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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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SHADOW OF A DOUBT (Alfred Hitchcock/USA 1943)


"Go... away!"

Shadow Of A Doubt (Im Schatten des Zweifels) ~ USA 1943
Directed By: Alfred Hitchcock


Die grüblerische Charlie (Teresa Wright), ein nicht ganz alltäglicher Teenager aus dem kalifornischen Kleinstädtchen Santa Rosa, sieht nurmehr eine Möglichkeit zur Aufhellung ihres von latenter Depression gefährdeten Alltags: Ihr Lieblingsonkel Charles (Joseph Cotten), den sie als lebenslustigen, warmherzigen Menschen im Hinterkopf hat, muss her. Bevor Charlie ihm jedoch ihre Einladung telegraphieren kann, hat sich Charles schon selbst angekündigt. Fast zeitgleich mit ihm treffen zwei angebliche Demografen (Macdonald Carey, Wallace Ford) in Santa Rosa ein, die sich ziemlich rasch als Polizisten entpuppen. Der Grund für ihr Kommen: Sie verfolgen Charles, da er ihm dringenden Verdacht steht, ein gesuchter Frauenmörder zu sein. Charlie erscheint diese Eröffnung ungeheuerlich, doch dann kommen ihr berechtigte Zweifel an Onkel Charlies Unschuld, die sich bald in schreckliche Gewissheit verwandeln...

Hitchcocks persönlicher Lieblingsfilm aus seinem Eigen-Œuvre trägt dieses große Attribut nicht zu Unrecht: "Shadow Of A Doubt" ist der bis hierhin vielschichtigste, gekonnteste, bravouröseste, kurzum: beste Film, den der Meister inszeniert hat. "Shadow Of A Doubt" erzählt gleich mehrere Geschichten parallel; die offensichtlichste davon schildert den Einbruch des puren Bösen in das kleinbürgerliche, amerikanische Familienidyll. Hinter dem bisher so beliebten Onkel Charlie, der sich nach außen stets erfolgfreich als freundlicher Herr von nebenan zu verkaufen wusste, verbirgt sich ein irrsinnig gewordener Misanthrop und Serienmörder, der die Leichtgläubigkeit von Familie und Freunden aufs Gemeinste für sich ausnutzt. Dabei ist seine Liebe zu seiner ältesten Nichte gleichen Namens, die über rein familiäre Zuneigung hinauszugehen scheint, anfänglich noch durchaus aufrichtig. Als das Mädchen Charlie dann von Onkel Charlies Schuld überzeugt ist und ihn mit ihrer Sicht der Dinge konfrontiert ist es, als reiße sein letzter Verbundsfaden zur Menschlichkeit. Von hier ab wird Onkel Charlie endgültig zum reinen Verbrecher. Dann haben wir noch eine märchenhafte Coming-Of-Age-Geschichte: Für die junge Charlie bricht mit der Ankunft ihres vormaligen Familienidols die Kindheit zusammen, was sich bereits zuvor durch eine von ihrer Familie hilflos beäugte Durchgeistigung ihres Seelenlebens bemerkbar gemacht hat. Wie sie selbst für ihren Onkel, so ist auch ihr Onkel für sie eine letzte Konnexion zum Besseren, die bitterböse enttäuscht wird. Für Charlie bedeutet diese Entdeckung jedoch eine zwar schmerzliche, letztlich jedoch notwendige Episode auf dem Weg zur Persönlichkeitsbildung und zum Erwachsenwerden. Schließlich porträtiert Hitch mit feiner Satire aufs Schönste die amerikanische Vorstadtfamilie. Besonders Patricia Collinge als Matriarchin und gute Seele des Hauses, deren Lebensinhalt von Vorgartenpflege, Kuchenbacken und Fensterputzen bestimmt ist und Hume Cronyn als Muttersöhnchennachbar mit ebenfalls psychotischer Determination sorgen für einige erheiternde Augenblicke.
Übergroßes Meisterwerk, ohne Wenn und Aber.

10/10

Alfred Hitchcock Serienmord Familie Satire Kalifornien Coming of Age


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DIE ZÄRTLICHKEIT DER WÖLFE (Ulli Lommel/BRD 1973)


"Frisches vom Schlachter Karl!"

Die Zärtlichkeit der Wölfe ~ BRD 1973
Directed By: Ulli Lommel


Der homosexuelle Glücksritter Fritz Haarmann (Kurt Raab) gaunert sich sich durch das zerbombte Bochum der Nachkriegszeit. Er bringt es sogar zum Polizeispitzel, und kann so fürs Erste einer geheimen Neigung unbehelligt weitergehen: Unter Vorlage seines Ausweises nimmt er Strichjungen mit nach Hause, bietet ihnen gegen Liebesdienste Kost und Logis und bringt sie dann um, indem er sie erdrosselt und/oder, einem Vampir gleich, zu Tode beißt. Das Fleisch der Ermordeten verschenkt und verkauft Haarmann an Nachbarn und Freunde. Als sein Freund Hans Grans (Jeff Roden) sich anderweitig orientiert, bricht Haarmanns Kartenhaus, auch unter dem Drängen der britischen Besatzer, zusammen.

Von der Weimarer Republik in die Trümmerjahre, von Hannover nach Bochum. Weil Lommel und Fassbinders 'Tango Film' nur ein sehr begrenztes Budget zur Verfügung stand, griff man auf die künstlerische Freiheit zurück, Zeit- und Lokalkolorit zu verändern - so jedoch nicht die allgemeine atmosphärische Vorstellung, die Haarmanns berühmten Fall als bundesrepublikanisches Schreckgespenst bis in die Gegenwart hinein begleitet. Kurt Raab verleiht dem oftmals semantisch falsch als 'Massenmörder' bezeichneten Haarmann ein seltsames, gleichermaßen zärtliches und dämonisches Antlitz. Wie ein glatzköpfiger Dandy wirkt er, von scharfem kriminellen Verstand und überhaupt hoher Intelligenz, welche er jedoch, einem Raubtier gleich, lauernd verbirgt und nur im rechten Moment gebraucht. Freilich ist seine Triebgesteuertheit noch wesentlich übermächtiger, dabei sieht man Haarmann erst zum Schluss des Films, als er einem Lockvogel der Schupo auf den Leim geht, völlig losgelöst von aller rationalen Geistigkeit. Zwischendurch ahnt man seine Barbareien bloß, ähnlich der penetranten Nachbarin Frau Lindner (Margit Carstensen). Wenn Haarmann der Wirtin Louise (Brigitte Mira) wieder einmal eine Schüssel von frisch Geschlachtetem bringt, fröstelt man kurz, nur um dann wieder gierig die faszinierend-graue Tristesse des frühen Siebziger-Jahre-Ruhrgebiets in sich aufzunehmen.

8/10

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CRASH (David Cronenberg/CAN, UK 1996)


"Make it ragged and dirty."

Crash ~ CAN/UK 1996
Directed By: David Cronenberg


Nach einem schweren, selbstverschuldeten Verkehrsunfall, in den auch die Ärztin Helen (Holly Hunter), deren Ehemann dabei stirbt, verwickelt ist, entdeckt der Filmregisseur James Ballard (James Spader) bei sich einen ganz speziellen Fetisch: Die Verbindung von Autos und Koitus, besonders im Zusammenhang mit ausladend inszenierten Unfällen, verschafft ihm nicht nur höchste Erregung, sondern bringt auch eine neue Erotik in das verflachte Sexleben mit seiner Frau Catherine (Deborah Kara Unger). Zusammen mit Helen lernt James den Performance-Künstler Vaughan (Elias Koteas) kennen, der sich gänzlich dem Studium und Nachstellen spektakulärer Crashes verschrieben und eine entsprechende, seltsame Subkultur begründet hat. Tatsächlich erweist sich Vaughans Hang zum Destruktiven als fortgeschrittene Todessehnsucht, der in (noch) moderater Form auch James, Catherine und Helen nacheifern.

Zerstörerischer Sex, Verkeilung und Fusion von Fleisch und Metall und erneut eine gute Portion Freud. Eine nächtliche Massenkarambolage bringt den Thanatos-Eiferer Vaughan, der das "Ereignis" aus allen denkbaren Winkeln photographiert, in höchste Verzückung; Hauptobjekte seiner Aufmerksamkeit sind dabei die, die auf möglichst spektakuläre Weise ums Leben gekommen sind. Dieser eigenartigen Lust widmet Vaughan seine gesamte Existenz: Er und sein etwas tumbes Faktotum Colin (Peter MacNeill) imitieren berühmte Unfälle Prominenter im Zuge einer bizarren Form der Anarcho-Kunst; tödliche Folgen keineswegs ausgeschlossen. Vaughans und Colins größter Traum ist es, irgendwann den tödlichen Unfall von Jayne Mansfield, bei dem sie angeblich enhauptet wurde, nachzustellen. Als alter ego des Autors und loser Agent des Zuschauers begibt sich der an der Langeweile dees Lebens zu verzweifeln drohende James Ballard in diesen 'crash underground' und verliert sich darin irgendwann selbst. Allein die nächste Möglichkeit, einen weiteren Bleckorgasmus zu erlangen, ist noch von Bedeutung.
Cronenberg verurteilt seine Charaktere in keinster Weise; er dokumentiert lediglich, erwartungsgemäß beseelt von einer obsessiven Faszination. Besonders die zärtliche Darstellung und umschmeichelnde Photographie der beinahe monströs verunstalteten Gabrielle (Rosanna Arquette) waren ihm wichtig: Ihre verkrüppelten Beine stecken in einem Metallgestell, ohne dessen Hilfe sie sich nicht bewegen könnte, ihr rechtes Bein musste offenbar der Länge nach chirurgisch geöffnet werden um innerlich gerichtet zu werden. Für James Ballard (und wohl auch Cronenberg, dessen betont erotische Inszenierung einer dazugehörigen Szene Bände spricht) ist diese Art der Versehrung keinesfalls abstoßend, sondern im Gegenteil höchst stimulierend.
Vermutlich war es diese recht konsequent ausgespielte, ein wenig an Ôshimas "Ai No Korîda" erinnernde Parallelisierung von Eros und Thanatos, die die meisten Kritiker verstörte und entsprechende internationale Zensurmaßnahmen hervorrief. Für Cronenberg-Studenten ist "Crash" wie seine meisten Filme bis in die neunziger Jahre hinein indes unverzichtbar, weil von für seine Verhältnisse stark decodierter Gestalt und zutiefst entlarvend.

8/10

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NAKED LUNCH (David Cronenberg/CAN, UK, J 1991)


"I guess it's about time for our William Tell routine..."

Naked Lunch ~ CAN/UK/J 1991
Directed By: David Cronenberg


New York, 1953: Der als Kammerjäger arbeitende, drogensüchtige Underground-Autor William Lee (Peter Weller) erschießt im Rausch seine Frau. Daraufhin bekommt er von einem mannsgroßen Insekt, einem "Mugwump", den Auftrag, nach "Interzone" zu flüchten, einer Zwischenwelt, die von Tanger in Marokko aus betreten werden kann. Dorthin gereist, lernt er diverse in der Schriftsteller-, Drogen- und Homosexuellen-Szene verkehrende Menschen kennen, darunter den Marihuana-Fabrikanten Hans (Robert A. Silverman), die paraphilen Eheleute Joan (Judy Davis) und Tom Frost (Ian Holm), den Schweizer Dandy Cloquet (Julian Sands) und den Callboy Kiki (Joseph Scorsiani). Von den insektenähnlichen Kreaturen aus Interzone, die ihn als "Agenten" einsetzen, bekommt er indes ständig neue bizarre Aufträge, die irgendwie allesamt um seine Schreiberei kreisen. Am Ende kann er zwar aus Interzone flüchten, die äußere Realität bleibt jedoch unverändert.

Mit der Adaption des als unverfilmbar gelten, semi-autobiographischen Fragment-Romans des Beat-Autoren William S. Burroughs, der ihn tatkräftig bei der Entstehung unterstützte, realisierte Cronenberg sein nächstes Projekt. "Naked Lunch" verhandelt mittels einem konsequent herbeifabulierten Symbolismus gleichermaßen Burroughs' Sucht und seine Homosexualität, seine zwei prägendsten und dabei von ihm selbst so zutiefst verhassten Wesenszüge, die er sich selbst durch seine halluzinatorische Flucht in das Phantasieland "Interzone" erträglich schrieb und machte. Die immer neuen Rauschmittel, mit denen Lee versucht, seine vorherrschende Hauptdroge abzusetzen, treiben ihn jeweils immer tiefer in die Sphären des Rauschs hinein, derweil er seine sexuellen Bedürfnisse und Praktiken einer Armada von überdimensionalen Käfern zuschreibt, die ihm als ihrem willenlosen Objekt stets neue Missionen auferlegen. Erst als Lee als scheinbaren Drahtzieher hinter dem ganzen Gewirr einen vertrauenswürdig geglaubten Mediziner (Roy Scheider) ausmacht, gelingt ihm die Flucht aus diesem ihn gleichermaßen anziehenden und abstoßenden Pfuhl. Doch hinter der Grenze von Interzone wartet mit dem Land "Annexia" nurmehr ein neuer, ungewisser Schwebezustand.
Für Cronenberg, den um diese Zeit offenbar ganz analoge Themen bewegten wie Burroughs seinerzeit (davon künden bereits die "Naked Lunch" einbettenden Werke "Dead Ringers" und "M. Butterfly"), muss die Verfilmung von "Naked Lunch" eine ähnlich freischaufelnde, autotherapeutische Wirkung gehabt haben wie einst das Buch für den Autoren. In Benutzung ungewohnt kräftiger, heller Farben wagt sich Cronenberg außerdem so nah an komödiantische Züge heran wie sonst nie; die Auftritte seiner (von "Fly"-Sequel-Regisseur Chris Walas gefertigten) Schreibmaschinenkäfern und Mugwumps, die im Original Burroughs' Stimme erhalten haben und in der deutschen Fassung die erstaunlich identisch klingende von Märchenonkel Hans Paetsch, sorgen trotz ihres widerwertigen, schleimigen und rektal orientierten Äußeren stets für einen seltam-bizarren Humor, zumal man ja weiß, dass sie im Grunde bloß Lees Halluzinationen entspringen und somit nichts als Selbstgesprächspartner sind. Interessant noch die Verewigungen von Burroughs' Zeit- und Berufsgenossen unter veränderter Nomenklaur: Allen Ginsberg und Jack Kerouac, die Burroughs bei der Entstehung von "Naked Lunch" unerstützten und antrieben, sind als "Martin" (Michael Zelniker) und "Hank" (Nicholas Campbell) zu sehen, Paul und Sally Bowles als besagtes Ehepaar Frost.

10/10

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M (Fritz Lang/D 1931)


"Muss! Will nicht! MUSS! WILL NICHT!"

M ~ D 1931
Directed By: Fritz Lang


In Berlin geht ein pathologischer Kindermörder um, der nach außen hin unscheinbare Hans Beckert (Peter Lorre). Dieser versetzt nicht nur die Bevölkerung und die Polizei, allen voran Kriminalinspector Lohmann (Otto Wernicke), in Aufruhr, sondern auch das unter permanenten Großrazzien leidende, organisierte Verbrechen. Schließlich kommen die Unterweltler auf die zündende Idee, den noch anonymen Mörder mithilfe der städtischen Bettler zu finden, dingfest zu machen und ihn vor ihr hauseigenes Femegericht zu stellen.

Langs Meisterwerk in der restaurierten Fassung zu sehen, befreit vom Schmutz und Staub der Jahrzehnte und mattglänzend wie nie, ist, man kann es sich denken, ein wahrer Hochgenuss. Auch wenn "M" für mich kulturhistorisch betrachtet primär ein mit Döblins "Berlin Alexanderplatz" ranggleiches Porträt über die Hauptstadt der entstehenden und langsam kippenden Weimarer Republik (beides liest sich ganz gut als symbolbehaftete Fallstudie) darstellt - das eigentliche große Thema, das Lang zeit seiner Karriere bewegte - der gesellschaftlich Ausgestoßene im Angesichte der Lynchjustiz - wird hier bereits bis zur Vollendung ausgespielt, da es sich noch bewusst untendenziös gibt und die volle Entscheidungsgewalt seinem Publikum überlässt: Wie kann man einem Mann wie Hans Beckert in adäquater Weise begegnen? Die reale Antwort auf ebendiese Frage ergab sich wenige Wochen nach der Filmpremiere, als Peter Kürten, der "Vampir von Düsseldorf", zu dessen Fall "M" einige bewusste Analogien aufzeigte, seinem Scharfrichter begegnete und enthauptet wurde. Hier stand die soziale Bestialität der psychopathologischen für einen luftleeren Moment in nichts nach und Langs Film mit seinem bis heute unerreichten, ungeheuer intensiv aufspielenden Peter Lorre bekam seine vollendete historische Daseinsberechtigung. Was bleibt, ist Perfektion: gestern, heute, immerdar.

10/10

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CARLOS (Olivier Assayas/F, D 2010)


"This isn't my kind of terrorirism."

Carlos (Carlos - Der Schakal) ~ F/D 2010
Directed By: Olivier Assayas


Der Werdegang des unter dem Namen "Carlos" zu hohem internationalen Popularitätsgrad gelangten, venezolanischen Terroristen Ilich Ramírez Sánchez (Édgar Ramírez) ab 1972. Nachdem Carlos sich der palästinensischen Extremistenorganisation PFLP anschließt, tritt er mit dem Kidnapping einiger Minister von der Wiener OPEC-Konferenz im Jahre 1975 endgültig in das Licht der Öffentlichkeit. Wenngleich die Aktion im Sinne des Organisators bei Weitem nicht vollends zufriedenstellend verläuft, bleibt Carlos noch viele Jahre im Terrorgeschäft. Nach der Gründung seiner eigenen Gruppe, der OAAS, schlägt Carlos, gedeckelt von den Sowjets, sein Hauptquartier in Budapest auf und führt von hier aus mehr oder minder erfolgreich Aufträge durch, die von Waffenübergaben an die ETA über Anschlägen für die Araber bis hin zu verdeckten KGB-Aktionen reichen. 1994 wird er schließlich im Sudan festgenommen und der französischen Justiz überstellt.

Nicht allein Carlos' unter zumeist großer Medienaufmerksamkeit ausgeführte Terroraktionen dürften Assayas veranlasst haben, diesen fünfeinhalbstündigen Mammutfilm über ihn zu dirigieren; auch Carlos' Nebenstatus als eine Art Sub-Popstar, Hedonist und Womanizer wird seinen Beitrag dazu geleistet haben. Entsprechende Aufmerksamkeit widmet Assayas den "fiktionalisierten" Episoden aus Carlos' Privatleben: Seine zahllosen Affären mit schönen Frauen, die sich mal mehr, mal weniger als Sympathisanten der antiimperialistischen Sache verstehen, dabei eine mit seinen Grundsätzen unvereinbare Misogynie und seine heillos übersteigerte Egomanie. "Carlos" bildet somit auch eine willkommene Demystifizierung des linken Terrors der siebziger und frühen achtziger Jahre, indem er ihn als öffentlichkeitswirksame Plattform für bisweilen naive Selbstdarsteller entlarvt. Dabei formuliert Assayas vor einer nebenbei brillanten Songauswahl (u.a. New Order, Wire, The Feelies und The Lightning Seeds) sogar die zwischen brodelnd und gewagt oszillierende These, das Männer wie Carlos diesen Lebensstil aus rein egozentrischen Gründen wählen - International gesuchter Terrorist zu sein, bedeutete damals, als das entsprechende Bild sich nicht auf irgendwelche bärtigen, spinnerten Mullahs beschränkte, vor allem eines: Popularität. Carlos genießt die ihm zuteil werdende Heldenverehrung aus entsprechenden Kreisen. Junge Genossinnen werfen sich ihm an den Hals, er kann mit Waffen spielen, kubanische Zigarren rauchen, guten Scotch trinken und später, als die Ideale langsam schwammig zu werden beginnen, mit luxuriösen Autos fahren. Nicht das schlechteste Leben, obschon die weststaatlichen Konsequenzen dafür von einiger Dauer sind.

9/10

TV-Serie Olivier Assayas Historie period piece Biopic Terrorismus Naher Osten Paris


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DER SKORPION (Dominik Graf/D 1997)


"Auf was bist du?"

Der Skorpion ~ D 1997
Directed By: Dominik Graf


Der Münchner Polizist Josef "Jupp" Berthold (Heiner Lauterbach) ist einem Ecstasy-Ring auf der Spur, der mit besonders brutalen Mitteln arbeitet. Als die Verbrecher Bertholds Frau (Renate Krößner) unter LSD setzen und diese darauf bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wird, geht er umso vehementer gegen die Bande vor. Bertholds Sohn Robin (Marek Harloff) bendelt derweil ausgerechnet mit einer jungen Frau (Birge Schade) aus der "Szene" an.

Diese TV-Arbeit von Graf erweist sich zuweilen als nicht wenig sperrig. Der ganze Film ist, analog zu seinem Thema, gefilmt wie ein Trip, per stark nachbearbeitetem 35mm-Material. Extreme Überbeleuchtung, künstlich eingefügte Defekte und Schmutzpartikel sowie ein mitunter anstrengender Schnitt verdeutlichen primär die Amphetamin-Episoden von Bertholds Sohn Robin, der mit der Bekanntschaft der diesbezüglich höchst erfahrenen Daria in einen permanenten Ecstasy-Rausch abdriftet. Das Resultat erweist sich als interessant genug um als solide Graf-Arbeit zu bestehen, ermangelt jedoch meiner Wahrnehmung zufolge ein wenig der notwendigen emotionalen Involvierung. Möglich auch, dass eine wiederholte Betrachtung noch Zwiebelschichten erschließt, die mir bislang verborgen geblieben sind - wie gesagt macht der stark auf seine Oberfläche fixierte Film es einem nicht ganz leicht.

7/10

Ecstasy LSD Drogen TV-Film München Familie Dominik Graf


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THE YOUNG SAVAGES (John Frankenheimer/USA 1961)


"What do you want? What are you searching for?" - "The truth!"

The Young Savages (Die jungen Wilden) ~ USA 1961
Directed By: John Frankenheimer


In Harlem wird auf offener Straße ein fünfzehnjähriger, blinder, puertoricanischer Junge (José Perez) ermordet. Als Täter erweisen sich drei Jugendliche (Stanley Kristien, John Davis Chandler, Neil Nephew) zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren aus dem benachbarten italienischen Viertel. Die Anklage gegen sie vertritt Staatsanwalt Bell (Burt Lancaster), selbst ein Emporkömmling aus Harlem, voll von beruflichem Ehrgeiz und latentem Hass gegen die Zustände in seinem Stadtteil. Berufliche Recherche sorgt dafür, dass Bell die Aggressionen der Jugendlichen gegen sich und seine Familie schürt. Erst nach einer Extremsituation in der U-Bahn findet Bell die nötige Objektivität für die anstehende Gerichtsverhandlung.

Hartes Sozialdrama als Kinodebüt von Frankenheimer, das mit einem exzellent inszenierten "Knall" beginnt und sich bis zur obligatorischen courtroom sequence am Ende durchweg fesselnd belässt. "The Young Savages" greift das schon in den Jahren zuvor häufig bediente Thema der juvenile delinquents auf, der verwahrlosten Kids, die in den Straßen der Groß- und Kleinstädte aufzubegehren beginnen gegen muffige Autorität und soziale Perspektivlosigkeit. Ein Mord ohne Sinn ist hier der Dreh- und Angelpunkt, einer, in dem sich die hochgekochten Aggressionen mit aller Macht den Weg bahnen und der letzten Endes nur ein solches Medienecho arreicht, weil er von einem Gouverneurskandidaten (Edward Andrews) zum wahlrelevanten Politikum hochgespielt wird. Für den wie immer fabelhaft spielenden Burt Lancaster ist indes der obligatorische Wandel vom Saulus zum Paulus angesagt. Der ehrgeizige D.A. blickt über den Tellerrand seiner Profession und tut am Ende das Richtige. Abgesehen von dieser bald märchenhaft-überzeichneten, klischierten Figurenzeichnung ist Frankenheimers Film als reine Regieleistung bereits zu diesem frühen Zeitpunkt geprägt von höchster Könnerschaft.

8/10

John Frankenheimer Courtroom New York Ethnics


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FREAKS (Tod Browning/USA 1932)


"Gooble-gobble, gooble-gobble!"

Freaks ~ USA 1932
Directed By: Tod Browning


Der zwergenwüchsige Artist Hans (Harry Earles) aus dem Sideshow-Zirkus der Madame Tetrallini (Rose Dione) verliebt sich zur großen Enttäuschung seiner Verlobten Frieda (Daisy Earles) in die normalgroße Seilakrobatin Cleopatra (Olga Baclanova). Diese, eine zutiefst gierige und boshafte Person, macht sich einen Spaß daraus, die wertvollen Geschenke des vor Liebe blinden Hans anzunehmen und sich dabei vor der ganzen Zirkusgesellschaft über ihn lustig zu machen. Als Cleopatra erfährt, dass Hans eine großzügige Erbschaft im Rücken hat, geht sie sogar soweit, ihn mit Mordplänen im Hinterkopf zu heiraten. Doch sowohl Hans als auch die anderen körperlich deformierten Zirkusmitglieder kommen Cleopatra dahinter und rächen sich grausam an ihr und dem Kraftmenschen Hercules (Henry Victor), ihrem "partner in crime".

Mit dem erklärten Ziel, die gruseligen Horror-Talkies der Konkurrenz von Universal an schockierendem Effekt noch zu überbieten, verlangte MGM-Executive Irving Thalberg nach entsprechend rüdem Stoff. Die MGM entwickelte sich schließlich, mit Ausnahme vielleicht noch von der RKO, zum einzigen ernstzunehmenden Konkurrenten auf dem Gebiet des Horrorfilms dieser nicht nur für jenes Genre goldenen Jahre. Zwar hatte jedes Studio seine zwei, drei Vorzeigeprojekte, doch nur die genannten drei vermochten es, praktisch Klassiker in Serie hervorzubringen. Nachdem die Universal unter Carl Laemmle bereits "Dracula", Frankenstein" und "The Mummy" von der Leine gelassen hatte, zog MGM nach: Man entlieh "Dracula"-Regisseur Tod Browning bei der Konkurrenz, engagierte echte Sideshow-Mitarbeiter mit wirklichen physischen Abnormitäten und schuf einen Horrorfilm, der eigentlich gar keiner ist. Vielmehr erzählt "Freaks" ein soapiges Romantikdrama mit kriminalistischem Ausgang, das so ähnlich auch als späterer Noir-Stoff funktioniert hätte. Das von dem Film womöglich evozierte Grauen entstammt bekanntlich der Selbstprojektion des Publikums, das erstmal schlucken muss, dass die physisch normalgewachsenen die innerlich Verabscheuungswürdigen sind und die Deformierten und Behinderten die wahrhaft edlen Charaktere mit strengem Gemeinschafts- und Ehrenkodex. Um es den Leuten nicht ganz so schwer zu machen, bekamen sie die voll bei den Freaks inegrierten "Normalos" Phroso (Wallace Ford) und Venus (Leila Hyams) als Identifikationsfiguren mit auf den Weg.
Es lässt sich bis heute trefflich darüber streiten, ob der Film die Behinderungen seiner Akteure selbstzweckhaft ausbeutet oder ein humanistisches Pamphlet ist; Argumente gibt es hinreichend für beide Positionen. Als Film von allerhöchster atmosphärischer Qualität indes darf "Freaks" als unumstritten gelten. Dabei verachtete ihn das zeitgenössische Publikum als geschmacklos und unansehnlich: Das Werk wurde um ein Drittel gekürzt, für seinen Regisseur entwickelte es sich zu einer Sollbruchstelle des Karriere-Abstiegs und es war ein jahrzehntelanger Giftschrankkandidat bis zu seiner Wiederentdeckung durch die Gegenkultur der Sechziger. Eine entsprechend schöne Hommage bietet beispielsweise Bertoluccis "The Dreamers".

10/10

Behinderung Zirkus amour fou Tod Browning


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A PLACE IN THE SUN (George Stevens/USA 1951)


"Goodbye, George."

A Place In The Sun (Ein Platz an der Sonne) ~ USA 1951
Directed By: George Stevens


Der junge Herumtreiber George Eastman (Montgomery Clift) kommt nach Kalifornien, um in der Bademodenfabrik seines reichen Onkels Charles (Herbert Heyes) arbeiten zu können. Am Fließband lernt er die Arbeiterin Alice (Shelley Winters) kennen. Nah einer heftigen Affäre wird sie von ihm schwanger und erwartet von George, dass er sie heiratet. Dieser hat sich derweil jedoch in das aus wohlhabendem Hause stammende Society Girl Angela Vickers (Elizabeth Taylor) verliebt. Alice wird für George, der das süße Leben der reichen Gesellschaft zu schätzen beginnt, zu einem beschwerlichen Klotz am Bein und er beginnt zunehmend aggressive Gedanken gegen sie zu hegen. Schließlich kommt es zur Katastrophe.

"A Place In The Sun" gilt als einer der großen Hollywood-Klassiker und wird regelmäßig hinzugezogen, wenn es um repräsentative Kanonisierungen der amerikanischen Filmgeschichte geht. Und tatsächlich bietet Stevens' Romamadaption großatmiges Standesdünkel-Drama vom Feinsten. Ein Emporkömmling, der zunächst seine, aus großbürgerlicher Warte betrachtet ungebührliche Vergangenheit schwärzen muss, bevor er wirklich zu den oberen Zehntausend gehören kann, gerät in die Falle kapitaler Notkriminalität. Die "Mordszene" (die eigentlich bestenfalls eine halbe ist) auf dem finsteren, unenergründlich tief scheinenden Eistaucher-See bedeutet vermutlich Stevens' inszenatorische Sternstunde, "Shane" hin, "Giant" her. Und dann ist da ja noch die Liebe. Eigentlich kommt George Eastman ja gar nicht zu den Frauen - sie kommen zu ihm. Erst die rustikale Alice Tripp (Shelley Winters sah tatsächlich mal jung und rank aus), dann die ätherische Angela Vickers (Elizabeth Taylor war nie schöner) und beide brechen sie ihm auf ihre Weise das Genick. Immerhin kann George sich auf seinem letzten Gang ihrer beider aufrichtiger Liebe sicher sein.

9/10

amour fou Americana Kalifornien Theodore Dreiser George Stevens Courtroom





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