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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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FIVE EASY PIECES (Bob Rafelson/USA 1970)


"Give up! Give up!"

Five Easy Pieces (Ein Mann sucht sich selbst) ~ USA 1970
Directed By: Bob Rafelson


Der aus einer Musikerfamilie stammende Robert Duprea (Jack Nicholson) lehnt grundweg ab, was seine bourgeoise Herkunft für ihn repräsentiert: Standesdünkel, Arroganz und Pflichtbewusstsein den häuslichen Gewohnheiten gegenüber. Viel lieber möchte er eigene Erfahrungen fürs Leben sammeln, betätigt sich als Arbeiter auf einem Ölfeld und verkehrt mit Menschen, die seine Familie auf der Straße keines Blickes würdigte. Als Bob erfährt, dass sein Vater (William Challee) bereits den zweiten Schlaganfall erlitten hat, reist er mit seiner etwas unterbelichteten Freundin Rayette (Karen Black) nach Oregon, um sich im elterlichen Hause zumindest einmal blicken zu lassen. Als er dort die Freundin (Susan Anspach) seines älteren Bruders (Ralph Waite) kennenlernt, wittert er die Chance auf einen Richtungswechsel, doch diese bleibt unerfüllt.

"Five Easy Pieces" bedeutete für Jack Nicholson einen richtungsweisenden Karriereschritt. Nachdem er in diversen Corman-Produktionen und Bikerfilmen aufgetreten war, zweimal mit Monte Hellman gedreht und durch seinen Part als George Hanson in Hoppers "Easy Rider" bereits entscheidend die neue Windrichtung im amerikanischen Film miteingeleitet hatte, gab er hier erstmals einen Part für ihn, der weder ein besonders exaltiertes Auftreten, noch einen sonstwie von der Mitte abweichenden Gestus erforderlich machte. Auch wenn er dies nur allzu gern verhehlt: George Duprea (sein zweiter Vorname 'Eroica' markiert wie bei seinen Geschwistern Carl Fidelio und Partita (Lois Smith) die bedingungslose Hingabe der Eltern bzw. des Vaters an die Musik im Allgemeinen und Beethoven im Speziellen) kommt aus bildungsbürgerlich-steifem Hause, was seinerseits eine stille Rebellion unabdingbar macht. Da sich diese jedoch bis auf wenige Ausbrüche auf das Inwendige beschränkt, musste Nicholson, der hiermit quasi 'entdeckt' wurde, seinen inner struggle glaubhaft nach außen transportieren, was er auf das Bravouröseste bewerkstelligt. Wie es sich für New Hollywood gehört, gibt es eine ganze Latte seltsamen, dabei aus dem Leben gegriffenen Personals; besonders die zwei neurotischen Lesbierinnen (Helena Kallianiotes, Toni Basil), die Bob und Ray ein Stück ihres Weges begleiten, dürften denkwürdig sein. Und: "Five Easy Pieces" demonstriert weiterhin eindringlichst, was 'auteurism' meint und bedeutet, auch wenn das Script nicht vom Regisseur stammt.

9/10

Bob Rafelson New Hollywood Road Movie


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DIE BLECHTROMMEL (Volker Schlöndorff/BRD, F, PL, YU 1979)


"Es war einmal ein Land, in dem glaubten die Menschen an den Weihnachtsmann. Doch dieser Weihnachtsmann war in Wirklichkeit... der Gasmann!"

Die Blechtrommel ~ BRD/F/PL/YU 1979
Directed By: Volker Schlöndorff


Wie der kleine Halbkaschube Oskar Matzerath (David Bennent) 1924 das Licht der Danziger Welt in Gestalt einer 60-Watt-Glühbirne erblickt, mit drei Jahren die erste von einer Legion roteiß lackierter Blechtrommeln erhält, sich aufgrund der verlogenen Welt der Großen weigert, weiterzuwachsen, seine spezifische Gabe des Glaszersingens entdeckt, wie er später die Tode seiner Mutter (Agnes Winkler), seines Onkels (Daniel Olbrychski) und später seines nominellen Vaters (Mario Adorf) provoziert, dem Aufmarsch der Nazis entgegentrommelt, mit einer aus Zwergen und Liliputanern bestehenden Fronttheatertruppe der Euthanasie entgeht und später, nach dem Sieg der Alliierten, ins Rheinland vertrieben wird.

"Die Blechtrommel" ist vermutlich eines der hervorstechendsten Beispiele dafür, wie Weltliteratur in Film zu transferieren ist, ohne den Geist der Vorlage zu verkaufen. Für mich, der ich das Glück hatte, Schlöndorffs opus magnum nie als Schulprogramm aufoktroyiert bekommen zu haben, sondern ihn im mittleren Jugendalter selbst entdecken zu können, außerdem einer der mit großem Abschlag besten deutschen Filme. Es ist ja Grass zu verdanken, dass er - übrigens in angemessen knappem zeitlichen Abstand - die Schrecken der Nazidiktatur in eine grimmige Humoreske eingeschlagen und sie durch die Augen eines seltsamen, in gewisser Weise fast unirdischen Kindes sehen und kommentieren zu lassen. Oskar Matzerath, Größenwahnsinniger und zynischer Observierer von diabolischer Vitalität. Da geht es nicht nur um blindes Mitläufertum, auch um Vaterschaftslügen - und in fortgesetzter Generation. Seine drei Eltern werden allesamt bestraft: Zwei für ihren Betrug am Ehevertrag, der letzte dafür, dass er ein Führerporträt dort platzierte, wo zuvor ein Stieler-Gemäldedruck von Beethoven hing.
Auch wenn er sonst nach eigener Aussage mit "Director's Cuts" nichts am Hut hat, fügte Schlöndorff in diesem einen Fall nach sorgfältigem Abwägen verloren scheinende Szenen wieder ein. Dem Film tut es gut; endlich sieht man die Himmelfahrt der abgeschossenen Nonnen von Lisieux am Normandiestrand oder die fehlenden Momente mit dem jüdischen Aufkäufer Fajngold (Wojciech Pszoniak). Auch Matzeraths späte Kleinstrebellion gegen die Partei, die "dat Oskarchen" in eines ihrer speziellen Krankenhäuser verfachten will, kann nunmehr bewundert werden.

10/10

Parabel Director's Cut Zwerg Biopic WWII Volker Schloendorff Nationalsozialismus Skandalfilm Guenter Grass Groteske


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EASY RIDER (Dennis Hopper/USA 1969)


"You know Billy, we blew it."

Easy Rider ~ USA 1967
Directed By: Dennis Hopper


Nachdem Billy (Dennis Hopper) und Wyatt (Peter Fonda) einen gewinnträchtigen Koksdeal über die Bühne gebracht haben, machen sie sich mit ihren Choppern von L.A. nach Florida auf, wo sie die Kohle verprassen wollen. Unterwegs rasten sie in einer Hippiekommune, landen in einem Nest im Mittelwesten wegen unerlaubter Teilnahme an einer Parade im Knast, lernen dort den Anwalt George Hanson (Jack Nicholson) kennen und nehmen ihn mit zum Mardi Gras nach New Orleans. Bevor sie jedoch dort ankommen können, wird George nächtens von einer Gruppe reaktionärer Rednecks totgeschlagen. Tief geschockt nehmen sich Billy und Wyatt zwei Huren (Karen Black, Toni Basil) aus einem von George empfohlenen Bordell und gehen mit ihnen zusammen auf einem Friedhof auf einen transzendenten Acidtrip. Auf der Weiterreise werden auch sie grundlos von Hillbillys ermordet.

Als 'easy ride' bezeichnet man im Süden der USA eine Freinummer im Puff; der Scriptautor Peter Fonda meinte zur Titelklärung im Rolling Stone, dass die Freiheit selbst längst zu einer Hure verkommen wäre und alle nurmehr scharf seien auf einen flotten 'easy ride' mit ihr.
"Easy Rider" ist nicht nur ein absolut großartiger Film, er markiert auch kinohistorisch betrachtet einen unverzichtbaren Meilenstein. Nach seiner Betrachtung, die mich stets gleichermaßen euphorisiert und niedergeschlagen zurücklässt, frage ich mich jedesmal, wie um Himmels Willen ein solches Werk - verschroben, drogenverherrlichend und die gesamte Landeskultur leidenschaftlich denunzierend - von einem alteingesessenen Hollywood-Studio produziert und verliehen werden konnte. Vorher waren derartige Filme bestenfalls Sache kleiner Schmutzfinken wie Corman oder Jim Nicholson und Sam Arkoff von AIP gewesen und wurden hübsch publikumswirksam eingerahmt, mitsamt erhobenem Zeigefinger, obligatorischem Outlawgestus und Drogenwarnungen, so dass die "reckless youth" möglichst nicht selbst auf dumme Gedanken kam nach dem Besuch im Drive-In-Kino.
Hier jedoch war er, der Film, der endgültig alles umgestoßen hat, der Film, in dem die Bill of Rights zur Zielscheibe einer abgesägten Schrotflinte verkommt. Am Anfang kauft ausgerechnet Phil Spector den Jungs ihr mexikanisches Dope ab und anschließend geht's weiter mit Steppenwolf. Die Tore zur Wüste stehen offen. Dann: Erste Einblicke in beschränkte Freiheiten; Stadtflucht im großen Stil, weil "alle Städte gleich sind". Immer grausiger wird die Reise ins modrige Herz Amerikas. Rassistische, beschränkte Cops und inzestuös verblödete Einwohner als verblassende Relikte des alten Südstaatenadels, die der mittlerweile und nur kurzfristig zum Trio erwachsenen Gruppe blanken Hass und pure Aggression entgenschleudert. Schließlich der LSD-Trip als ultimative Brücke zur Wahrheitsfindung: "We blew it" - just before finally they themselves are blown.
Don't bogart that film, my friend - pass it over to me.

10/10

Bordell LSD New Orleans Südstaaten New Hollywood Marihuana Drogen Road Movie Dennis Hopper


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THE VERDICT (Sidney Lumet/USA 1982)


"Welcome back."

The Verdict ~ USA 1982
Directed By: Sidney Lumet


Nachdem der Bostoner Anwalt Frank Galvin (Paul Newman) die Korrumpiertheit seiner Kompagnons zur Kenntnis nehmen musste, verfällt er dem Alkohol und lebt fortan in der Vergangenheit. Mit lauen Schadensersatzklagen hält er sich eher schlecht als recht über Wasser. Ein letzter Strohhalm bietet sich ihm, als sein Freund und Mentor Mickey Morrissey (Jack Warden) ihm ein neues Mandat zuschustert. Frank soll die Interessen des jungen Ehepaars Doneghy vertreten. Die Schwester der Frau (Roxanne Hart) liegt aufgrund eines Anästhesiefehlers bei ihrer Entbindung im Dauerkoma, das Kind ist tot. Die behandelnden, überaus renommierten Ärzte (u.a. Wesley Addy) arbeiten für ein Krankenhaus der Erzdiözese, die Frank ein Vergleichsangebot macht. Dieser jedoch lehnt ohne Zustimmung seiner Mandanten ab und führt den Fall vor Gericht.

Brillantes Dialogkino, wie es besser kaum sein kann und eines der Juwelen in der lumet'schen Schaffenskrone. Seine wahre Substanz verdankt der Film allerdings David Mamets mustergültigem Script, das zunächst ohne das titelgebende Urteil auskommen musste und mit Frank Galvins leidenschaftlichem Schlussplädoyer schloss. Erst auf das verständnislose Einlenken der Produzenten Zanuck und Brown schob Mamet das verhältnismäßig konventionelle Finale hinterher. Für Paul Newman bedeutete der Part des verlorenen Anwalts einen der dankbarsten seiner gesamten Laufbahn. Das von ihm vorgestellte Porträt eines Alkoholikers ist von selten gesehener Wahrhaftigkeit. Stets bewaffnet mit Atemspray und Augentropfen und bemüht darum, ein längst nicht mehr existentes Bild aufrecht zu erhalten, taumelt Galvin zwischen Tresen, Flipperspiel und Anwaltstisch umher. Wie die Geschichte sich dabei, ohne den Fehler, verlogene Konsequenzenzieherei zu verkaufen, ganz dicht an ihm entlang entwickelt und uns Zeugen dabei werden lässt, wie Galvins altes Feuer vielleicht zum letzten Mal entfacht, das hat Weltformat. Ein in ausnahmslos jeder Hinsicht exorbitantes Werk.

10/10

David Mamet Sidney Lumet Courtroom Alkohol


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SRPSKI FILM (Srdjan Spasojevic/CS 2010)


Zitat entfällt.

Srpski Film (A Serbian Film) ~ CS 2010
Directed By: Srdjan Spasojevic


Um seine Familie finanziell absichern zu können, geht der für seine Standhaftigkeit berühmte Ex-Pornodarsteller Miloš (Srdjan Todorovic) auf das so verlockende wie seltsame Angebot des offenbar wohlhabenden Vukmir (Sergej Trifunovic) ein: Einen pornographischen Film auf höchster Kunstebene will dieser schaffen; einen, der nichts weniger abbilden soll als das Leben selbst. Ein Exposé oder gar Script existiert nicht, der etwas misstrauische Miloš nimmt angesichts der ihm in Aussicht gestellten, astronomischen Gage jedoch trotzdem an. Schon nach den ersten paar Drehtagen entdeckt Miloš, dass er einem gefährlichen Psychopathen aufgesessen ist und will kündigen - doch der Teufel besteht nunmal auf die gänzliche Erfüllung mit ihm abgeschlossener Verträge...

"Srpski Film" ist eines der leuchtendsten Beispiele für bakterielles - Verzeihung - virales Internet-Marketing der unfreiwilligen Sorte, auf dass ich (ich muss es zähneknirschend zugeben) selbst ziemlich entflammt ansprang und es nun mit dem vorliegenden Bericht fortpflanze. Empört und entsetzt viele Aussagen betreffs des Films - eine Wichsvorlage für Perverse sei er, die am besten aus dem Verkehr gezogen gehörte, so die einen. Andere glauben, ein sensationelles kleines Kunstwerk aus filmisch benachteiligter Region gesehen zu haben. Nicht minder interessant die emotionalen Reaktionen: da ist zu lesen, wie schwarzhumorig der Film doch sei und dass die Effekte ja jederzeit als solche erkennbar wären; überhaupt rege das Ganze mehr zum Lachen an als dass es schockieren könne. Dann wird moniert, dass die innerpolitischen Implikationen ein Witz seien und dem Renommee der Region alles andere als zuträglich, nachdem unflätiger Stoff wie die beiden "Hostel"-Filme die slawischen Teile Europas bereits aufs Heftigste diskreditiert hätten. Wie meistens bewegt sich die Wahrheit irgendwo dazwischen, zumindest was mich und meine Eindruckswelten anbelangt. Zunächst einmal erreicht der Darstellungsradius tatsächlich Sphären, in die der kommerzielle Spielfilm bislang selten vorgestoßen sein dürfte, so er sie überhaupt jemals angekratzt hat. Natürlich sind die betreffenden Szenen des im Ganzen nicht nur außerordentlich professionell und stilsicher gefertigten, sondern zudem ästhetisch erlesenen Films bewusst provokant und zweckmäßig angelegt und ganz eindeutig Teil einer mit dem Entsetzen Business treibenden, spekulativen Art des Filmemachens. Es obliegt wie immer jedoch dem Verantwortungs- und Aufgabenbereich des mündigen Rezipienten, ob und in welcher Form er sich davon blenden, instrumentalisieren oder affizieren lässt. Die meisten "abgehärtet" erscheinenden respektive der Inszenierung abseitige Komik unterstellenden Reaktionen wirken auf mich jedenfalls eher wie rührende Selbstschutzgestaden denn wie authentische Gleichgültigkeitsbekundungen. Es verhält sich wohl so: wer mit dem Genre vertraut ist und bisher dessen Auswürfe ertragen konnte, ohne den Blick abzuwenden, der wird jedenfalls auch mit "Srpski Film" fertig werden, irgendwie. Immerhin transportiert das Werk einen gewichtigen Teil des Wesens radikaler Kunst: Es taugt vortrefflich (und natürlich vorsätzlich) dazu, Diskussionen zu entfachen. Im Bereich des transgressiven Kinos ist Spasojevics Film aus vielerlei Gründen eine Entdeckung und der vielversprechende Regisseur jemand, den man gewiss im Auge behalten sollte. In jedem Falle lohnt es sich, eigene Impressionen walten zu lassen.

7/10

Skandalfilm Splatter Srdjan Spasojevic Parabel Serbien Film im Film torture porn Transgression Snuff


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EQUUS (Sidney Lumet/UK, USA 1977)


"Passion, you see, can be destroyed by a doctor. It cannot be created."

Equus ~ UK/USA 1977
Directed By: Sidney Lumet


Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Dysart (Richard Burton) bekommt einen neuen Patienten, Alan Strang (Peter Firth). Alan hatte, sämtlicher Kleidung entledigt, nächtens sechs Pferde mit einer Sichel geblendet, bevor er von dem Gestütsleiter Dalton (Harry Andrews) aufgegriffen und der Polizei übergeben werden konnte. Dysart, der über die Therapie Alans selbst in eine tiefe Sinnkrise fällt, entwirrt nach und nach ein Gestrüpp aus Bigotterie, elterlichem Versagen und sexueller Unterdrückung bei dem Jungen.

Basierend auf einem Bühnenstück und Script von Peter Shaffer fertigte Lumet diesen unkomfortablen Film um die Tücken der Psychoanalyse, der trotz formidabler darstellerischer Qualitäten und teils brillanter Dialoge zu keinem Zeitpunkt wirklich zu packen weiß. Die Gründe dafür sind jedoch weniger in äußeren Faktoren zu suchen; die Mittlebenskrise von Dr. Dysart wirkt einfach allzu aufgesetzt und lebensfern - ein Manko, das bereits Shaffers Vorlage innehat. Das Resümee des Stücks ist ein seltsames: Mit der Heilung des sexuell gestörten Alan glaubt Dysart, zugleich das innere Feuer des Jungen ausgelöscht zu haben. Aus dem dionysischen, leidenschaftlichen Wirrkopf wird in Kürze ein typisch-englischer Spießer werden, der einst eine genauso lustentleerte Existenz führen wird wie Dysart selbst all die Jahre.
Ein sehr regressiver und reaktionärer Ansatz zur Begutachtung psychotherapeutischer Methoden, wie ich finde. Es sei denn, man nimmt schwere psychische Defizite als Gottesgeschenk wahr, die es rückhaltlos auszuleben gilt.
An extraordinarily strange approach.

6/10

Sidney Lumet based on play Peter Shaffer England


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SERPICO (Sidney Lumet/USA, I 1973)


"The system's corrupt."

Serpico ~ USA/I 1973
Directed By: Sidney Lumet


Kaum dass der New Yorker Officer Frank Serpico (Al Pacino) seinen Dienst antritt, wird er mit der allgegenwärtigen Korruption in der städtischen Polizeietage konfrontiert. Serpico enthält sich wie selbstverständlich jeder versuchten Bestechung und nimmt keinerlei Geld an, wodurch er jedoch zunächst den Argwohn und dann den unverblümten Hass seiner Kollegen auf sich zieht. Diverse Versetzungen in andere Reviere machen es ihm nicht leichter, im Gegenteil. Je einflussreicher die Abteilung, desto höher die gezahlten Summen. Bald geht Serpico mit seinen Erfahrungen an die Öffentlichkeit und muss fortan um sein Leben fürchten.

Der erste Film aus Lumets großem Zyklus über die New Yorker Gesetzesmächtigen und ihre zutiefst verfaulten Eingeweide. "Serpico" basiert auf der wahren Geschichte eines Idealisten, dessen Mut zur Ehrlichkeit ihm irgendwann so sehr zugesetzt hat, dass er fast sein Leben lassen musste und schlussendlich emigriert ist. Eine bodenlos wütende Systemkritik und der unbedingte Wille zum Realismus zeichnen den Film aus und verleihen ihm exakt jenes naturalistische Ausrufezeichen, das vielen Studiowerken dieser Phase zuteil ist. Al Pacinos Anlegung seiner Rolle erwies sich nachträglich als ikonographisch, besonders innerhalb der italoamerikanischen Gemeinde - Beispiele für Epigonen sind rasch gefunden; so hatte etwa Tony Manero in "Saturday Night Fever" ein "Serpico"-Poster in seinem Zimmer, derweil Sylvester Stallone gar eine äußere Komplettmetamorphose für "Nighthawks" durchlief.
Dino De Laurentiis hat "Serpico" korproduziert und verliehen, eine Relation, die angesichts des Resultats auf den ersten Blick ein wenig schräg anmutet, jedoch Methode hat - zumal es einen der ersten Versuche des Italieners markiert, seine Fühler Richtung Hollywood auszustrecken. Damals war noch vieles möglich.

10/10

Sidney Lumet New York


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THE OFFENCE (Sidney Lumet/UK 1973)


"My... God."

The Offence (Sein Leben in meiner Gewalt) ~ UK 1973
Directed By: Sidney Lumet

Detective Johnson (Sean Connery), englischer Provinzpolizist, ist durch mehrere schreckliche Diensterlebnisse schwer traumatisiert. Als er glaubt, in der Person des aufgegriffenen Familienvaters Kenneth Baxter (Ian Bannen) eines seit längerem gesuchten Kindervergewaltigers habhaft geworden zu sein, versucht er diesem in einem nicht genehmigten Verhör ein Geständnis zu entlocken. Johnson lässt sich jedoch über Gebühr provozieren und prügelt Baxter zu Tode. Die angrenzende Untersuchung demonstriert Johnsons desolaten psychischen Zustand und zeigt, dass er schon seit längerem hätte suspendiert werden müssen.

Kammerspielartiges Polizistenpsychogramm, dass den verzweifelt gegen sein Bond-Image anspielenden Connery in einer unglaublich intensiven Performance zeigt, die jeden ihm schlechte Schauspielqualitäten anheim stellenden, einsichtigen Hobbykritiker mundtot machen sollte. Lumet inszeniert ein wild waberndes Gebräu aus Rück- und Vorausblenden, deren Sinn und Wirkung sich zur Gänze erst spät offenbaren und die das sich zu Beginn wie selbstverständlich einstellende Heldenbild des Protagonisten zunächst ansägen, um es dann vollständig zu demontieren. Die Schuldfrage bezüglich des gefassten, mutmaßlichen Verbrechers wird vom Film bewusst nicht beantwortet, es geht auch gar nicht um sie, sondern einzig um die in jedem Falle erschütternde Behandlung, die ihm im Polizeigewahrsam zuteil wird. Johnson, der zu Beginn als einer der typischen Callahan-Epigonen der frühen Siebziger eingeführt wird, entblättert sich nur zögerlich vor dem vorsätzlich irritierten Zuschauer. Am Ende stehen Desolation, Isolation, nachgewiesene Soziopathie und besonders die schlimme Gewissheit, dass kein Systemrepräsentant vor durchgebrannten Sicherungen gefeit ist.

9/10

Sidney Lumet England Verhör


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FACES (John Cassavetes/USA 1968)


"Why am I a son of a bitch?" - "Because you get to me."

Faces (Gesichter) ~ USA 1968
Directed By: John Cassavetes


Versicherungsboss Richard Forst (John Marley) fühlt sich sexuell unausgeglichen - seine Frau Maria (Lynn Carlin) schläft trotz diverser Bemühungen seinerseits nicht mehr mit ihm. Frustriert lädt er sich in Marias Beisein eines Abends telefonisch bei der Hure Jeannie (Gena Rowlands) ein. Maria zieht darauf mit ihren Freundinnen um die Häuser und nimmt sich den jungen Stelzbock Chet (Seymour Cassel) mit nach Hause. Während Richard am nächsten Morgen befriedigt zu Maria zurückkehrt und die Welt wieder in den Fugen glaubt, endet das Techtelmechtel seiner Frau in einem Selbstmordversuch mit Schlaftabletten, dessen Erfolg Chet nur knapp verhindern kann.

Die titelgebenden Gesichter stehen im Fokus von John Cassavetes' zweitem unabhängig entstandenen Film, einem in grob gekörntem Schwarzweiß photographierten Fünfakter, der eine vierzehnjährige Ehe als hoffnungslos verlogene, an der Ich-Bezogenheit des Mannes und dem inneren Rückzug der Frau gescheiterte Institution offenlegt. Erst ein explosiv-offensiver Ausbruch, von Richard großspurig ("I want a divorce!") eingeleitet und dabei doch unbewusst bloß als kindische Protestaktion und zwölfstündiges Intermezzo geplant, sorgt dafür, dass die Karten auf den Tisch kommen.
"Faces" handelt von der Befreiung aus klebrigem Alltagsfilz, die einen Moment lang schmerzhaft sein kann und vielleicht noch einen gewaltigen Kater nach sich zieht, die am Ende aber die persönliche Weiterentwicklung gewährleistet. Bezeichnend, dass Maria mit zerzaustem Haar, von Tränen verlaufenem Make-up und nachdem sie symbolisch die letzten paar Gefängnisjahre ihrer Ehe ausgekotzt hat, wesentlich schöner und natürlicher aussieht denn als Richards Hausweib. Sie hat es geschafft, eine Entwicklung, wie ihre ältere, verzweifelte und psychisch kranke Freundin Florence Dorothy Gulliver) sie durchgemacht und vorgelebt hat, in letzter Sekunde abzuwenden. Wie das von Maria sind die Gesichter sämtlicher Beteiligten fast permanent in bildfüllenden Close-ups zu sehen, in all ihrer Schönheit, in all ihrer Hässlichkeit. Leben, hautnah, schonungslos.

9/10

Ehe John Cassavetes Independent


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GUESS WHO'S COMING TO DINNER (Stanley Kramer/USA 1967)


"When the hell are we gonna get some dinner?"

Guess Who's Coming to Dinner (Rat' mal, wer zum Essen kommt) ~ USA 1967
Directed By: Stanley Kramer


Die von Hawaii nach San Francisco heimkehrende Joey Drayton (Katharine Houghton) eröffnet ihren Eltern Christina (Katharine Hepburn) und Matt (Spencer Tracy), dass sie sich Hals über Kopf verlobt hat - mit einem überaus respektablen Mann (Sidney Poitier), nur dass dieser ein Farbiger ist. Obwohl sich Matt Drayton als Zeitungsverleger für DEN liberalen Meinungsmacher der Stadt hält, ist er von der Nachricht seiner Tochter mehr vor den Kopf gestoßen als er zugeben will.

"You've got to give a little..."
Kramers gezwungenermaßen letzter Film mit dem todkranken Spencer Tracy und ergo auch der letzte Film des schönsten Traumpaars der Filmgeschichte - Tracy und Hepburn - ist was fürs Herz, allerdings nicht ohne die dem Regisseur gemäßen sozialkritischen Implikationen. "Guess Who's Coming To Dinner" ist über die Jahre ein durchweg schöner Ensemblefilm geblieben, dennoch stört daran nach über vierzig Jahren noch immer Manches, wenn auch zum Glück bloß geflissentlich und beiläufig. Und damit meine ich weniger den unentwegten Gebrauch des Terminus "negro".
Es ist ja so, dass jede Gesellschaft in der Regel immer die Filme bekommt, nach denen sie verlangt, bzw. die sie verdient - das Gesetz des unterhaltungskulturellen Echos. Nur kann "Guess Who's Coming To Dinner" bei aller Ehrbarkeit und Brillanz in der Dialogführung selbst nicht verhehlen, eine durchweg weiße Perspektive einzunehmen, und eine stark seniorenverhaftete noch dazu. Etwas mehr Selbstsicherheit und Selbstverständnis wären beim Aufgreifen des Themas "Alltagsrassismus" mithin wünschenswert gewesen. Dass die Resolution des Films gewissermaßen lange Zeit in den Regionen der Utopie verblieb, zeigte etwa Spike Lee in seinem 24 Jahre jüngeren "Jungle Fever", in dem die Romanze eines gemischtfhäutigen Paars wegen der Ressentiments ihres sozialen Umfeldes frontal vor die Wand gefahren wird.
Man sollte daher die eigentliche Brisanz von Kramers Film nicht darin begreifen, dass hier die prinzipielle Selbstverständlichkeit eines Liebespaars unterschiedlicher Hautfarbe in den Fokus gerät (der große Altersunterschied wäre dem Impetus des Films gemäß eigentlich mindestens genauso diskutabel), sondern darin, dass ein alter, sich stets auf der Seite der Gerechten glaubender Mann trotz seiner selbstveräußerten Liberalität und Lebensweisheit erst über einen gewaltigen Wall der hinter seiner Fassade noch immer akut vorhandenen Vorurteile springen muss. Wie Tracy diesen Zweifler an seinem eigenen Lebensabend spielt, und, obwohl er um den nahenden Tod weiß, in seiner Rolle als Matt Drayton ständig davon spricht, noch ein hohes Alter zu erreichen, und dabei von einer ihn ganz offensichtlich tatsächlich umsorgenden Katharine Hepburn, die permanent Tränen in den Augen hat und ihr typisches Kopfzittern nicht verhehlt, das ist der echte tear jerker dieses seinem Wesen nach ehrlichen, tatsächlich großen und wichtigen Films.

9/10

Stanley Kramer Rassismus Ehe





Filmtagebuch von...

Funxton

    Avanti, Popolo

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