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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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LA CADUTA DEGLI DEI (Lucchino Visconti/I, BRD 1969)


Zitat entfällt.

La Caduta Degli Dei (Die Verdammten) ~ I/BRD 1969
Directed By: Lucchino Visconti


Ruhrgebiet, 1933: Der wohlhabenden Stahldynastie Von Essenbeck stehen einschneidende Zäsuren bevor. In der Nacht des Reichstagsbrands am 27. Februar wird der betagte Patriarch Joachim (Albrecht Schönhals), der zuvor noch seinen Geburtstag im Familienkreise feierte, erschossen. Frederick Bruckmann (Dirk Bogarde), der zweite Ehemann von Joachims Tochter Sophie (Ingrid Thulin), begehrt das Familienerbe, während nominell zunächst Sophies Sohn Martin (Helmut Berger), ein soziopathischer Pädophiler, eingesetzt wird. Derweil vergnügt sich Sophies Bruder Konstantin (Reinhard Kolldehoff) bei der SA, bis er in Bad Wiessee von SS-Schergen erschossen wird. Der eingeheiratete Herbert Thallmann gilt, zumal seiner liberalen Mentalität wegen, als Hauptverdächtiger betreffs der Ermordung Joachims und wird schließlich von Cousin Aschenbach (Helmut Griem), Offizier bei der SS, zur Verhaftung gezwungen. Derweil tritt auch Martin in die SS ein und begrüßt als letzter der Von Essenbecks das neue Zeitalter mit einem Hitlergruß.

Der erste Teil von Viscontis "Deutscher Trilogie" formuliert bei denkbar opulentester Ausstattung das Dritte Reich als Hort der Opportunisten und Parvenüs, verwurzelt die Aufstiegsrolle der NSDAP bei vormaligen Großindustriellen und der inneren und äußeren Dekadenz zugeneigten Adelsfamilien, die notfalls zur Kooperation genötigt wurden. Visconti erzählt sein Sittengemälde in bravouröser Detailtreue, setzt große, historische Schlüsselszenen (darunter die ausführlich inszenierte "Nacht der langen Messer" in Wiessee, bei der Röhm verhaftet und fast die gesamte SA-Spitze vor Ort exekutiert wurde) kammerschauspielerischen Glanzlichtern gegenüber. Besonders Berger, bekanntermaßen Viscontis Muße und Lebensgefährte, überzeugt als halbwahnsinniger Paraphiler, dessen Wahn soweit reicht, dass er schließlich die eigene Mutter sexuell instrumentalisiert und kurz darauf ihren Selbstmord und den des Schwiegervaters willkommen heißt. Die SS - so der zwangsläufige Umkehrschluss - rekrutierte sich aus Bösewichten und Perversen. Anklänge an Mann und seine Familienchronik "Buddenbrooks" sind ebenso vorhanden wie kaum kodierte Parallelen zur Rolle der Familie Krupp am Vorabend des Dritten Reichs. Der Originaltitel, "Götterdämmerung", ist bei Wagner entlehnt. Eine überaus passende Allegorie.

9/10

period piece Historie Familie Nationalsozialismus Lucchino Visconti


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MONSIEUR VERDOUX (Charles Caplin/USA 1947)


"I shall see you all... very soon..."

Monsieur Verdoux ~ USA 1947
Directed By: Charles Chaplin


Nachdem die 29er-Wirtschaftskrise ihn finanziell in die Knie gezwungen hat, entschließt sich Henri Verdoux (Charles Chaplin) zum Einsatz ungestümerer Methoden, um Frau (Mady Correll) und Kind (Allison Roddan) durchzubringen: Er heiratet unter falschen Namen reiche, alleinstehende Damen und lässt sie in Kürze "verschwinden", um an das ihm nunmehr zustehende Erbteil zu kommen. Verdoux entwickelt seinen neuen "Beruf" zur Profession, bis ein neuerlicher ökonomischer Zusammenbruch ihn um all sein Erspartes bringt und seine Familie in Armut sterben lässt. Resigniert und bußewillig liefert sich Verdoux den Behörden aus, nicht jedoch, ohne ein gesalzenes Plädoyer vor der Verkündung seiner Todesstrafe abzugeben.

Eines der späten Meisterwerke Chaplins, leider ein in weniger bewanderten Kreisen, die mit dem großen Filmemacher immer wieder nur den Melonentramp oder bestenfalls den Hitler-Parodisten assoziieren, allzu unbekanntes. Wie beiläufig bringt Chaplin mit "Monsieur Verdoux" das Subgenre des Serienkiller-Films auf Kurs und tut dies auf eine so subtile, vorgeblich schmeichelhafte Weise, dass "Verdoux" zu den bösesten und abgründigsten Werken ebendieser Zunft gezählt werden muss. Nicht nur, dass dieser Henri Verdoux ein an Charme, Witz und Distinguiertheit kaum mehr übertreffbar scheinender Filou ist, dem jede unmenschliche Regung fremd sein muss, er hat auch ein großes Herz für die Armen und Benachteiligten. Verdoux sieht sich selbst bis zu seinem Ende keinesfalls als Verbrecher an der Menschlichkeit, sondern als Opfer der Umstände, das im Vergleich zu jenen, die gegenwärtig Massenvernichtungswaffen als Fortschrittsindizien konstruieren, ein Waisenknabe sein muss. Bei genauerer Betrachtung ist er das sogar - ein in seiner unbedarften Art liebenswerter, kleiner Mann mit großem Herzen, der lediglich den einen kleinen Fehler besitzt, dass er bereits vierzehn verprellte Ehefrauen "eingeschläfert" hat. Wie Chaplin uns, sein Publikum, mittels seines unschlagbaren gestalterischen Könnertums zu Sympathisanten und sogar Komplizen Verdoux' macht, das ist ein Ausbund an Geisteskraft, dem zu folgen ich nur jedem zuraten kann.

10/10

Schwarzer Freitag Serienmord Polygamie Charles Caplin WWII


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ILSA: SHE WOLF OF THE SS (Don Edmonds/USA, BRD 1974)


"Highly interesting experiments. The Führer needs innovation like that."

Ilsa: She Wolf Of The SS ~ USA/BRD 1974
Directed By: Don Edmonds


SS-Offizierin Ilsa (Dyanne Thorne) kommandiert während der späten Tage des Zweiten Weltkriegs ein der medizinischen Forschung dienendes Gefangenenlager. Während Ilsa sich allenthalben standfeste Männer aus ihrem Kerker holt, die sie sexuell zu befriedigen haben, führt sie grauenhafte Belastbarkeitsexperimente mit Krankheitskeimen und Schmerztoleranz durch, die beweisen sollen, dass die Leidensfähigkeit von Frauen höher ist als die von Männern. Die in einer wilden Orgie endende Lagerinspizierung eines Generals (Wolfgang Roehm) nimmt ein wackerer amerikanischer Insasse (Gregory Knoph) schließlich zum Anlass für eine Gefangenenrevolte.

Sie kommt viel herum in der Welt, besitzt einen formidablen Busen und keinen Nachnamen: Ilsa, der Inbegriff weiblichen Sadismus' und ungezügelter Abartigkeiten. Obgleich sie sich hüten würde, einmal nicht wie aus dem Ei gepellt anzutreten, ist ihr Inneres geprägt von den denkbar schmutzigsten Phantasien, die sie in drei (wenn man Francos "Wicked Warden" hinzuzählt, sogar vier) Inkarnationen an globalen Schauplätzen, die Menschenteufel wie ihrer bedürfen, antreten ließ.
Einen gewissen Legendenstatus kann man dem Initialschuss "Ilsa: She Wolf Of The SS" wohl nicht absprechen. Ich hörte zum ersten Mal in den frühen Neunzigern mit vierzehn, fünfzehn Jahren davon, als der Nachbar eines Freundes, übrigens ein ansonsten übler Patron, damit prahlte, er besäße diesen Film auf Video und würde ihn nie freiwillig ausleihen, das gute Stück wäre nämlich verboten und er habe nun Angst vor Entdeckung. Als ich dann alt genug war und sich eigene Quellen auftaten, wurde nebst vielem anderen auch eine holländische Cassette des ersten "Ilsa"-Films aufgetan und alle Mythen schienen sich zu bewahrheiten: Das war widerlichster, zudem politisch fragwürdiger Pervesenfang! Im Laufe der Jahre entdeckte ich dann bei den Folgesichtungen das komödiantische Potenzial der Mär und fand den Film zunehmend komisch - erfrischend, wie sture Protesthaltungen sich mit der Zeit relativieren. Das einzig Prekäre an "She Wolf" ist natürlich seine zeitliche und lokale Ansiedlung, ansonsten ist er ein Exploiter, wie er im Buche steht, bemüht um blood'n tits, was er jeweils in Hülle und Fülle einreicht und versehen mit ein paar ziemlich kranken Einfällen, die gemessen an der Realität aber wohl ohnehin verblassen, zumal angesichts ihrer teils putzigen Visualisierung. In seiner Kompromisslosigkeit ist "She Wolf" nach wie vor beeindruckend und ringt seinen Erstbetrachtern immer noch einen unübersehbaren Widerwillen ab (ich beobachte das mit schöner Regelmäßigkeit); doch möchte ich ihm gar nicht absprechen zu sein, was er eben geworden ist: Ein ruchloser Klassiker.

6/10

WWII Ilsa-Reihe Independent torture porn Don Edmonds Transgression Exploitation Skandalfilm Naziploitation POW


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MAX MANUS (Joachim Rønning, Espen Sandberg/NO, DK, D 2008)


Zitat entfällt.

Max Manus ~ NO/DK/D 2008
Directed By: Joachim Rønning/Espen Sandberg


Norwegen, 1940: Nachdem der Soldat Max Manus (Aksel Hennie) im finnischen Winterkrieg gegen Stalins Truppen gekämpft hat, stellt er, zurück in der Heimat, mit Entsetzen fest, dass die Deutschen dabei sind, das Land zu anektieren. Manbus entwickelt sich rasch zu einem glühenden Widerständler, der nach der Herausgabe eines Untergrundblatts und einer Ausbildung zum Guerillakämpfer in Schottland auch beginnt, aktiv gegen die Besatzer vorzugehen; mittels der Produktion und Verteilung von Waffen und schweren Sabotageakten gegen deutsche Kriegsschiffe. Es gelingt den Widersachern nie, Manus zu fassen, dafür müssen fast alle seine Freunde das Zeitliche segnen, was Manus in die Verzweiflung treibt.

Widerstandsgeschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs halte ich für grundsätzlich sehenswert, nicht nur ihrer zeitlichen Einbindung und politischen Substanz wegen, sondern auch, weil sie im Regelfall den Vorteil mitbringen, spannendes Entertainment zu liefern. Der skandinavische Widerstand wurde erst vor kurzem für das Kino entdeckt und brachte neben dem hervorragenden "Flammen & Citronen", der sich mit zwei dänischen Rebellen befasste, auch "Max Manus" hervor, den man für seine DVD-Veröffentlichung um den grellen und etwas beliebigen Übertitel "Man Of War" ergänzt hat. "Max Manus", der wie "Flammen & Citronen" von deutschen Investoren kofinanziert wurde, müht sich nicht nur um Authentizität, sondern zudem um eine formal zeitgenössische Aufbereitung, die seine Geschichte von drögem Geschichtsunterricht emanzipieren und für junge Zuschauer sehenswert machen soll - dazu gehören übliche Mittel wie eine hohe Schnittfrequenz und der hauptsächliche Einsatz von Handicams in Verbindung mit bonbonfarbenen Bildern. Dass der stressgeplagte Alltag Manus', der in ständiger Angst vor Entdeckung stand und dem teils übermächtig scheinende Fügungen das eine ums andere Mal das Leben retteten, genau diese Formalia impliziert, ist wohl das Glück der Tüchtigen.

8/10

Norwegen Nationalsozialismus Espen Sandberg Joachim Roenning WWII Widerstand


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THE AVIATOR (Martin Scorsese/USA 2004)


"The way of the future."

The Aviator ~ USA 2004
Directed By: Martin Scorsese


Runde zwanzig Jahre im Leben des exzentrischen Großkapitalisten, Flugpioniers, Filmproduzenten, Frauenhelden und Zwangsneurotikers Howard Hughes (Leonardo DiCaprio), von der besessenen Arbeit an seinem im Nachhinein respektierten Kriegsfilm "Hell's Angels" über seine Affären mit u.a. Katharine Hepburn (Cate Blanchett), Faith Domergue (Kelli Garner) und Ava Gardner (Kate Beckinsale) und den Bau des Luftschiffs 'Hercules' bis hin zum erfolgreichen Widerstand gegen das Transatlantik-Luftmonopol der PanAm.

Wer Biopics über ambivalente Charaktere zwischen Heldenverehrung und Denunziantentum liebt, kommt an "The Aviator" nicht vorbei; diesem wie lässig aus dem Ärmel geschüttelt wirkenden, schmerzhaft perfekt inszenierten Film über die schillernde Gestalt dieses einmaligen Egozentrikers. Unterstützt von bonbonfarbenen Bildern, die das alte Vierziger- und Fünfziger-Technicolor nachzuahmen probieren, einer wie stets bei Scorsese exquisiten, detailversessenen Ausstattung und brillantem cast support bewerkstelligt DiCaprio es endgültig, sich von seinem schelmhaften Lausbuben-Image zu lösen und sich als Schauspieler von Weltformat zu emanzipieren. Zwar ruft das alles aus jeder Pore nach Oscar, dies aber durchaus berechtigterweise - die Mühe und Qualität einer solch vollkommenen Arbeit hätte sogar durchaus noch reichhaltiger belohnt werden dürfen.
Für Scorseses Oeuvre indes ist "The Aviator" sicher von hohem Bedeutungsrang, keinesfalls jedoch ein weiterer Quantensprung. Doch gilt das eigentlich für all seine Filme nach "Goodfellas". Die Frage ist, ob er es überhaupt noch nötig hat, sich und der Welt noch etwas zu beweisen angesichts von regelmäßig fertiggestellten Arbeiten, die andere schon ob ihrer schieren formalen Hochklassigkeit zu Staube kriechen lassen. Mögen davon noch einige folgen, ich halte mich bereit. Demnächst dann in diesem Theater: "Shutter Island" (und ein paar weitere Nachzockler...).

9/10

Martin Scorsese Biopic Howard Hughes Hollywood Los Angeles Fliegerei Madness Historie period piece


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GANGS OF NEW YORK (Martin Scorsese/USA, I 2002)


"Civilization is crumbling."

Gangs Of New York ~ USA/I 2003
Directed By: Martin Scorsese


New York, 1863: Sechzehn Jahre, nachdem sein Vater Priest (Liam Neeson) von dem verfeindeten Bandenchef Bill "The Butcher" Cutting (Daniel Day-Lewis) getötet wurde, kehrt Amsterdam Vallon (Leonardo Di Caprio) in sein altes Viertel Five Points zurück. Während Amsterdam durch den unbändigen Gedanken an Blutrache angetrieben wird und plant, mittelfristig einen Mordanschlag auf Bill zu verüben, wütet im Süden der Sezessionskrieg und es erreicht ein Strom irischer Emigranten die Stadt.

Für sein ganz in der Tradition klassischer intraamerikanischer Historienepen von "The Big Trail" bis "Heaven's Gate" stehendes Herzenswerk versicherte sich Scorsese, natürlich im besten Bewusstsein um die traditionelle Ungnade kritischer Geschichtsbetrachtungen, der Unterstützung der Weinsteinschen Miramax, die sich dann allerdings in den Endschnitt einmischte und dafür sorgte, dass die Ursprungsfassung des Regisseurs um eine Stunde heruntergekürzt werden musste. Zwar wirkt das Resultat noch immer homogen und rund, dennoch stirbt, wie immer in solchen Fällen, die Hoffnung auf einen irgendwann doch noch erscheinenden director's cut zuletzt.
"Gangs Of New York" ist ein Film, der es versteht, analog zur Anzahl seiner Betrachtungen zu wachsen. Als ich ihn erstmalig im Kino gesehen habe, erschien mir die partiell ausgesprochen detaillierte Narration eher ermüdend und ich hätte mir gewünscht, dass Scorsese mehr Mut zu monumentaler Schlachtenepik hat, wie man ihrer noch in den ersten Szenen des Films ansichtig wird. Nachdem ich "Gangs" nun mittlerweile zum dritten oder vierten Mal gesehen habe, erscheint mir vieles klarer, strukturierter, flüssiger. Das nachgebaute Set um die Five Points wirkte heuer auf mich wie eine begehbare, ehrfurchtgebietend-gigantische Theaterkulisse, mit einem wahrhaft monströsen Day-Lewis als ihrem obersten König. Selbst Di Caprio, dessen bitter schmeckender ""Titanic"-Anti-Bonus" als milchgesichtiger Romantikheld nunmehr endlich aufgebraucht scheint, kam mir lang nicht mehr so unappetitlich vor wie früher. Scorsese ist sogar Manns genug, sich als Inszenator des Spektakels im Gegensatz zu sonst stark im Hintergrund zu halten und sich ganz auf den emotionalen Einschlag seiner spannenden Geschichtsstunde zu verlassen. Die finale Montage des sich androhenden Konflikts zwischen den 'Natives' und den 'Dead Rabbits', die parallel gesetzt ist zum brutal niedergeschlagenen Bürgeraufstand gegen die neuen Wehrpflichtgesetze, gehört schließlich zum Besten, was das ganze letzte Jahrzehnt an großen Filmmomenten vorzuweisen hat.
Ich bin noch immer ein bisschen des Atems beraubt.

9/10

Historie period piece Sezessionskrieg Martin Scorsese Gangs New York


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BRINGING OUT THE DEAD (Martin Scorsese/USA 1999)


"No one asked you to suffer. That was your idea."

Bringing Out The Dead ~ USA 1999
Directed By: Martin Scorsese


Seit der New Yorker Notsanitäter Frank Pierce (Nicolas Cage) den Tod eines jungen Mädchens (Cynthia Roman) nicht verhindern konnte, leidet er unter einem schweren emotionalen Trauma. Nahezu jeder Einsatz scheint seither schief zu laufen. Erschwerend hinzu kommen seine ebenfalls mehr oder weniger nachhaltig gestörten, wechselnden Partner (John Goodman, Ving Rhames, Tom Sizemore). Eine außerplanmäßige Dreifach-Nachtschicht, in deren Mittelpunkt die junge Ex-Fixerin Mary Burke (Patricia Arquette) steht, bringt Frank endgültig an seine psychischen und körperlichen Grenzen.

Scriptautor Paul Schrader bezeichnet "Bringing Out The Dead" nach "Taxi Driver" und "Light Sleeper" als letzten Teil einer Trilogie um einsame Gestalten auf Erlösungssuche inmitten des Manhattaner Nachtlebens. Tatsächlich macht diese Kategorisierung durchaus Sinn, schon in Anbetracht der engen stilistischen und thematischen Verwandtschaft aller drei Werke. In "Bringing Out The Dead" wird man erneut jener entfesselten Metropole kurz vor dem Kollaps ansichtig. Der Film enthält wie seine vielen großen "Parallelwerke", zu denen ich ohne Umschweife auch die von Abel Ferrara zählen möchte, keine einzige Figur ohne seelische Narben, geschweige denn, dass sie auch nur gegenwärtig als psychisch gesund einzustufen sei. Unter seinen verrückten Mitarbeitern, man könnte sie auch ganz kryptisch als "Mitreisende" bezeichnen (deren individuelle Obsessionen von sturer Gleichgültigkeit über patholoische Hybris bis hin zu echter Schizophrenie reichen), erweist sich Frank Pierce als Verlorener, dessen hehres Retterideal einen tiefen Riss bekommen hat, den es nunmehr zu kitten gilt, soll Frank nicht selbst zur Gänze vor die Hunde gehen. Scorsese inszeniert seine nachtschwarzen Höllenfahrten als Panoptikum des urbanen Irrsinns, dessen vier Himmelsrichtungen sich als Egozentrik, Drogensucht, Depression und Einsamkeit präsentieren. Durchzogen wird die Geschichte wiederum von zahlreichen christlichen Motiven, darunter einem sich selbst zum Heilsbringer stilisierenden Dealer mit "Dorn" in der Seite oder einer angeblich unbefleckten Jungfrau, die Zwillinge gebärt. Allerdings gibt es auch klare liberale Statements, etwa pro Sterbehilfe.
Formal haut Scorsese hier nach dem stillen "Kundun" wieder alles raus, was seine Kreativität hergibt: Er experimentiert mit Farbfiltern, halsbrecherischen Perspektiven, Zeitraffern und bedient sich einer ganzen Palette großartiger Songs, die "Bringing Out The Dead" den finalen Schliff verleihen. Großartiger Film!

9/10

Groteske Martin Scorsese Insomnie New York Drogen Nacht Paul Schrader Rettungsdienst


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KUNDUN (Martin Scorsese/USA 1997)


"They have taken away our silence."

Kundun ~ USA 1997
Directed by. Martin Scorsese


Tibet, 1937: Ein Gesandter (Tenzin Lodoe) findet in Tenzin Gyatsho (Tenzin Yeshi Paichang), dem jüngsten Sohn einer Bauernfamilie, die 14. Inkanation des Dalai Lama. Die Präsentation einiger Besitztümer seines Vorgängers, die der Kleine als die eigenen erkennt, beweist: Dies ist der wiedergeborene Kundun. Der Junge geht nach Lhasa, wo er in den Lehren Buddhas unterwiesen wird. Als Erwachsener (Tenzin Thuthob Tsarong) muss sich der Dalai Lama mit Mao (Robert Lin) herumschlagen, der Tibet kurzerhand mit Gewalt annektiert und ihn zur Landesflucht zwingt.

Wer mich kennt, weiß nur zu gut, dass ich mit jedweder Form von religiöser Spiritualität meine liebe Not habe und es mir schwer fällt, mich auf entsprechende Diskurse einzulassen. Nicht anders geht es mir mit "Kundun", den ich, neben der Tatsache, dass er eben unerlässlicher Bestandteil einer Scorsese-Werkschau ist, dennoch aus zwei Gründen als sehenswert erachte: Zum einen erinnert er mich in diversen strukturellen Aspekten an Bertoluccis wunderbaren "The Last Emperor", zum anderen umreißt er eindrucksvoll die nach wie vor existente, ungeheure politische Problematik des unfreien Tibet. Mit der Unterstützung von Philip Glass' hypnotischem Score bemüht sich Scorsese um eine spirituell gründende Transzendenz, in die ich jedoch nicht einzutauchen vermag. Was ich hingegen gern und als profitabel aus "Kundun" mitnehme, sind seine kunstvolle, anschmiegsame Photographie sowie die Option zu zwei Stunden besinnlichem, entspannenden Kino.
Ansonsten gehen mir Heilsbringergeschichten, besonders, wenn sie sich als so ernst, seriös und ambitioniert versteht wie die vorliegende und perspektivische Schlenker wie "The Last Temptation" aussparen, nach wie vor gelinde gesagt am Arsch vorbei.

6/10

Historie Tibet China Dalai Lama Biopic Martin Scorsese


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THE AGE OF INNOCENCE (Martin Scorsese/USA 1993)


"I gave up arguing with young people 50 years ago."

The Age Of Innocence (Die Zeit der Unschuld) ~ USA 1993
Directed by: Martin Scorsese


New York, 1870: Newland Archer (Daniel Day-Lewis), aufstrebender Jungjurist und Mitglied von Manhattans feiner Gesellschaft, soll in Bälde die ebenso reizende wie oberflächliche May Welland (Winona Ryder) ehelichen. Als Mays Cousine Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer), die in Europa einen polnischen Adligen geheiratet hat, frustriert von ihrer einem Kerker gleichenden Ehe in die Staaten zurückkehrt, verliebt sich Newland Hals über Kopf in sie. Die Emanzipiertheit und sittliche Reife Ellens ziehen ihn unweigerlich in ihren Bann. Um ihr und sich jedoch einen untragbaren Skandal zu ersparen, begeht er sein weiteres Leben planungsgemäß.

Den ungewöhnlichen Beweis dafür, dass kineastische Sittengemälde respektive Kostümfilme nicht ausschließlich auf europäischem Boden gedeihen müssen, trat Scorsese mit dieser Wharton-Adaption an, die ihm wohl vor allem deshalb sehr zupass kam, weil sie eben ausnahmsweise einmal nicht in einer englischen Grafschaft oder in der Provinz um Paris angesiedelt ist. Mit dem Schauplatz New York verbindet man diese Art Rührstück unwillkürlich wohl kaum, zumindest mir geht es so. Dass die vordergründig unkonventionelle Mixtur am Ende dennoch ihren großzügigen Geschmack entfalten kann, verdankt sie mehreren entscheidenden Faktoren. Da wären zunächst die an Pracht und Authentizität nicht zu überbietenden Interieurs und Originalrequisiten zu nennen, die jede einzelne von Michael Ballhaus' breiten Einstellungen zu einer veritablen Augenweide gedeihen lassen, die wahrhaft anbetungswürdigen Darsteller, welche dem kritisch beäugten Sozialabriss zusätzliche Plastizität abringen und unter denen sich neben den Genannten noch bravouröse Zunftvertreter wie Michael Gough, Miriam Margolyes oder Jonathan Pryce einfinden, sowie ganz besonders die mittels ihres lyrischen, warmen Tonfalls gefangennehmenden Voice-Over-Erzählstimme von Joanne Woodward.
Zusammengefasst erhält man das, was es eigentlich gar nicht gibt - einen Anti-Scorsese, der zwar gescheiterte Lebensentwürfe und Enttäuschungen von biographischer Tragweite thematisiert, jedoch bestenfalls im stillen Kämmerlein schockiert und jedem Stolperstein grellen Naturalismus' großzügig ausweicht.
Film als edel verziertes, bequemes Brokatkissen.

8/10

Martin Scorsese period piece New York Fin de Siècle Sittengemaelde Historie


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THE LAST TEMPTATION OF CHRIST (Martin Scorsese/USA 1988)


"It is accomplished!"

The Last Temptation Of Christ (Die letzte Versuchung Christi) ~ USA 1988
Directed By: Martin Scorsese


Jesus von Nazareth (Willem Dafoe) weiß tief in seinem Inneren längst, dass er Gottes Botschafter auf Erden ist, er zweifelt jedoch und wehrt sich mit aller Macht gegen seinen himmlischen Auftrag. Als er schließlich doch seinen Weg gemacht hat und von Pilatus gekreuzigt auf den Tod wartet, sucht Satan ihn ein letztes Mal zu verführen, indem er ihm die Erfüllung seines sehnlichsten Wunschtraums verheißt: Eine Existenz als einfacher Zimmermann mit Familie.

Scorsese und Paul Schrader, von dem abermals das Script zu diesem von langer Hand geplanten und bereits verloren geglaubten Wunschprojekt des Regisseurs stammt, gelten beide stets als hochmotiviert, wenn es um katechistische Diskurse und Fragen geht - umso naheliegender ihr Engagement bezüglich der Adaption von Kazantzakis' Roman. Der hier vorgestellte Christus ist weit entfernt von seinen bislang im Film geführten, bald ätherischen Interpretationen durch Hunter oder von Sydow; ein großer Zweifler ist er, durch und durch menschlich, voller Fehler und Ängste. Die Dualität zwischen dem Botschafter von Gottes Gnaden und dabei nach wie vor irdischen Wesen interessiere ihn, verkündete Kazantzakis. Sein Jesus droht sich in der höchst irdischen Liebe zu einer Frau (Barbara Hershey) zu verlieren, baut Holzkreuze für die römischen Besatzer, um Gott gegen sich aufzubringen, schreit seinen inneren und äußeren Schmerz ungeniert hinaus in die Welt und ist auch sonst höchst gefährdet, in seiner Mission zu scheitern. Dass er am Ende doch noch über all diese seine Schwächen triumphiert, macht ihn selbstverständlich umso göttlicher und achtenswerter. Entsprechend kurzsichtig, blamabel und überflüssig die zahlreichen Proteste diverser Erzkleriker, die einen Kinoeinsatz des Films seinerzeit zu verhindern suchten.
Der Stein des Anstoßes ist erwartungsgemäß sehenswert und neben Rays ganz schönem "King Of Kings" wohl immer noch der einzige mir geläufige, respektable Versuch einer filmischen Christus-Biographie. Wohltuend gewürzt mit ein wenig mutigem Eklektizismus (der Score etwa stammt von Peter Gabriel und ist zeitweise starg popbeeinflusst) und natürlich getragen von phantastischen Schauspielern ist mir dieser Ansatz jedenfalls hundertmal lieber als ein solch grausig-zermürbender wie im Falle "The Greatest Story Ever Told".

8/10

period piece Biopic Jesus Christus Paul Schrader Historie Bibel Martin Scorsese Skandalfilm





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Funxton

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