
Directed By: Martin Scorsese


Nachdem ihr herrischer Ehemann (Billy Green Bush) bei einem Unfall gestorben ist, löst Alice Hyatt (Ellen Burstyn) ihren Hausstand auf, klemmt sich ihren elfjährigen Sohn Tommy (Alfred Lutter) unter den Arm und fährt mit dem Wagen Richtung Westen, wo sie sich einen Jugendtraum erfüllen und im küstennahen Monterey als Sängerin arbeiten möchte. Nachdem sie in Phoenix ein paar Dollar als Barpianistin verdient und eine Kurzbeziehung mit dem halbverrückten Ben (Harvey Keitel) gecancelt hat, landet sie mit Tommy in Tuscon, wo sie als Kellnerin arbeitet und sich in den Jungrancher David (Kris Kristofferson) verliebt.

Scorsese nächster Film, für den ihn sich Ellen Burstyn, die treibende Kraft hinter dem Projekt, abgriff, ist für die übliche Signatur des Regisseurs ein recht ungewöhnliches Werk. Eine Frau mit erstarkender Persönlichkeit steht im Zentrum dieser feministischen Kampfschrift, die durchaus als New-Hollywood-Ruhmesblatt pro Frauenbewegung verstanden sein darf. Nun ist Alice Hyatt weder mit einem politisch radikalen Charakter noch mit einem allzu überragenden Intellekt ausgestattet, sie ist einfach eine typische amerikanische Provinz-Hausfrau und -Mutter, die durch ein nur für eine Schrecksekunde als solches zu begreifendes Unglück in die eigentlich glückliche Position versetzt wird, Maßgaben und Richtung ihrer Existenz selbst zu gestalten und zu bestimmen. Als der nächste ernstzunehmende Mann in ihr Leben tritt, muss er sich fügen oder gehen - und Alice gewinnt.
Ellen Burstyn inmitten eines im staubigen Westen spielendes road movie mitsamt Klavierbars, Rindern und Diners voller lärmender Cowboys - das klingt nicht eben nach Scorsese, mit dem man auch sechsunddreißßig Jahre später primär noch New York und Little Italy, rohe Gewalt und irrsinnige Individuen auf dem Weg zur Hölle assoziiert. Und doch meistert er sein Sujet, entscheidet sich wider Gewalt und Schmerz und stattdessen für Herzenswärme, Menschlichkeit und Humor. Allen also, die beim Klang des Regisseurnamens in erster Linie an zu kurz geraten Derwische, zustechende Kugelschreiber und prügelnde Baseys denken, täten gut daran, hier mal einen Blick zu riskieren. Zur Horizonterweiterung sozusagen.

8/10

Martin Scorsese New Hollywood Road Movie Musik Arizona


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BOXCAR BERTHA (Martin Scorsese/USA 1972)


"Up! Down! Up! Down!"

Boxcar Bertha (Die Faust der Rebellen) ~ USA 1972
Directed By: Martin Scorsese


Während der Tage der Depressionszeit tun sich das Straßenmädchen Bertha Thmpson (Barbara Hershey), der Klassenkämpfer Bill Shelly (David Carradine), der Falschspieler Rake Brown (Barry Primus) und der Tagelöhner Von Morton (Bernie Casey) zusammen und verüben Raubzüge auf Banken und die Eisenbahngesellschaft. Dabei achten sie stets darauf, dass ein Großteil ihrer Beute an die Gewerkschaften oder direkt an die ausgenutzten Arbeiter geht. Dem Eisenbahn-Bonzen Sartoris (John Carradine) ist das Quartett daher ein besonderer Dorn im Auge.

Kaum ein bedeutender Filmschaffender in New Hollywood, der nicht zumindest kurzfristig Wegbegleiter von Roger Corman war oder wenigstens einmal für die AIP gearbeitet hat. Scorseses nomineller Beitrag dazu hieß "Boxcar Bertha". Corman ist bekanntermaßen ein großer Freund von in den zwanziger und dreißiger Jahren angesiedelten Gangsterfilmen, wobei immer wieder gern authentische Figuren und Geschichten zu Markte getragen wurden - so auch die der "Boxcar Bertha" Thompson, bei der es sich tatsächlich jedoch um eine fiktionale, literarische Figur des obskuren Akademikers Ben Reitman handelt, eines notorischen Bordellgasts, der im Film sogar kurz porträtiert wird. Der Vorteil bei der Produktion dieser Art period piece war für Corman nicht zuletzt ein ökonomischer - durch die Wiederverwendbarkeit von Kostümen, Ausstattungsstücken und Kulissen konnte jeweils eine Menge an Produktionskosten eingespart werden. Auch "Boxcar Bertha" wurde für ein sehr geringes Budget realisiert, obschon man ihm das nicht ansieht. Für Scorseses Gesamtoeuvre ist seine zweite Regiearbeit im Spielfilmfach (zwischendurch hatte er die Dokumentation "Street Scenes" angefertigt) als Auftragsarbeit von eher untergeordneter Bedeutung. Er hatte einen Exploitationfilm machen sollen, was sich visuell noch anhand einiger heftiger shoot outs (besonders der abschließende wäre da zu nennen) und ein paar Sexszenen mit der Hershey festmachen lässt. Ansonsten mangelt es "Boxcar Bertha" geflissentlich an Tempo, wenn auch nicht an Stil. Ganz bewusst verzichtete Scorsese auf Weichzeichnerfilter, wie sie etwa Kollege Altman einzusetzen pflegte und filmte in knackig-bunter Farbnomenklatur, die seine Arbeit noch heute frisch und lebendig erscheinen lässt. Als Bestandteil einer halbwegs kompletten Hollywood-Schau über die Depressionszeit erachte ich den Film jedenfalls als unerlässlich.

7/10

period piece Historie Roger Corman Heist Great Depression Hobo Martin Scorsese


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WHO'S THAT KNOCKING AT MY DOOR (Martin Scorsese/USA 1967)


"I forgive you."

Who's That Knocking At My Door (Wer klopft denn da an meine Tür) ~ USA 1967
Directed By: Martin Scorsese


Der junge italienischstämmige New Yorker J.R. (Harvey Keitel) pflegt zusammen mit seinen Freunden große Gesten ohne viel Inhalt. Als er am Bahnhof ein hübsches Mädchen (Zina Bethune) kennenlernt, die sein Interesse für das Kino und John-Wayne-Filme teilt, freut er sich zunächst, eine gefunden zu haben, die nicht so ist, wie "diese ganzen Miezen", die mit jedem sofort ins Bett steigen und nicht mehr jungfräulich in die Ehe gehen können. Dann erfährt er von dem Mädchen, dass es schon einmal vergewaltigt wurde, eine mit J.R.s männlichem Stolz und seiner erzpuritanischen Erziehung unvereinbare Tatsache.

Scorsese ursprünglich als Abschlussarbeit für die New Yorker Filmakademie gedachtes und eine Mehrfach-Titel-Evolution durchlaufenes (von "Bring On The Dancing Girls" über "I Call First" bis hin zu "Who's That Knocking") Langfilmdebüt konnte erst nach einigen Jahren und mittels komplizierter Finanzierungsumwege auf Länge gebracht werden - unter der Prämisse, dass ein paar Nacktszenen hineinmontiert werden, um zumindest einen geringeren Kassenerfolg zu gewährleisten. Diese schlugen sich dann letztlich in Form einer Traumsequenz nieder, in der der trotz seiner Weigerung, mit seiner Freundin zu schlafen, keineswegs asexuelle J.R. von koitalen Begegnungen mit hübschen Gespielinnen phantasiert. Dazu spielt Scorsese "The End" von den Doors. Die sehr kunstvoll arrangierte Sequenz dürfte dem, was die Financiers sich vorgestellt hatten, im Endeffekt ziemlich diametral gegenüberstehen, in den Film gliedert sie sich jedenfalls vortrefflich ein. Viel von Scorseses immer wieder akuten formalen Leitmotiven findet sich hier bereits ein; der geschmackvolle Einsatz zeitgenössischer Musik etwa (für die Stones fehlte es damals wohl an Tantiemenaufwendung) und die Unfähigkeit des Hauptcharakters, über seine eigene Sozialisation respektive den eigenen Stolz springen zu können, um sein Leben in eine bessere Richtung zu lenken. Natürlich wirkt "Who's That Knocking" wie etliche Einstandsfilme großer Regisseure noch sehr roh und ungeschliffen; Scorsese experiminetiert mit Dolly und Handicam, mit SloMos und scheinbar ungelenken Schwenks und macht aus seiner Beeinflussung durch die nouvelle vague alles andere als einen Hehl. Dennoch erkennt man hier unzweifelhaft das Potenzial eines der bedeutsamsten New Yorker Filmemacher.

8/10

New Hollywood Religion New York Martin Scorsese Ethnics


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TRIANGLE (Christopher Smith/UK, AU 2009)


"You're schizo!"

Triangle ~ UK/AU 2009
Directed By: Christopher Smith


Jess (Melissa George), überforderte Mutter eines kleinen autistischen Sohnes (Joshua McIvor), lässt sich von einem Bekannten (Michael Dorman) zu einem Segeltörn auf seiner Yacht 'Triangle' einladen, bei dem noch vier weitere Teilnehmer dabei sind. Während der anfangs sonnigen Fahrt gibt es eine urplötzliche Flaute, ein gewaltiges Unwetter zieht auf und die Triangle kentert. Eine der Mitfahrerinnen (Emma Lung) wird unbrettbar über Bord gespült. Nach einiger Zeit wird in der Ferne ein großer Oceanliner sichtbar, von dem man sich Rettung verspricht. Als die fünf Schiffbrüchigen diesen betreten, scheint er, mit Ausnahme einer im Hintergrund umherhuschenden Person menschenleer. Bloß warum hat Jess das untrügliche Gefühl, das alles schonmal erlebt zu haben?

Ein ganz nettes Verwirrspiel, das durchaus manche positive Aspekte in sich vereint, in mancherlei, vor allem logischer Hinsicht, aber auch sehr inkonsequent verfährt. Letzten Endes geht es darum, dass die bedauernswerte Jess in einer Zeitschleife gefangen ist, wie man sie aus "Groundhog Day" und "12:01" kennt. Allerdings ist unsere Protagonistin nur begrenzt, respektive zeitweilig in der Lage, ihre Situation zu durchschauen und aktiv zu beeinflussen, kann daher keinen Ausweg finden und bleibt somit hoffnungslose Gefangene ihres Zeittraumas. Möglicherweise ist sie auch selbst Autistin oder irgendwie andeweitig in psychische Mitleidenschaft gezogen und erlebt dieselben Ereignisse immer wieder bloß in ihrem Geiste. Entsprechende Hinweise darauf könnten aus dem narrativen Schema heraus gedeutet werden.
Dann allerdings werfen sich rasch ein paar evidente Fragen auf: Da Jess ein Opfer der Unendlichkeit geworden ist, dürften nicht mehr die physischen Relikte von vorherigen Ereignissen sichtbar sein (ein ausgesprochen dummer Fehler, den der Film auch noch mehrfach begeht); zudem sind die, zweifelsohne ausschließlich aus Gründen der Publikums-Irreführung eingeflochtenen Unregelmäßigkeiten in Jess' Verhalten, innerhalb des Realitätsgefüges des Films als kaum mehr denn blanker Blödsinn zu erachten. Smith verrennt sich selbst in seinem Bemühen, gleich mehrere verschiedene Jesses zur selben Zeit in Aktion treten zu zu lassen (was physikalisch betrachtet ohnehin als no go gilt) und lässt seinen ansonsten durchaus interessanten inhaltlichen Ansatz damit frontal vor die Wand rennen. Dass "Triangle" trotzdem recht spannend sowie von erlesener Form ist und seine mysteriöse Storyprämisse bis zu einem gewissen Gradmaß auch ordentlich ausfüllt, möchte ich allerdings nicht unerwähnt wissen. Sicherlich sehenswert für Freunde guter Unterhaltung, für ambitionierte Logiker oder Relativitätstheoretiker indes vermutlich eine veritable Tortur.

7/10

Zeitschleife Ozean Christopher Smith Seenot


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HELL IN THE PACIFIC (John Boorman/USA 1968)


"My log!"

Hell In The Pacific (Die Hölle sind wir) ~ USA 1968
Directed By: John Boorman


In den späteren Tagen des Zweiten Weltkriegs rettet sich ein abgeschossener USAF-Pilot (Lee Marvin) mit Mühe und Not auf ein kleines Pazifikeiland. Dieses wurde jedoch bereits von einem ebenfalls dort gestrandeten japanischen Offizier (Toshiro Mifune) in Beschlag genommen. Anfangs kommt es zu erbitterten Grabenkämpfen und gegenseitigen Erniedrigungen, doch je mehr die beiden situativ bedingten Todfeinde sich von der Zivilisiertheit entfernen, desto mehr vergessen sie ihre Rivalität. Als es ihnen schließlich gelingt, von der Insel zu entkommen und nach harter Kreuzfahrt auf eine größere, bevölkerte Insel zu gelangen, erweist sich ihre vorhergehende Annäherung als befristet.

"Merry Christmas Mr. Lawrence", in dem es ebenfalls (wenn auch um einiges differenzierter aufgearbeitet) um den unfassbaren Widerspruch zwischen der Mentalitätsspanne auf der einen und der Sympathieoption zwischen den Kriegsgegnern Japan und Abendland auf der anderen Seite geht, erinnerte mich an dieses knackige, eine finstere Situationskomik nicht scheuende Zwei-Personen-Kammerspiel von Boorman. Von Toshiro Mifune ist mir leider noch nicht ganz so viel bekannt, aber da ich mir sicher bin, Lee Marvin selten in einer besseren Performance gesehen zu haben, fühle ich mich geneigt, das Spiel des ebenfalls großartigen Mifune ganz in der Nähe einzuordnen. Unabhängig von dem brillanten Spiel der beiden bedaure ich, zusätzlich mit "Point Blank" im Hinterkopf, dass vom Duo Boorman/Marvin nicht mehr kam. Es scheint, als spornten sich beide gegenseitig zu intensivsten Leistungen an. Boorman entdeckt Natur und Grün für sich und erklärt die einsame Insel zum eigentlichen Gegner, angesichts dessen wesentlicher Feindseligkeit der politische Konflikt der beiden Antagonisten lächerlich unbedeutend scheint. Ein brillanter Vorgriff auf die Motivlage von "Deliverance".

9/10

Parabel WWII Pazifikkrieg John Boorman Groteske





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