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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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WIN WIN (Tom McCarthy/USA 2011)


"Shut the hell up, Chewbacca!"

Win Win ~ USA 2011
Directed By: Tom McCarthy

Um sich und seine Kanzlei finanziell gesundstoßen zu können, nimmt der Anwalt, Familienvater und Jugendringer-Trainer Mike Flaherty (Paul Giamatti) die Pflege-Obhut für den seinen im Anfangsstadium dementen Klienten Leo Poplar (Burt Young) an. Mike denkt jedoch gar nicht daran, den knarzigen alten Herrn wie vereinbart in dessen Haus wohnen zu lassen, sondern liefert ihn kurzerhand im nächsten Seniorenheim ab. Als Leos fünfzehnjähriger Enkel Kyle (Alex Shaffer) aufkreuzt, um vorübergehend bei seinem Großvater zu wohnen, gerät Mike in zunehmende Gewissenskonflikte. Er nimmt de Jungen bei sich auf und entdeckt zu seiner großen Begeisterung, dass Kyle ein Ringer-As ist, das seinem Team zu großen Erfolgen verhelfen könnte.

Ein ganz schöner, letzten Endes aber ziemlich egaler Film, der seine Geschichte eher kantenlos über die Runden bringt und dessen betont unspektakuläres Äußeres mich ziemlich gleichgültig zurückließ. So wird kurioserweise die Intention zum Problem: McCarthys Film wappnet sich in all seinem sympathischen Habitus vollkommen gegen jedwede Kontroverse; anstatt sich zwischen Stühle zu setzen, macht er es sich im flauschigsten Sessel bequem. Geliefert wird ein handvoll netter Figuren, deren kleine Exzentrismen sie jeweils zu profilbewährten Typen machen soll und auch macht und der es sich zum Prinzip macht, keinem wehzutun - am wenigsten sich selbst. Das ist alles schön und gut und lässt auch einen bombensicheren Qualitätsfilm erwachsen, läuft jedoch niemals Gefahr, wirklich bewegend oder nachhaltig interessant zu sein. Da hat mir McCarthys wesentlich poetischeres und gleichfalls meditativeres Debüt "Station Agent" um einiges besser gefallen.

6/10

Tom McCarthy Familie Alzheimer Ringkampf


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WILLARD (Daniel Mann/USA 1971)


"You made me hate myself!"

Willard ~ USA 1971
Directed By: Daniel Mann

In Willard Stiles (Bruce Davison), einem introvertierten jungen Mann, schlummert die Aggression. Seine Mutter (Elsa Lanchester) belästigt ihn permanent mit irgendwelchen Reparaturwünschen und deren Freunde und Freundinnen sind ausnahmslos unangenehme Speichellecker. Derweil leitet der fiese Emporkömmling Mr. Martin (Ernest Borgnine) ausgerechnet die Firma, die einst Willards Vater gehörte und in der Willard nurmehr als Martins kleiner Laufburche arbeiten darf. Eines Tages soll Willard die Ratten im Garten ausmerzen, bringt dies jedoch nicht übers Herz und freundet sich stattdessen mit ihnen an. Besonders zwei von ihnen, eine sehr zutrauliche, weiße Ratte, die Willard "Sokrates" tauft und eine graue, verschlagene, die er "Ben" nennt, haben es ihm angetan. Willard beginnt sie zu dressieren und als ständige Begleiter überall mit hin zu tragen. Als Willards Mutter stirbt, Martin immer unverschämter wird und schließlich sogar den armen Soktrates tötet, sind die letzten Bande gebrochen: Willard benutzt die mittlerweile riesige Rattenschar als Racheinstrument. Doch Ben hegt längst eigene Pläne...

Ein schöner, mit sanfer Ironie operierender New-Hollywood-Tierhorrorfilm, der sich in ein ähnliches Szenario begibt wie "Harold And Maude": Verblassender Kleinstadtadel, ein einen psychisch ungesunden Jungen heranzüchtendes Matriarchat, Einsamkeit, Protest, Rückschlag. Was in Ashbys Film allerdings schließlich als inner struggle auf internalisierter Ebene gelöst werden kann, führt in "Willard" zur Katstrophe. Willards einzige Freunde, die sich natürlich unkontrolliert fortpflanzende und somit rasend schnell anwachsende Rattenschar, entwickeln bald ein unkontrollierbares Intelligenzpotenzial, das ihr Boss Ben, ein hyperintelligenter Vertreter seiner Spezies, vortrefflich zu nutzen weiß. Als der weiße weise Mastermind und Regulator Sokrates ausfällt, heißt es dann irgendwann endgültig Deus-ex animalis und die von Willard im Keller gehaltenen und zu seinen Zwecken benutzten Tiere wenden sich, bevor er ihnen nach erfolgtem Rachefeldzug den Garaus machen kann, gegen ihren vermeintlichen Herrn und Meister.
Durchzogen von einer sanft-melancholischen Note ist "Willard" damit noch ein unspektakulärer Vertreter seiner Subgattung, die ja im sich anschließenden Jahrzehnt bisweilen regelrecht megalomanische, exploitative Züge annehmen sollte.

7/10

Daniel Mann Ratten Rache Satire Tierhorror


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THE COURT-MARTIAL OF BILLY MITCHELL (Otto Preminger/USA 1955)


"Just because you read a lot of books about golf, doesn't make you a good golfer."

The Court-Martial Of Billy Mitchell (Verdammt zum Schweigen) ~ USA 1955
Directed By: Otto Preminger

Der im Ersten Weltkrieg hochdekorierte Kampfflieger Colonel Billy Mitchell (Gary Cooper) moniert schon seit Längerem die maroden Zustände innerhalb der amerikanischen Luftwaffe. Mehrere Verwarnungen wegen Insubordination sorgen da kaum für Entspannung. Als sein alter Freund Zack Lansdowne (Jack Lord) einen unnötigen Tod während eines Manöverflugs mit einer völlig veralteten Maschine stirbt und auch einige Mitglieder von Mitchells eigener Flugstaffel das Leben lassen müssen, beruft der Offizier eine unautorisierte Pressekonferenz ein, in der er ganz offen den katastrophalen status quo der Air Force anprangert. Wegen Untreue gegenüber der Armee kommt Mitchell vor ein Militärgericht, das viel Aufsehen erregt und in dem unter anderem seine visionäre Analyse der künftigen Fliegereirolle im Kriegswesen (unter anderem sagt Mitchell minutiös den Angriff auf Pearl Harbor voraus) deutlich wird, das schließlich jedoch mit seinem Ausscheiden aus dem Kampfverband endet.

Weniger spannender denn geschichtsbewusster Gerichtsfilm, der sich einmal mehr auf die Suche nach unbesungenen amerikanischen Heldenfiguren macht, die, wären sie ihrer inakzeptablen Hexenjagd entgangen und hätte man sie bloß gelassen, Großes hätten leisten können. In dieser naiven Selbstüberzeugung ist "The Court-Martial Of Billy Mitchell" mit dem alten Nationalheroen Gary Cooper unerschütterlich und auf rührende Art sympathisch. Immerhin - Billy Mitchells Bestandsaufnahmen der Luftwaffen-Situation in den frühen Zwanzigern zogen einen mittelfristig großen Effekt nach sich. Zu dieser Zeit, und darin ist Premingers Film am Interessantesten, erschienen technologisch absehbare Fakten den Kommissköpfen der Admiralität als pure, futuristische Spinnerei. Der Überschallflug, gar die pausenlose Überquerung des Ozeans oder allein das Flugzeug als Linienverkehrsmittel hielten die Ankläger Mitchells für völlig undenkbar. Abgesehen davon, dass es Mitchell vor allem um die Sanierung und Etablierung der Air Force als elementares drittes Standbein des Heers ging, war er ein heller Kopf mit einigem Potenzial. Dass Cooper ihn im Film darstellen darf, ist diesem Eindruck nochmal überaus zuträglich.

7/10

Otto Preminger Fliegerei Militär Courtroom period piece Historie Biopic


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RED (Trygve Allister Diesen, Lucky McKee/USA 2008)


"You don't always need to see the truth to know it."

Red ~ USA 2008
Directed By: Trygve Allister Diesen/Lucky McKee

Red, der vierzehnjährige Mischlingshund des alternden Ladenbesitzers Avery "Ave" Ludlow (Brian Cox) wird aus rein sadistischem Vergnügen während eines von Aves Angelausflügen von drei Jugendlichen erschossen. Zwei von ihnen (Noel Fisher, Kyle Gallner) sind die Söhne des arroganten Neureichen McCormack (Tom Sizemore), der unbeirrt zu seinen Sprösslingen steht. McCormack hat zudem auch die Eltern (Robert Englund, Amanda Plummer) des dritten Beteiligten (Shiloh Fernandez) in der Tasche. Mit seinem Wunsch nach einer bloßen Entschuldigung und Rechtfertigung für die sinnlose Tat steht Ave ergo allein da. Selbst sein alter Anwaltskumpel Sam (Richard Riehle) und die von diesem eilends herbeigerufene Boulevardjournalistin Carrie (Kim Dickens) können ihm nicht helfen, im Gegenteil: Je mehr Ave bei McCormack insistiert, desto schärfer werden dessen Attacken gegen Aves Hab und Gut. Als Ave schließlich mit dem Körper des toten Red bei den McCormacks auftaucht, eskaliert die Situation.

Da glaubt man blauäugig, "Gran Torino" und "Harry Browwn" hätten den Rentnerthriller spektakulär revitalisiert und erfährt dann mit zwei Jahren Verspätung, dass diese Ketchum-Verfilmung namens "Red" längst denselben Weg eingeschlagen hatte, und das schon ein gutes Jahr zuvor und in nicht minder hervorragender Weise. Leider ist der Film von Diesen und McKee im Vergleich zu seinen beiden Nachzüglern - auch von mir - sträflich missachtet und vernachlässigt worden. Man kann sich bereits im Vorhinein ausmalen, dass der kantige, bärbeißige Brian Cox Eastwood und Caine in Nichts nachsteht und wird darin auch vorbehaltlos bestätigt. Allerdings geht es bei ihm, Vietnam-Veteran und in der provinziellen Gegend beliebter Kauz, nicht so sehr um den offensiven Widerstreit gegen das Altenteil. Jedoch verlegt er, eine Art alternder Michael Kohlhaas der US-Provinz, sich, genau wie Walt Kowalski und Harry Brown, irgendwann auf die Selbstjustiz, als er resignierend zu registrieren hat, dass Law and Order viel leisten, aber nichts für einen allein lebenden Hundebesitzer, der seinen besten Freund vom Baby- bis ins Seniorenalter stets an seiner Seite hatte und dessen Gegenwart zudem das letzte lebendige Relikt einer einstmals glücklichen Familie symbolisiert.
Wie "The Girl Next Door" verkneift sich auch "Red" jedwedes Exploitation-Element, bleibt stets gediegen und moderat gegenüber seinem Personal und zirkuliert mehr im dramatischen Fach denn im Thrillergenre. So oder so ein höchst sehenswerter Film, der, da hatte Freund Pasheko absolut Recht, mir als Hundefreund besonders das Herz hatte berühren können. Und nicht nur dieses: Das wunderschöne, hoffnungsvolle Ende öffnete mir sämtliche Schleusen und ließ mich hemmungslos Rotz und Wasser heulen.

8/10

Tryve Allister Diesen Lucky McKee Hund Familie Rache Jack Ketchum


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THE GIRL NEXT DOOR (Gregory Wilson/USA 2007)


"They've got cures these days."

The Girl Next Door (Jack Ketchum's Evil) ~ USA 2007
Directed By: Gregory Wilson

Der wohlsituierte Manager David Moran (William Atherton) denkt immer wieder an eine furchtbare Begebenheit in seiner Kindheit zurück, die er nie überwinden konnte. Als David mit zwölf Jahren (Daniel Manche) ein, wie sich herausstellen soll, nur augenscheinlich beschauliches Vorstadtleben führt, zieht eines Tages das Schwesternpaar Meg (Blythe Auffarth) und Susan (Maddie Taylor) bei seinen Nachbarn, den Chandlers, ein. Nachdem die Eltern der beiden Schwestern einen tödlichen Autounfall hatten, müssen sie zu ihren nächsten Verwandten ziehen. Die alleinerziehende Ruth Chandler (Blanche Baker) ist bei den Kindern der Straße sehr beliebt. Die Jungs dürfen bei ihr rauchen und Bier trinken und sie macht gern derbe Scherze. Meg und Susan erleben die Realität im Hause Chandler jedoch anders und David bekommt das immer öfter mit. Angefangen mit kleinen Demütigungen und Übergriffen sehen sich die Mädchen bald offenem, immer schlimmer werdendem, physischem und psychischem Missbrauch gegenüber. Besonders Meg hat unter den Quälereien unter Ruths Ägide schwer zu leiden. David nimmt sich vor, die beiden zu befreien, macht damit jedoch alles nur noch schlimmer.

Nachdem ich erst kürzlich via "The Woman" auf Jack Ketchum gestoßen bin und meinen ersten Roman von ihm gelesen habe, steht nun eine kleine Reihe mit den vorherigen Filmadaptionen seiner Werke an. "The Lost" befindet sich noch in der postalischen Pipeline, daher habe ich mir erlaubt, mit "The Girl Next Door" zu beginnen. Zunächst mal muss gesagt werden, dass Wilsons Film eine fast durchweg hervorragende Buchadaption ist, in der von einer Ausnahme abgesehen lediglich Kleinigkeiten modifiziert wurden, die ansonsten jedoch stets überdicht, praktisch dialoggetreu, an der Vorlage bleibt. Dabei pflegt Wilson bei aller Härte, die der Stoff bereits thematisch impliziert, eine relative visuelle Dezenz; er entgeht der verlockenden Falle, die unter den Argusaugen der Matriarchin immer wieder nackt im Keller angebundene, befummelte und schließlich vergewaltigte Meg zum voyeuristischen Objekt des Zuschauers verkommen zu lassen. Von Exploitation keine Spur. Auch darin begegnen Film und Buch sich auf Augenhöhe, denn wenngleich Ketchums verbale Schilderungen einen deutlich intensiveren Effekt hinterlassen, so geht es ihm nie darum, Leser-Obsessionen zu bedienen. Der Topos behält stets genau jene unangenehme Konnotation, die ihm gebührt. Dennoch konnte ein gewisses Gefühl der filmischen Blässe, dem ich allerdings nicht zur Gänze Ausdruck verleihen kann, nie ganz von meiner Seite weichen. Möglicherweise hätte ich mir noch etwas eingehender aufspielende Akteure gewünscht. Vor allem Daniel Manche, der den jungen Daniel Moran spielt, scheint mir keine besonders glückliche Wahl für diese Rolle gewesen zu sein. Im Roman kann selbst er sich anfänglich jener diabolischen Faszination angesichts der erniedrigten Meg nicht entziehen und ist durch ihre erzwungene Blöße latent erregt. Dies ist der Punkt, den der Film nicht (mehr) mitspielen mag. Bei Wilson wird aus dem nicht ganz rechtzeitig erstickten Keim der Perversion mitsamt dem dräuenden, schlechten Gewissen der Folge eine unterlassene Hilfeleistung aus purer Angst vor Repressalien. Keine mutige Entscheidung.

7/10

Gregory Wilson Jack Ketchum Kleinstadt Freundschaft Independent Sexueller Missbrauch Folter


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L'OCCHIO SELVAGGIO (Paolo Cavara/I 1967)


Zitat entfällt.

L'Occhio Selvaggio (Das wilde Auge ) ~ I 1967
Directed By: Paolo Cavara

Die verheiratete Amerikanerin Barbara Bates (Delia Boccardo) verfällt während einer Übersee-Reise dem Filmemacher Paolo (Philippe Leroy). Paolo hat es sich zum Ziel gesetzt, mit seinem neuesten Dokumentarfilm menschliche Grenzbereiche auszuloten, immer ganz nahe dran am Geschehen, an leidgeprüften Gesichtern, an der Trauer, an der Verzweiflung, am Tod. Als Barbara erkennt, dass Paolo und sein Team, der Kameramann Valentino (Gabriele Tinti) und der Produzent Rossi (Giorgio Gargiullo) ihre dramatischen Episoden zum Teil nicht nur planerisch terminieren, sondern mitunter sogar selbst inszenieren, ist es bereits zu spät für sie.

Der von Philippe Leroy gespielte Paolo könnte auch als eine Art "Mondo"-Filmer durchgehen: Alle Perversionen dieser Welt. Dabei scheint er stets größten wert darauf zu legen, sich selbst in seine gefilmten Episoden zu inkludieren; teilzuhaben an all der Unbill, die er da vordergründig dokumentiert. Dabei ist Paolo emotional nicht involviert und auch sein Gewissen hat unter all den seltsamen Vorkommnissen, derer es Zeuge wird, nicht zu leiden. Wenn Paolo einen buddhistischen Mönch, bittet, sich vor der Kamera selbst zu verbrennen, sind immer auch ein paar Spendengelder drin, wenn Paolo ein südvietnamesisches Erschießungskommando bei der Arbeit filmt, lässt er für die vermittelnde "Agentur" gern etwas springen. Die Barbareien des Orients werden zur Perversion des Okzidents: Auf Barbaras kritische Anmerkungen reagiert Paolo nurmehr unwirsch und pikiert, nicht jedoch mit der nötigen Selbsteinsicht. Dafür ist es ohnehin längst zu spät, wie die Schlusseinstellung zeigt, die Paolo endgültig als Partizipierer seiner eigenen, krankhaften Kunst entlarvt.

7/10

Paolo Cavara Film im Film Vietnamkrieg Singapur Filmemacher


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WINTER'S BONE (Debra Granik/USA 2010)


"Is this gonna be our time?"

Winter's Bone ~ USA 2010
Directed By: Debra Granik

Die siebzehnjährige Ree (Jennifer Lawrence) hat es nicht leicht: Im winterlich-kalten Missouri-Hinterland muss sie sich als einziges halbwegs mündiges Familienmitglied um ihre schwer depressive Mutter (Valerie Richards) und ihre beiden kleinen Geschwister (Isaiah Stone, Ashley Thompson) kümmern, und das bei prekärem Haushaltsetat. Als Sheriff Baskin (Garret Dillahunt) der couragierten Ree eröffnet, dass ihr Vater Jessup, ein Drogenkoch, kautionsflüchtig ist, sich seiner anstehenden Gerichtserhandlung zu entziehen versucht, und das Grundstück der Familie auf dem Spiel steht, versucht Ree mit allen Mitteln, Jessup ausfindig zu machen. Sie stößt jedoch nur auf eine Mauer des Schweigens: Niemand will oder kann etwas über Jessups Verbleib sagen, am wenigsten der patriarchalisch auftretende Milton (Ronnie Hall), inoffizieller Chef der ganzen Gegend. Als Ree ihm zu nahe kommt, muss sie selbst um ihr Leben fürchten.

Eine Geschichte aus dem provinziellem Hinterhof von Prekariats-Amerika, dessen Topographie wirkt wie aus einer Parallelwelt stammend. Mit Missouri assoziiert man als Europäer ja normalerweise das typische Südstaatenflair mit sattem Grün und schwirrenden Mücken, nicht jedoch eine solche Endzeit-Atmosphäre, wie sie Debra Granik in ihrem zweiten Langfilm kredenzt. Bitterkalt ist es, ein deprimierendes Grau in Grau bestimmt die alltägliche Tristesse und die Menschen machen sich es durch nachbarschaftliche und/oder familiäre Beziehungen etwas behaglicher. Bestimmte Dinge werden grundsätzlich tabuisiert oder bleiben einfach unausgesprochen, das gehört zur lokalen Tradition. Als Ree zu stochern beginnt, um sich und ihrer Familie die drohende Obdachlosigkeit zu ersparen, empfinden die Alten der Gegend das als eine inoffizielle Kampfansage an den Filz ihrer stoischen Verschwiegenheit und stellen sich noch sturer dar als ohnehin schon. Durch ihre nicht nachlassende Schnüffelei provoziert Ree schließlich sogar gewalttätige Aggressionen, vor denen sie letzten Endes nur ihr selbst höchst fadenscheinig auftretender Onkel Teardrop (John Hawkes) bewahren kann.
Für ihre kleine Geschichte eines jugendlichen Sturms in hillbilly country, den die Regisseurin offenbar auch als eine Art Chance verstanden wissen will, wählt Debra Granik eine verfänglich schöne Bildsprache. Unabhängig von dem überall herumliegenden Schrott und Müll, der Schäbigkeit der gottverlassenen Gegend und der latenten Feindesligkeit der inzestuös verbandelten Menschen scheint es, als habe sich Granik ähnlich wie ihre Protagonistin in diese Landschaft, das innere Amerika, verliebt. So ist "Winter's Bone" weniger seine vorgebliche Coming-Of-Age-Story denn in erster Linie intimes Porträt und klärende Bestandsaufnahme für all jene, die mit den USA nur noch irgendwelche Sitcom-Realitäten assoziieren.

8/10

Debra Granik Familie Missouri Südstaaten Drogen


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THE MORTAL STORM (Frank Borzage/USA 1940)


"I've never prized safety. I prized courage."

The Mortal Storm (Tödlicher Sturm) ~ USA 1940
Directed By: Frank Borzage

Als Hitler und die Nazis 1933 in den Reichstag einziehen, stehen Deutschland selbst im tiefsten Bayern noch einschneidende Veränderungen bevor. Der biologische Gleichheit und Antirassismus predigende, jüdische Professor Roth (Frank Morgan) landet alsbald im KZ, sein familiärer Freund Martin Breitner (James Stewart), der Roths Tochter Freya (Margaret Sullavan) liebt, zieht indes die Flucht über die österreichische Grenze vor. Als auch Freya in tödliche Gefahr gerät, kehrt Martin ein letztes Mal zurück, um sie zu sich zu holen.

Eine der ersten Hollywood-Reaktionen auf den von Hitler vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg in Europa, sozusagen ein Avantgarde-Propaganda-Stück. Borzage inszeniert sein Plädoyer für Freiheit und Gleichheit geradeheraus; mit beeindruckender, poetischer Leidenschaft. "The Mortal Storm" wühlt in den Emotionen seines Publikums, besonders denen des deutschen (wenn selbiges auch erst zwölf Jahre nach Kriegsende erstmals offiziell in den Genuss dieses wunderbaren Films kommen durfte), auf eine für die damalige Zeit unerhört intime Weise. Wenn auch nicht sonderlich differenziert, so wird doch versinnbildlichend dargestellt, wie schnell es mit jedweder Entspannung vorbei sein kann, wenn urplötzlich Faschisten das Sagen haben und alles und jeden Andersdenkenden bereits kurz nach der Machtübernahme sukzessive auszumerzen beginnen - durch Drohungen, aktive Gewalt, Wegsperren, Exekution, wenn nötig. Bücherverbrennungen erschüttern die ohnehin von Sorgenfalten gekrauste Stirn des Professors, ehemalige Nachbarn und Freunde, Familienmitglieder gar, lassen sich blind und euphorisch von der braunen Welle mitreißen. Wie gut nachvollziehbar sich da in des jungen Jimmy Stewarts Gesicht Unverständnis, Wut, Trauer und Fassungslosigkeit widerspiegeln angesichts solcher Entwicklungen im einstmals geliebten Vaterland - das lässt staunen und evoziert sogar Empathie, wenngleich hier Hollywood dabei ist, altweltliche Geschichte zu illustrieren.
Mit Ward Bond als sadistischem Nazischergen.

9/10

Frank Borzage Holocaust Nationalsozialismus Widerstand Flucht Bayern Alpen Berge Familie period piece WWII


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THE PRINCE AND THE PAUPER (William Keighley/USA 1937)


"Thank you, your majesty."

The Prince And The Pauper (Mit eiserner Faust) ~ USA 1937
Directed By: William Keighley

London, 1537: Zeitgleich mit dem englischen Thronfolger Edward VI (Robert Mauch) wird der bettelarme Tom Canty (Billy Mauch) geboren. Als sich die sich zum Verwechseln gleichenden Jungen im Alter von etwa neun Jahren durch einen ganz profanen Zufall begegnen, schließen sie rasche Freundschaft. Ein dummes Verwechselspiel sorgt dafür, dass sie fortan gezwungenermaßen die Rollen tauschen müssen, eine Situation, die der intrigante Lord Hertford (Claude Rains) trefflich für sich auszunutzen weiß. Während der unbedarfte Tom die Nachfolge des soeben verstorbenen Königs (Montagu Love) antreten soll, lernt der als Bettelknabe lebende Prinz den aufrechten Soldaten Miles Hendon (Errol Flynn) kennen, der ihm schließlich zu seinem Geburtsrecht verhilft.

Launige Twain-Verfilmung, in dem eigentlich gar nicht Flynn, der nach einer knappen Stunde überhaupt zum ersten Mal im Film erscheint, die Hauptrolle gibt, sondern die sympathischen Mauch-Zwillinge, die der alten Weise von den Kleidern, die Leute machen, neuen Zunder geben. Überhaupt nimmt sich diese Verfilmung von "The Prince And The Pauper" ganz als harmloses Familienkino aus und symbolisiert exakt das, was der Hays Code gern in flutender Quantität auf der Leinwand gehabt hätte: Sauberes, antiseptisches Unterhaltungskino, in dem selbst die Bösen (Claude Rains mit Bart und Tudor-Stramplern erkennt man ohnehin kaum) nicht wirklich böse sind und am Ende sogar noch das Weite suchen dürfen. Die schönsten Szenen des Films sind die, in denen der designierte, junge König Mäuschen bei seinen niedersten Untertanen spielen und deren Nöte und Sorgen unverblümt zu Gehör bekommen darf. Solcherlei forcierte Gehirnwäsche täte auch heute noch manchen Herrschaften mehr als wohl...

7/10

William Keighley Renaissance England Mark Twain London Doppelgänger William Dieterle period piece


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THE NIGHT OF THE GENERALS (Anatole Litvak/UK, F 1967)


"Murder is the occupation of Generals."

The Night Of The Generals (Die Nacht der Generale) ~ UK/F 1967
Directed By: Anatole Litvak

Warschau, 1942: Major Grau (Omar Sharif) von der Abwehr will den bestialischen Mord an einer Prostituierten aufklären, den augenscheinlich ein Wehrmachtsgeneral begangen hat. Drei Verdächtige kommen als Täter in Frage: Der paraphil veranlagte von Seidlitz-Graber (Charles Gray), der hintergründige Kahlenberg (Donald Pleasence) und der eben eingetroffene Kriegsheld Tanz (Peter O'Toole). Als Grau zu bohren anfängt, wird er just befördert und nach Paris abkommandiert, wo zwei Jahre später, kurz vor der Verschwörung vom 20. Juli, wiederum alle drei Generäle anwesend sind und wiederum eine Prostituierte getötet wird. Als Grau den Täter ermittelt, wird er von diesem erschossen. Rund zwanzig Jahre später macht sich Inspector Monard (Philippe Noiret), einst bei der Résistance und Dympathisant von Grau auf, den Fall seines ermordeten Freundes zu einem runden Abschluss zu bringen. Die Spur führt nach Hamburg, wo soeben eine Hafendirne erstochen wurde...

Whodunit, Naziploitation, Kitsch, Kriegsfilm, Synopse der Stauffenberg-Verschwörung: "The Night Of The Generals" will Vieles sein, und das Schönste: Er leistet alles von dem, was er sich vornimmt, seinem bravourösen Regisseur Litvak sei Dank. Höchst aufwändig und mit größter Sorgfalt an Originalschauplätzen hergestellt, nutzt Litvak die stattliche Erzählzeit für den Entwurf eines dichten Narrationsnetzwerks mit diversen gleichberechtigt agierenden Pro- und Antagonisten, wiederum verkörpert von einem grandiosen Darstellerensemble höchsten Ranges. An der Spitze des illustren Figurenmosaiks steht natürlich Peter O'Toole mit einer dankbaren Performance als dem Wahnsinn verfallener Herrenmenschen-Soldat. Über seine militärischen Pflichten hinaus Richtung NSDAP-Spitze zu katzbuckeln pflegend und dabei bereits oberflächlich ein Neurosen-Inventar (angesichts dessen Reichhaltigkeit jeder Analytiker feuchte Hände bekäme) bietend, beweist O'Toole nach "Lawrence Of Arabia" erneut, dass er nicht nur zu den großen Exzentrikern, sondern auch zu den großen Könnern der Filmschauspielwelt zählt. Doch auch Pleasence als dem Steinhäger zugetaner Verschwörer und besonders im Kino gern zelebrierten, antinazistischen Wehrmachtsoffizier ist mehr als eine Bank. Ganz kurz gibt sich Christopher Plummer als Rommel die Ehre und wie immer ist ein inspirierendes Vergnügen, "Langstreckenläufer" Tom Courtenay, der eigentlich die geheime Hauptrolle spielt, dessen Name es angesichts all der Leinwandstars jedoch sicherlich an internationaler Zugkraft vermissen ließ, zuzuschauen. Splendid.

8/10

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Funxton

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