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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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THE MAN WHO WASN'T THERE (Joel Coen/USA 2001)


"Sooner or later everyone needs a haircut."

The Man Who Wasn't There ~ USA 2001
Directed By: Joel Coen

Santa Rosa Ende der Vierziger: Der Kette rauchende Frisör Ed Crane (Billy Bob Thornton) hat die fixe Idee, sich auf eino obskure Geschäftspartnerschaft mit einem seiner Kunden (Jon Polito) einzulassen: Es geht um Trockenreinigung, ein angeblich zukunftsweisendes Konzept. Um dabei als Teilhaber einzusteigen benötigt Ed 10.000 $, die er kurzerhand von Big Dave Brewster (James Gandolfini), Chef und Liebhaber seiner Frau Doris (Frances McDormand) erpresst. Als Big Dave herausfindet, dass Ed der Empfänger der Geldsumme ist, geht er wie ein Berserker auf ihn los. In Notwehr tötet er Big Dave und ist anderntags bereits reif für seine Verhaftung, da erfährt er, dass Doris bereits der Tat verdächtig ist...

Nach dem vergleichsweise pompösen "O Brother, Where Art Thou" gönnten sich die Coens mit "The Man Who Wasn't There" wieder einen vorbildlich lakonischen Film, eine erneut runde Hommage an eine vergangene Ära, in der rückblickend Frisuren und Bekleidungen tadellos scheinen und nirgends ein Staubkörnchen zu finden war. Die Coens lieben ja diese vordergründig-verlogene Sauberkeit der Post-Depressions-Ära der Spätdreißiger bis Mittfünfziger, deren Abgründe hinter den Fassaden sich jeweils umso tiefer in die bourgeoise Sittlichkeit frästen. So auch in "The Man", der einen unglaublichen Billy Bob Thornton vorzeigt und gewissermaßen ein weiteres, archetypisches Coen-Werk markiert, indem er eine ganze Menagerie mehr oder weniger liebenswerter Wirrköpfe nebst spektakulär eingefangenen Szenen - anzuführen wäre da insbesondere die italoamerikanische Hochzeitsfeier mitsamt Schweinerodeo und Blaubeerkuchen-Wettessen - vorführt. Zudem liefern die Coens hier mit James Gandolfini, Jon Polito, Michael Badalucco und Adam Alexi-Malle wohl eine ihre beeindruckendsten Sammlungen dicker Männer mit Hosenträgern. Ein Wunder, dass John Goodman nirgends auftaucht. Von den Anwesenden darf sich jedenfalls ein jeder im höchsten Maße abseitig betragen. Aber genauso mögen wir's ja. Die Photographie des Coen-Standards Roger Deakins ist hier, gerade durch den Einsatz von edlem Schwarzweiß (es gibt jawohl auch eine Farbversion, ich weiß aber nicht, ob ich die brauche), so exzellent und stilvoll wie selten. Wenngleich der gallige Humor der Herren sich hier noch etwas verhaltener zeigt als gewohnt und am Ende nurmehr die Verdammnis wartet, ist "The Man Who Wasn't There" ein immer wieder aufs Neue fantastischer Film.

9/10

Coen Bros. Kalifornien Ehe film noir


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FARGO (Joel Coen/USA 1996)


"Yah?" - "Yah."

Fargo ~ USA 1996
Directed By: Joel Coen

Für den armen Jerry Lundegaard (William H. Macy), Autoverkäufer und Familienvater aus Minneapolis, geht finanziell alles schief. Dazu lässt sein reicher Schwiegervater Wade (Harve Presnell) ihn am ausgestreckten arm verhungern. Also kommt Jerry auf die Idee, eine Scheinentführung seiner Frau Jean (Kristin Rudrüd) zu inszenieren und sich mit dem von Wade gezahlten Lösegeld zu sanieren. Dummerweise engagiert er für den Job die zwei ebenso gewalttätigen Soziopathen Showalter (Steve Buscemi) und Grimsrud (Peter Stormare), die schon kurz nach Jeans "Inempfangnahme" anfangen, Leichen aufzutürmen. Die schwangere Kleinstadtpolizistin Marge Gunderson (Frances McDormand) löst den obskuren Fall mittels ihrer ebenso offenen wie aufdringlichen Art.

"Fargo" dürfte der Film sein, der den Coens ihre noch letzten unerschlossenen Publikumssegmente eingefahren hat, dabei ist er nicht mehr oder weniger anbiedernd als ihre vorhergehenden Werke, sondern ein ebenso verschrobener Glücksspender wie man es von ihrem bisherigen Œuvre eben kennt. Die winterliche Atmosphäre Minnesotas unterdrückt sämtliche Schallwellen, noch unterstützt durch Carter Burwells unheilschwangere Musik. Höchstens Carl Showalters manchmal aufbrausende Art oder die diversen Pistolenschüsse lassen einen aus jener befremdlich angespannten Lethargie hervorschrecken, die die Coens so wie kein anderer gegenwärtig aktiver Filmemacher zu evozieren verstehen. Dazu ist der Film urkomisch, indem er den Mittleren Nordwesten mit seinen schwedischen Immigranten in der x-ten Generation so urig wie sonderbar porträtiert, ohne sie jedoch zu denunzieren. Schließlich stammt man selbst aus der Gegend und pisst sich nicht ins heimische Wohnzimmer. Sein Leben bezieht "Fargo" aus der jeweils freundlichen als auch unnachgiebigen Natur seiner Figuren. Niemand gibt auf, in allen schlummert hinter ihrer lächelnden Fassade ein Wolf, seien es die liebenswerte Chief Gunderson oder auch der Superloser Jerry Lundegaard. Und dann sind da freilich die wie Fremdkörper auftretenden Nebencharaktere, nach deren Auftreten man sich am Kopf zu kratzen geneigt ist, um dann erst zu verstehen, dass der Film ohne sie unvollständig wäre - der Indianer Chep Proudfoot (Steven Reevis) etwa, Marges alter Schulfreund Mike Yanagita (Steve Park) oder die beiden Huren (Larissa Kookernot, Melissa Peterman), mit denen sich Carl und Gaear im Motel vergnügen. Ein leidenschaftlich-verhalten vorgetragenes Kaleidoskop der US-Provinz entspinnt sich da, das ausnahms- und glücklicherweise einmal nicht im Süden angesiedelt ist.

10/10

Coen Bros. Winter Ensemblefilm Minnesota Minneapolis


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THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD (Martin Ritt/UK 1965)


"I reserve the right to be ignorant. That's the Western way of life."

The Spy Who Came In From The Cold (Der Spion, der aus der Kälte kam) ~ UK 1965
Directed By: Martin Ritt

Alec Leamas (Richard Burton) arbeitet als Koordinator für den britischen Geheimdienst in Berlin. Nachdem nach und nach sein gesamtes Agentennetz von einem gegnerischen Mann namens Mundt (Peter van Eyck) liquidiert worden ist, erhält er in London einen neuen Auftrag: Er soll nach außen hin aus dem aktiven Dienst ausscheiden und sich das Image eines heil- und mittellosen Trinkers auf der Rolltreppe abwärts zulegen, so den Feind auf sich aufmerksam machen, sich dann von diesem abwerben lassen und über Umwege ein Komplott gegen Mundt einfädeln, um ihn so ausschalten zu können. Erst als Leamas sich bereits hinter dem Eisernen Vorhang befindet, wird ihm bewusst, dass er nur über einen Bruchteil seiner tatsächlichen Mission informiert wurde und dass er und vor allem sein Seelenheil im internationalen Spiel der Gewalten eine vollkommen entbehrliche Größe darstellen.

Bedrückendes Drama, das wie ein empörter Gegenentwurf zu der schönen, bunten Oberflächenwelt eines James Bond und seiner Epigonen auftritt. Zum kargen Schwarzweiß des New British Cinema bewewht sich ein fetthaariger Richard Burton mit zerbeultem Parka und einer nahezu riechbaren Whiskey-Fahne durch eine graue Realität der Depression. Einsam und nicht besonders erfolgreich in seinem Job entpuppt sich Alec Leamas, nachdem er selbst sich im Inneren bereits über seine systemische Dysfunktionalität im Klaren ist, als Bausteinchen einer gewissenlosen Maschinerie, die nicht etwa leidenschaftlich, sondern mit kalter Präzision zu Werke geht und jeder Menschlichkeit abgeschworen hat, um wettbewerbsfähig bleiben zu können. Am Ende scheint Leamas' Weltbild infolge eines internen Verrats gegen ihn zumindest teilweise zurechtgerückt, denn es spielt keine Rolle mehr, ob Ost oder West, ob Kommunismus oder Kapitalismus. Es gewinnt nicht etwa der Systemtreueste, sondern derjenige, der am durchtriebensten und gewissenlosesten agiert. Nicht von ungefähr ist Mundt zugleich auch ein Altnazi.
Ritts Film war und ist ein Triumph und gilt, natürlich auch infolge seiner adaptiven Akkuratesse bezogen auf le Carrés kurz zuvor erschienenen Roman, bis heute als einer der wenigen aufrichtigen Spionagefilme. Vom eleganten product placement und den ausschweifenden Männerträumen eines 007 geradezu angewidert, spuckt "The Spy Who Came In From The Cold" dem Kalten Krieg verächtlich ins Gesicht. Nicht etwa aufgrund der Angst vor Dritten Weltkriegen und atomaren Erstschlägen, sondern weil er seine Schachfiguren einfach um ihr Glück betrügt und gewissenlos auffrisst.

9/10

Martin Ritt Spionage Kalter Krieg London Berlin DDR Niederlande John le Carré


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FEMME FATALE (Brian De Palma/F 2002)


"Isn't sugar better than vinegar?"

Femme Fatale ~ F 2002
Directed By: Brian De Palma

Nach einem aus dem Ruder gelaufenen Juwelendiebstahl bei den Filmfestspielen von Cannes verschwindet die durchtriebene Laure (Rebecca Romijn) mit der Beute. Unter ständiger Angst, von einem ihrer beiden Partner (Eriq Ebouaney, Thierry Frémont) gefunden und entdeckt zu werden, gelingt ihr schließlich über eine Kette unglaublichster Zufälle die Flucht in die Staaten. Sieben Jahre später kommt Laure, die sich jetzt Lily nennt, zusammen mit ihrem Gatten, dem US-Botschafter Watts (Peter Coyote) zurück nach Paris. Dort schießt der windige Paparazzo Bardo (Antonio Banderas) ein Foto von ihr, das in Windeseile die Titelblätter der Klatschjournaille belegt. Für die nunmehr enttarnte, jedoch nach wie vor durchtriebene Laure gilt es nun, in Windeseile einen Plan für die Flucht nach vorn auszutüfteln...

Nach "Mission To Mars" pendelt De Palma mit "Femme Fatale" nochmal lustvoll zwischen Absurdität und Kunst, diesmal jedoch auf deutlich vertrautrem, um nicht zu sagen 'irdischem' Terrain. Er lässt seine Geschichte die obskursten Haken schlagen und inszeniert dabei wieder so lustvoll wie vor zwanzig Jahren, als er seine Thriller-Hochphase mit "Dressed To Kill" und "Body Double" durchlebte. Allein die in Cannes spielende Anfangssequenz, die einen denkwürdigen Bogen zur Realität schlägt, indem eine echte Filmpremiere mit einem echten Film ("Est-Ouest") als Hintergrund für den Diebstahl des Trios dient, unterlegt mit einer musikalischen "Bolero"-Abwandlung, ist von höchsten künstlerischen Weihen. De Palma scheint wieder in alte Formalia hineinzufinden; möglicherweise erinnert ihn die europäische Location an "Obession" und lässt schlummernde artistische Sensoren wieder erwachen. Über den theatralischen Fortlauf der Geschichte, die dem Zuschauer gegen Ende ein paar Wendungen um den Latz haut, dass dieser schon eine Menge goodwill aufbringen muss, so er nicht gerade weiß, mit welchem Filmemacher man es hier zu tun hat, lohnt es kaum zu diskutieren. Dieser passt sich vielmehr einer Art Traumlogik des Kinos an, innerhalb deren wabernden Grenzen sowieso alles möglich ist und die zu Anfang des Films noch so vehement behauptete Realität bloß eine von vielen Wahrnehmungskonstanten. Ein kleines Meisterwerk, vielleicht nicht ganz so monumental wie frühere Ausläufer De-Palma'schen Schaffens, aber immer noch brillanter als 95 Prozent von allem Anderen.

9/10

Brian De Palma Paris Heist Traum Femme Fatale neo noir Cannes


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SPOORLOOS (George Sluizer/NL, F 1988)


Zitat entfällt.

Spoorloos (Spurlos verschwunden) ~ NL/F 1988
Directed By: George Sluizer

Eine Reise nach Frankreich endet für das junge Amsterdamer Paar Rex (Gene Bervoets) und Saskia (Johanna ter Steege) abrupt und verfrüht an einer Autobahntankstelle bei Nimes. Saskia, die kurz Getränke holen will, verschwindet und ist hernach wie vom Erdboden verschluckt. Drei Jahre später ist die Fahndung nach ihrem Verbleib für Rex zu einer existenzbestimmenden Obsession geworden. Da wird Saskias damaliger Entführer, der nach außen hin gefasste Familienvater und Chemielehrer, tatsächlich jedoch von gewaltigen psychischen Untiefen geprägte Raymond (Bernard-Pierre Donnadeu) auf Rex aufmerksam. Bald fasst er einen Plan, um Rex' aufdringliche Schnüffelei zu unterbinden: Er will sich ihm vorstellen und ihn auffordern, dasselbe Schicksal wie Saskia zu durchleben. Danach wären sämtliche Fragen geklärt...

Sluizers böser kleiner Kidnapping-Film, der mit der Erfüllung einer archaischen menschlichen Urangst schließt, lohnt immer wieder das Anschauen. Die teils achronologische Erzählweise, die den jeweils zur Besessenheit gewordenen Alltag zweier von unerreichbaren Zielen träumender Männer konterkariert, gerät zum Bestandteil eines der vermutlich ausgefeiltesten und cleversten Thrillerscripts seiner Zeit. Wenngleich Sluizers recht bieder gestaltete, manchmal fernsehfilmartig wirkende Inszenierung einer solchen Parallele auf den ersten Blick widerspricht: Motivik und Geschichte hätten Hitchcock ganz bestimmt in höchste Wallungen gesetzt und unter seiner Ägide einen auch formal makellosen Film zu Tage gefördert. So lebt "Spoorloos" vornehmlich von seiner ausgebufften Montage, die in einem verstörenden Finale gipfelt und mit einem letzten Close-Up auf Donnadeus üblicherweise zwischen verschlagen und freundlich oszillierendem, in dieser Situation jedoch nachdenklichem Gesicht zumindest den Hauch einer Gewissheit hinterlässt, dass dieser Mann mit seiner Schuld nicht lange wird leben können. Ein leidlich schwacher Trost angesichts seiner ungeheuerlichen Verbrechen.

8/10

George Sluizer Niederlande Frankreich Kidnapping Madness Duell


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25TH HOUR (Spike Lee/USA 2002)


"Shit, Mr. Brogan! I do believe you're fucked royally! Shiiit!"

25th Hour (25 Stunden) ~ USA 2002
Directed By: Spike Lee

Wie verbringt man seine letzten Stunden in Freiheit vor einer in unmittelbarem Anschluss zu verbüßenden, siebenjährigen Haftstrafe? Der New Yorker Monty Grogan (Edward Norton) entscheidet sich für Grundsätzliches: Ein letzter Spaziergang mit dem geliebten Hund am Hudson, ein letztes gutes Steak mit dem Vater (Brian Cox), eine letzte nächtliche Sause mit den zwei besten Freunden (Barry Pepper, Philip Seymour Hoffman). Dazu die quälende Frage danach, wer Monty nun eigentlich auflaufen lassen und dafür gesorgt hat, dass die Cops in seiner Wohnung kiloweise Heroin und Bargeld finden konnten? Womöglich Montys Freundin Naturelle (Rosario Dawson)? Am Ende ist selbst die Beantwortung dieses Problems jedoch nurmehr peripher: Monty geht ins Gefängnis, und das zu Recht. Danach, das weiß er, wird er als gebrochener Mann zurückkeheren. Auch Hypothesen und Träume über eine mögliche Flucht gen Westen retten ihn nicht vor dem Unausweichlichen.

Mit "25th Hour" und eigentlich bereits mit dem zuvor inszenierten "Summer Of Sam" erreichte Spike Lee eine Art künstlerische 'new adulthood'. Urplötzlich wurden jetzt Geschichten von Menschen erzählt, weitestgehend unabhängig von Hautfarbe oder Ethnie, in denen allein die Figuren und ihre Geschicke im Zentrum stehen und kein pädagogische oder sozialkritische Kampfschrift. "25th Hour" ist bestenfalls über die Form sowie bekannte inszenatorische trademarks und/oder Manierismen als originäres Spike-Lee-Werk identifizierbar, ansonsten handelt es sich primär um das Werk eines klugen und eben erwachsenen Filmemachers. Terence Blanchard hat vielleicht seinen schönsten Score für einen Lee-Film komponiert, Klänge des Abschieds, versetzt mit bleierner Traurigkeit. Ein Einzug ins Gefängnis, das weiß Monty Brogan, ist für ihn vergleichbar mit einem Trip in die neunte Hölle. Als bürgerlich erzogener, gut aussehender Frühdreißiger, das ist ihm durchweg bewusst, werden ihn hier unweigerlich psychischer und physischer Terror, Misshandlung und Vergewaltigung in Empfang nehmen. Letzten Endes bleiben nurmehr der nachhaltige Bruch der Seele oder Selbstmord als Alternativen. "25th Hour" stellt somit gewissermaßen auch die Chronik eines angekündigten Todes dar. Dabei vegetieren auch Montys aus demselben Milieu stammende Freunde jenseits der Dreißig im Prinzip vor sich hin: Frank (Pepper) hat als Broker einen völlig amoralischen Job und ist längst von Zynismus und Sexismus vereinnahmt; Jacob (Hoffman) ist ein dicklicher, einsamer Literaturlehrer, einer kessen, etwa halb so alten Schülerin (Anna Paquin) verfallen. Wo Monty sie zumindest als guter Freund und Ratgeber stützen konnte, entfällt mit seiner baldigen Absenz auch bei ihnen eine existenzielle Konstante.
Schließlich markiert "25th Hour" innerhalb von Lees Œuvre auch jenes Nine-Eleven-Epos, das sich viele New Yorker Filmemacher zu Beginn des Jahrtausends schuldig waren. Der Ground Zero liegt gut einsehbar vor Franks Hochhausapartment wie ein gigantisches Mahnmal aus Schutt, in dem selbst nach Sonnenuntergang die Arbeiter noch damit beschäftigt sind, für Ordnung zu sorgen. Sicherlich ist dieses Bild auch dazu anetan, Trost zu spenden, weiß man doch, dass dem Naturgesetz des Zyklus zufolge hinter jedem Ende gleichfalls ein Anfang wartet. Dennoch ist jenes Ende zunächst mal schwer zu verdauen. Wie Lees tadelloser Film.

10/10

Spike Lee David Benioff New York Nacht Hund Drogen Nine-Eleven


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CLOCKERS (Spike Lee/USA 1995)


"If God created anything better than crack cocaine he kept that shit for hisself."

Clockers ~ USA 1995
Directed By: Spike Lee

Der in den Nelson-Mandela-Projects in Brooklyn wohnende, junge Strike (Mekhi Phifer) ist ein 'Clocker', was bedeutet, dass er als Teil eines großen Pushernetzwerks Crack für den kompromisslosen Großdealer Rodney (Delroy Lindo) vertickt, eine Art ungekrönten König der Projects. Weil das Pushen auf der Straße Strike zunehmend stresst und Nerven kostet - er leidet trotz seines Alters bereits an einem hefigen Magengeschwür - sehnt er sich nach einer etwas ruhigeren Position. Rodney sichert ihm diese zu - als Geschäftsführer einer örtlichen Burgerbude, die wiederum als Tarnung für Rodneys Crackgeschäfte fungiert. Der einzige Haken besteht darin, dass Strike zuvor den bisherigen Filialchef (Steve White) umlegen muss. Nach dessen gewaltsamem Ableben wird der Cop Klein (Harvey Keitel) auf Strike aufmerksam, muss jedoch Strikes sich zu der Tat bekennenden Bruder Victor (Isaiah Washington) in Gewahrsam nehmen. Für Strike wird derweil die Situation auf der Straße immer brenzliger: Nicht nur, dass Klein ihn permanent aufsucht und öffentlich verhört, es sitzen ihm auch noch der um seine Freiheit fürchtende Rodney, der verrückte Killer Errol (Tom Byrd) und der Streifenpolizist André (Keith David) im Nacken...

Nachdem zunächst Martin Scorsese Richard Prices ursprünglich in der Bronx angesiedelten Roman verfilmen wollte, sich dann aber dem ambitionierten Gangsterepos "Casino" widmete, übernahm Spike Lee die Inszenierung und Scorsese blieb immerhin als Co-Produzent an Bord. Lee macht aus der komplexen Geschichte mit zwei gleichberechtigten Protagonisten ein sozial engagiertes Brooklyn-Porträt, das zeigt, wie die gegenwärtige afroamerikanische Gemeinde sich dank gewissenloser Verbrecher wie Rodney Little selbst auffrisst. Dem berüchtigten Rattenfänger gleich schart Rodney, der als legale Fassade eine kleine Trinkhalle besitzt, zunächst sämtliche farbigen Jungs des Viertels über zehn Jahren um sich, beschäftigt sie für ein Taschengeld und kleine Geschenke, um sie dann ein paar Jahre wie eine fette Spinne später als 'Clockers' in sein komplexes Dealernetz einzuflechten. Strike ist eines der Opfer Rodneys und wandelt damit permanent auf Messers Schneide. Mittlerweile ist er jedoch alt genug, um seine gefährliche Situation zu realisieren - und die Sackgasse, in der er sich befindet. Doch der Strudel hat bereits einen zu hohen Sog entwickelt: Strike zieht seinen älteren Bruder Vic, einen eigentlich ehrbaren und besonnenen Familienvater sowie den ihn anhimmelnden kleinen Shorty (Peewee Love) mit in den Abgrund. Seine letzte Chance besteht schließlich in einer Flucht ohne Rückfahrkarte.
Eine von Lees vordringlichen Stärken besteht in der Inszenierung von Charakteren. Mit wenigen Ausnahmen ist Mekhi Phifer fast in jeder Szene des Films zu sehen und hinter dem vordergründig bildungsfernen ghetto kid entspinnt sich langsam das Bild eines ebenso komplexen wie bemitleidenswerten jungen Mannes. Ähnliches gilt auch für die interessanten Nebenfiguren wie den am amerikanischen Albtraum partizipierenden, ebenso charismatischen wie furchteinflößenden Rodney (Delroy Lindo in seiner stärksten Rolle) oder den Strike im Roman glreichgesetzten Rocco Klein, von Keitel in der ihm wie üblich zukommenden, coolen Art und Weise interpretiert. Hinzu kommen eine mit Farbfilter und hoher Körnigkeit "beschwerte" Photographie, die "Clockers" grandios-satte Bilder beschert sowie einige sich niemals abnutzende, herrliche Regieeinfälle wie etwa die brillante visuelle Vermischung von Verhör und Zeugenerinnerung, bekannt aus Fleischers "The Boston Strangler" oder Lees mittlerweile zum Markenzeichen avancierender, personenzentrierter Dollyshot, den man aus "Mean Streets" kennt.
Wiederum ein grandioser Joint.

9/10

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CATCH ME IF YOU CAN (Steven Spielberg/USA, CA 2002)


"I love my job."

Catch Me If You Can ~ USA/CA 2002
Directed By: Steven Spielberg

New York, 1964: Die Scheidung des Ehepaars Abagnale (Nathalie Baye, Christopher Walken) führt dessen Filius Frank Jr. (Leonardo Di Caprio) auf die Skrupellosigkeit der Finanzämter zurück, die seinen Vater in den Konkurs getrieben haben. Mit sechzehn Jahren reißt Frank von zu Hause aus, stets den großen, naiven Plan im Blick, viel Geld zu machen um so die Beziehung seiner Eltern zu kitten. Daraus wird bald eine kriminelle Karriere. Frank lernt rasch, dass Kleider Leute machen und wird darüber hinaus nach und nach zum Hochstapler und professionellen Scheckbetrüger, der sich falsche Ämter als Pilot, Kinderazt und Anwalt ergaunert, bis er von seinem emsigen Verfolger, dem FBI-Agenten Hanratty (Tom Hanks), irgendwann in Frankreich geschnappt werden kann.

Gepflegtes Unterhaltungskino, das mit seiner Darstellung fast intimer, fragiler Menschlichkeit auf den ersten Blick so gar nicht zu Spielbergs jüngerem Bombastkino passen will. Dann jedoch kommen wieder die oftmals verwendeten Motive zum Vorschein, hier freilich unter etwas umgedrehten Vorzeichen. In den Personen der naiven Träumer Vater und Sohn Abagnale findet sich nachgerade etwas von Spielbergs eigener Persönlichkeit wieder und der Topos 'Familie' präsentiert sich unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich im Begriff des Bruchs statt wie bisher in seiner konsolidierenden Ausformung, sowie, ergänzend dazu, die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Unausweichlichen. Frank Abagnale Sr. (Christopher Walken in einer seiner exzellentesten Darstellungen) durchlebt seinen sozialen Niedergang unter stoisch tapferer Realitätsleugnung; nicht er würde sukzessive vom System zerbrochen, sondern wäre letzten Endes derjenige, der die Behörden permanent an der Nase herumführe. Als sein Filius irgendwann diese mangelnde Fähigkeit zur Selbsteinschätzung begreift, ist er in seinen eigener Welt längst zum monströsen, kriminellen Äquivalent seines Vaters herangereift, zu einem, der seine lausbübischen Aktivitäten über die Rache am System rechtfertigt; tatsächlich jedoch bitterlich vereinsamt und schließlich ausgerechnet in seinem offiziellen Häscher einen Ersatzvater findet.
Ein genauerer Blick auf die personelle Konstellation verrät also doch Spielbergs gesteigertes Interesse an diesem Stoff und er hat einen für seine Verhältnisse äußerst unverkrampften, leichten und wohlfeil konsumierbaren Film daraus gemacht, der vor allem auch seine eigenen, in ständiger Weiterewegung befindlichen Lernprozesse als Filmemacher verdeutlicht.

8/10

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LA CITTÀ SCONVOLTA: CACCIA SPIETATA AI RAPITORI (Fernando Di Leo/I 1975)


Zitat entfällt.

La Città Sconvolta: Caccia Spietata Ai Rapitori (Auge um Auge) ~ I 1975
Directed By: Fernando Di Leo

Als ein Gangstersyndikat Antonio (Francesco Impeciati), den jungen Sohnemann des reichen Bauunternehmers Filippini (James Mason) entführt, nehmen sie aus Gründen der Bequemlichkeit auch gleich noch Antonios Freund Fabrizio (Marco Liofredi) mit. Dessen Vater, der verwitwete KFZ-Mechaniker Mario Colella (Luc Merenda), könnte jedoch bestenfalls Almosen als Lösegeld berappen. Der korrupte Filippini erweist sich indes als höchst geizig und ziert sich, die verlangte Summe zu zahlen, bis die Entführer Fabrizio als Warnung hinrichten. Für Colella gibt es kein Halten mehr: Im Alleingang bringt er das gesamte Syndikat zur Strecke.

Profitorientiertes Kidnapping zählte im Italien der Siebziger zum kriminellen Tagesgeschäft, wie es auch Di Leos Film recht schön veranschaulicht. Die Polizei, selbst in Person ehrbarer Beamter wie des in den Fall involvierten Commissario Magrini (Vittorio Caprioli), resigniert angesichts der Ohnmacht, die sie tagtäglich erleben muss. Auf der anderen Seite gibt es die reichen Großbürger, die ihr Kapital selten mit feineren Methoden erwirtschaftet haben als es nunmehr die sie erpressenden Kidnapper tun. Eifersüchtig wie ein seinen Knochen bewachender Köter weigern sie sich, auf die Lösegeldforderungen einzugehen und schachern um die Leben ihrer Lieben. Was passiert, wenn da eine entschlossene Seele vom anderen Ende der Nahrungskette, nämlich ein ebenso grundsolider wie entschlossener Malocher, in eine solche Geschichte verwickelt wird und nichts tun kann als warten, zuschauen und schließlich verzweifeln, genau davon erzählt "La Città Sconvolta". Das dritte Filmakt widmet sich ganz dem ebenso unbarmherzig wie minutiös ausgeführten Racheplan Colellas, dessen Vergeltung keine Atempause kennt und der seinen großen Kehraus ebenso zielstrebig bis zum allerletzten Hintermann durchführt. Wie gut schließlich einer wie Di Leo solche Sachen in Szene setzen kann, das weiß man ja.

7/10

Fernando Di Leo Mailand Kidnapping Rache Selbstjustiz


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ICH SPRENG' EUCH ALLE IN DIE LUFT (Rudolf Zehetgruber/BRD 1968)


"Was würde wohl Sergeant Blomfield dazu sagen?"

Ich spreng' euch alle in die Luft ~ BRD 1968
Directed By: Rudolf Zehetgruber

Johnny (Werner Pochath), der jüngere Bruder des beim letzten Coup der beiden zu Tode gekommenen Ganoven Blincky Smith (Herbert Fux), will Rache für das Geschehene. Verantwortlich für Blinckys Tod macht Johnny allein den umtriebigen Sergeant Blomfield (Götz George). Kurzerhand besetzt Johnny, eine Handfeuerwaffe und ein Fläschchen Nitroglycerin im Gepäck, Blomfields Revier in East London. Dumm nur, dass der Sergeant gar nicht vor Ort, sondern unterwegs und mit einem rätselhaften Mordfall in einer noblen Villengegend befasst ist. So hält Johnny Blomfields Kollegen kurzerhand als Geiseln...

Deutscher Krimisleaze aus den späten Sechzigern, der gleichfalls ein bisschen was von den Wallace-Adaptionen und ein bisschen was von Rolands und Olsens St.-Pauli-Geschmiere im Gepäck trägt. Als Handlungssetting muss einmal mehr London herhalten; offenbar klingen englische Namen und Ortsbezeichnungen etwas kosmopolitischer und waren dazu angetan, die spätwirtschaftswunderliche Republik in etwas exotischere Sphären zu versetzen. "Ich spreng' euch alle in die Luft", der später als "Mad Jo" und noch später als "Der Superbulle" wiederveröffentlicht wurde, ist natürlich sehr witzig und baut seine Nägelkaukalkulation auf denkbar putzigste Art. Die Stuntdoubles sehen allesamt garantiert völlig anders aus als ihre Vorbilder und es gibt viel zu lachen über manch einen Troglodyten in Polizeiuniform und die tief verwurzelte, hausbackene Misogynie des Films. Umso erstaunlicher, welch großartige Besetzung Zehetgruber beieinander hatte: Neben George, Pochath und Fux finden sich noch Anthony Steel, Walter Barnes, G.G. Hoffmann, Siegfried Wischnewski, Karl Schönböck und Eddi Arent, als comic relief natürlich.
Lohnt für Freunde des Nostalgisch-Abseitigen das Risiko eines Blicks.

6/10

Sleaze Europloitation London Rudolf Zehetgruber





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