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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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DON'T GO IN THE HOUSE (Joseph Ellison/USA 1979)


"I tried to be nice and friendly - but you wouldn't listen..."

Don't Go In The House (Das Haus der lebenden Leichen) ~ USA 1979
Directed By: Joseph Ellison

Als seine herrische Mutter (Ruth Dardick) überraschend stirbt, bricht sich die infolge jahrelanger psychischer und physischer Misshandlungen aufgetürmte Misogynie des Arbeiters Donny Kohler (Dan Grimaldi) Bahn: Er beginnt, wahllos junge Frauen zu entführen und verbrennt sie in einem eigens hergerichteten, feuerfesten Raum mit dem Flammenwerfer. Donnys verzweifelte Versuche, mithilfe seines sich aufopfernden Kollegen Bobby (Robert Osth) oder dem örtlich tätigen Pater Gerritty (Ralph D. Bowman) zurüc in die Normalität zu finden, scheitern.

Ein bravouröser kleiner sickie, den ich leider erst jetzt zum ersten Mal gesehen habe, ansonsten gehörte er bei mir nämlich schon seit eh und je zum einschlägigen Olymp ähnlich gelagerter Killerfilme. An die 'Mutterstreifen' "Psycho", "Willard", "Carrie", "Maniac" und "Buio Omega" hat mich "Don't Go In The House" zwangsläufig erinnert, denn wie in all diesen wunderbaren Qualitätsarbeiten geht es auch hierin um einen einsamen, verwirrten jungen Menschen, der sich vom alles überstrahlenden Matriarchat seiner ebenso verrückten wie dominanten Mutter, erst im Zuge deren (u.U. selbst herbeigeführten, wenn nicht jedoch lang erhofften) Todes lösen kann und nunmehr beginnt, der Welt die grauenhaften Ausläufer seiner bereeits vor Jahren zertrümmerten Psyche aufzuzeigen. In Ellisons Film spielt zufdem das Feuermotiv als Symbol für Läuterung und Strafe eine gewichtige Rolle. Selbst dereinst mithilfe offener Flammen gequält, ist Donny zugleich tief verängstigt und beeindruckt von Flammen. Diese Pyromanie wird zum zusätzlichen Anstifter seiner verkorksten "Hexenverbrennungen". Dazwischen gibt es immer wieder faszinierende, Zeitkolorit transportierende Sequenzen, darunter eine, in der sich Donny für seinen ersten Discoabend beim Herrenausstatter ausstaffieren lässt ("Dynamite!").
Wie eingangs erwähnt ein eigentlich viel zu lang währendes Versäumnis, aber besser spät als nie.

8/10

Joseph Ellison Mutter & Sohn Serienmord Madness Disco Terrorfilm Independent New Jersey Slasher


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THE HUMAN CENTIPEDE II (FULL SEQUENCE) (Tom Six/USA 2011)


"You can't do this! It's a film! "The Human Centipede"'s a fucking film!"

The Human Centipede II (Full Sequence) ~ USA 2011
Directed By: Tom Six

Für den emotional völlig desolaten, debilen Parkhauswächter Martin Lomax (Laurence R. Harvey) bildet Tom Six' Film "The Human Centipede" eine Art heiligen Schrein, den er sich immer wieder anschaut und aufgrund dessen er daheim selbst stolz einen aggressiven Tausendfüßler hält. Eines Tages beginnt Martin dann, Menschen im Parkhaus zu überfallen und sie in eine eigens angemietete Lagerhalle im Londoner East End zu schaffen, wo er sie gefesselt und geknebelt als Geiseln hält. Sein Ziel: Einen menschlichen Tausendfüßler wie sein großes Idol Dr. Heiter (Dieter Laser) zu erschaffen. Als er zehn Probanden beisammen hat, beginnt er das große Experiment: unsteril und hondertprozentig medizinisch inakkurat...

"The Human Centipede II (Full Sequence)" ist in höchstem Maße abartig, pervers, provokativ und ersonnen von einem zweifelsohne latent abnormen Geist. Somit gestaltet es sich freilich - wie gewohnt im Falle bewusst kontrovers angelegter Kunst - als Naheliegendstes und Leichtestes, ihn zu hassen und zu verdammen, schon, um vor sich selbst und seinen Mitmenschen nicht selbst in den Verdacht zu gelangen, nicht mehr alle Nadeln an der Fichte zu haben, da man ja insgeheim etwas übrig haben könnte dafür.
Ich habe mich, vielleicht gerade deshalb und aus Prinzip, fest entschlossen, Six' in Eigensache hergestelltes Sequel zu mögen. "THCII" präsentiert nämlich nicht bloß eines pathologischen Gemüts Schöpfung, sondern, ebenso wie der erste Teil, eine zutiefst finstere, böse Groteske, ästhetisch und audiovisuell in Anbindung an das große Vorbild "Eraserhead" von höchster künstlerischer Könnerschaft und, und gerade das gefällt mir besonders, im Grunde für einen bestimmten (bezeichnen wir ihn großmäulig als 'elitären') Publikumszirkel geschaffen, der sich mit dem Werk und seiner ebenso gewagten wie widerwärtigen Bipolarität zwischen Könnerschaft und Kotzreiz zu arrangieren weiß. Mir fällt in meinem gesamten sozialen Umfeld niemand ein, dem ich "THCII" guten Gewissens vorführen oder gar anraten würde, schon, um nicht selbst in den Verdacht zu geraten, selbst einen kleinen Martin Lomax im Ohr zu haben. Wobei, der spricht ja eh nicht.

7/10

Tom Six London Madness Transgression Sequel Splatter


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THE REIVERS (Mark Rydell/USA 1969)


"You can be scared if you want to, but don't be afraid, son."

The Reivers (Der Gauner) ~ USA 1969
Directed By: Mark Rydell

Mississippi, 1905. Auf den zwölfjährigen Lucius McCaslin (Mitch Vogel), Spross der reichsten Familie im Umkreis, wartet eine viertägige Reise ins Erwachsenenleben. Während sein erzpatriarchalische Großvater Boss (Will Geer) unterwegs zu einer Beerdigung ist, reißt sich der Stallknecht Boon Hogganbeck (Steve McQueen), Lucius' bester Freund, den vielbeachteten Familienstolz, einen gelben 'Winton Flyer', unter den Nagel, packt Lucius ein und fährt mit ihm und dem farbigen Ned (Rupert Crosse), ebenfalls ein - negierter - Spross des McCaslin-Clans, nach Memphis um dort im Puff von Mr. Binford (Michael Constantine) mit seiner heimlichen Geliebten, der Hure Corrie (Sharon Farrell) einkleines Techtelmechtel zu begehen. Der eigentliche Ärger beginnt, als Ned das Automobil gegen das Rennpferd 'Blitz' eintauscht - im nasenweisen Glauben, dass dieses bei einem Rennen siegen und so den Wagen zurückbringen wird. Ausgerechnet Lucius soll Blitz zum Sieg führen...

Die von McQueens Solar mitproduzierte Adaption des nur wenige Jahre zuvor erschienenen, ebenso vielgepriesenen wie -gescholtenen Romans von Faulkner, nimmt sich ein wenig aus wie ein stark romantisierter Heimatfilm des amerikanischen Südens. Der Held der Geschichte, das ist neben dem gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehenden Ich-Erzähler Lucius McCaslin vor allem der Hallodri Boon Hogganbeck, eine verschmitzte Filourolle für McQueen, in der er seiner Liebe für klassische Autos ebenso fröhnen kann wie der für augenzwinkernde Charaktere und sagenhafte Womanizer. Als eine Art 'Antipädagoge' ist ihm jedoch ebenso wie an seinem persönlichen Spaß daran gelegen, seinen Freund und Schützling Lucius, der bisher nie aus mit den Geschicken der erwachsenen Manneswelt vertraut zu machen: Er sieht erstmals ein Bordell von innen, schläft unter einem seine ganze Aufmerksamkeit fordernden Panoramagemälde einer schönen Nackten und findet in Boons Stammhure Miss Corrie eine merkwürdige Mischung aus Mutterersatz und erotischer Projektionsfläche. Mit deren verwahrlostem Neffen Otis (Lindy Davis) liefert er sich ihr zu Ehren einen Kampf bis aufs Blut, lernt später hautnah den unter der Oberfläche brodelnden, allgegenwärtigen Rassismus jener Gefilde kennen, personifiziert durch den widerlichen Gesetzeshüter Lovemaiden (Clifton James) und geht trotz schlechten Gewissens am Ende als großer Tagessieger aus all diesen Ereignissen hervor. Ohne es ihm direkt zu zeigen, kann selbst sein Großvater nicht verhehlen, dass dieses zwischen schmutzig und glorios chargierende Abenteuer seines Enkels ihn zu einem stolzen Mann macht.
Mark Rydell ist tragischerweise eine der missachtetsten Figuren der Ära New Hollywood, für den ich immer wieder gern eine Lanze breche, besaß er doch ein untrügliches Gespür dafür, die dem klassischen Studiokino eigenen, epischen Erzählstrukturen, so etwa romantische Erzählungen von gestern in stolzem Scope, mit den neuen Ideen künstlerischer Autonomie zu verknüpfen. Vielleicht lag es daran, an dieser bewussten Verweigerung, sich für eine Seite zu entscheiden, dass Rydell nie ganz das Renommee erhielt, dass er verdient hätte.

8/10

Mark Rydell period piece Südstaaten Mississippi Tennessee Memphis Bordell coming of age Freundschaft Pferd Rassismus Familie William Faulkner New Hollywood


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SIGHTSEERS (Ben Wheatley/UK 2012)


"It was an accident, Mum." - "So were you."

Sightseers ~ UK 2012
Directed By: Ben Wheatley

Die mit ihrer herrischen Mutter (Eileen Davis) zusammenhausende Tina (Alice Lowe) lernt den etwas exzentrisch anmutenden Camper Chris (Steve Oram) kennen und unternimmt mit ihm kurzerhand eine mehrwöchige Tour über die britische Insel. In deren Verlauf entpuppt sich Chris als Serienmörder, der unliebsame Zeitgenossen aus nichtigen Gründen aus dem Weg räumt. Um sich ihm anzupassen, beginnt bald auch die schwer verknallte Tina damit, sie irritierende Personen zu beseitigen.

Schwarzhumorig bis ins Mark und flankiert von einem grandiosen visuellen Gespür lässt Wheatley die von seinen beiden Hauptdarstellern verfasste Reise ins Verderben vom Stapel. Wobei diese Bezeichnung nicht ganz zutrifft, denn für Tina entpuppt die Fahrt mit Chris sich als von einigem emanzipatorischen Wert geprägt. Ob sie es am Ende schaffen wird, sich auch noch von ihrer dominanten Mutter zu lösen, bleibt der Zuschauerfantasie überlassen, zu rechnen ist damit jedoch.
"Sightseers" ist vornehmlich das bewusst überspannte Porträt einer sich ihrer Umwelt andienenden Enddreißigerin, die in ihrem Leben bis dato nichts anderes als Dependenz und Assimilation gelernt hat und erst durch einen aus der gesellschaftlichen Norm entgleisten Soziopathen den Mut zur Unabhängigkeit bezieht. Wie dieser im Grunde sehr feministisch geprägte Ausbruchsbericht jedoch dargeboten wird, das macht Wheatleys beachtlichen Film so wunderhübsch fies und - bei aller detailversessenen Liebe zu seinen Figuren - exquisit bösartig.

9/10

Ben Wheatley England Road Movie Camping Serienmord Couple on the Loose amour fou Schwarze Komödie


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PSYCHOMANIA (Don Sharp/UK 1973)


"It's easy to kill live people. Watch this!"

Psychomania (Der Frosch) ~ UK 1973
Directed By: Don Sharp

Weil die wohlhabende Lady Latham (Beryl Reid) einst einen dämonischen Pakt geschlossen hat, kann sie Verbindung zum Geisterreich aufnehmen. Davon profitiert auch ihr Sohn Tom (Nicky Henson), Vorsitzender der Motorradrocker "The Living Dead", der herausfindet, dass ein Freitod ihn unsterblich macht. Gesagt, getan - und damit nicht genug: Auch Toms Clique folgt ihm bereitwillig ins Jenseits und kehrt fast geschlossen und nunmehr rundum gerüstet von dort zurück. Gemeinsam macht die Gang die Gegend noch unsicherer als vorher, für Inspektor Hesseltine (Robert Hardy) ein kaum in den Griff zu bekommendes Problem. Bis Mutter Latham einschreitet...

Lederjackenbewährte Motorradgangs sind ohnehin schon ein maßloses gesellschaftliches Übel, zombifizierte Motorradgangs ein noch weitaus größeres - zumindest wenn man Don Sharps spaßigem "Psychomania" glaubt, der seine untoten Protagonisten mental und physisch vollkommen unverändert weitermarodieren lässt. Der eigentliche vom Film suggerierte Albtraum besteht nicht wie üblich in schlurriger Fäulnismaskerade, sondern darin, dass die jugendlichen Unholde nach spektakulärem Ableben und Rückkehr ganz ohne Angst vor jedweden Konsequenzen randalieren können. Einmal und für immer tot, vermag ihnen nichts mehr etwas anzuhaben; sie sind scheinbar nicht mehr nur unverletzbar, sondern darüberhinaus auch mit übermächtigen Kräften "gesegnet". Und so offenbar auch ihre heißen Öfen, mit denen sie wie zum Beweis für ihre neuen Superkräfte durch massive Steinwände brettern. Ein Überfall auf den örtlichen Gemischtwarenladen, bei dem sie selbst vor einem Baby nicht halt machen, ist jedoch zuviel des Bösen und so muss die einzige Möglichkeit, die Höllenrocker an ihren Bestimmungsort zu entsenden, genutzt werden.
Man wundert sich nicht wenig angesichts Sharps ansonsten recht konsequent gesponnenen Mummenschanzes: Machen den Rockern Schnaps und Marihuana noch genau so viel Freude wie zu Lebzeiten? Fließt überhaupt noch Blut in ihren Adern, verdauen sie noch? Immerhin geht es ihnen ja sonst blendend. Müßige, im Prinzip rhetorische Fragen, da selbst ihr zweites Deibelsleben nur kurz währt. Ein Höhepunkt zeitgenössischer Innenausstattung übrigens Beryl Reids stilsicher gestaltetes Wohnzimmer. Darauf kann man nur neidisch sein.

6/10

Don Sharp Zombies Rocker Subkultur England Surrey Kleinstadt Madness


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CHRISTIANE F. - WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO (Uli Edel/BRD 1981)


"Wir packen das. Nur noch einen letzten Schuss..."

Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ~ BRD 1981
Directed By: Uli Edel

Die gerade 14 gewordene Christiane (Natja Brunckhorst) ist heroinsüchtig. Nach einem schnellen Einstieg über Gras, Amphetamine, LSD und erste Sniff-Erfahrungen gehört sie zu den minderjährigen Drückern, die, je nach häuslicher Situation, geneigten Freiern Körper und Seele am Berliner Bahnhof Zoo feilbieten. In naiver Liebe zu dem gleichaltrigen, schon länger der "Szene" zugehörigem Detlef (Thomas Haustein) lässt sich Christiane mehr oder weniger bewusst auf den katastrophalen Lebenswandel, der sie immer weiter Spirale abwärts führt, bis ihr nur noch ein vorübergehender Wegzug in die Provinz das Leben rettet.

Als atmosphärisches Zeit- und Lokalporträt ist Edels (der kurz vor Drehbeginn für den von Produktionsseite geschassten Roland Klick einspringen musste) und Eichingers Adaption des immens populären, biographischen Buchs "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" der bis heute immer wieder rückfällig werdenden Heroinsüchtigen Christiane Felscherinow pures Kinogold. Die geschilderten Kultur- und Sozietätsartefakte, der Bahnhof Zoo, Westberlin insgesamt, das 'Sound' und David Bowie - insbesondere sein thematisch pointierter, wunderschöner Berlin-Song "Heroes" -, können dem Film jedoch seine beharrlich unangenehme Wirkung nicht nehmen. Neben "Requiem For A Dream" (den TV-Film "Der Pirat" hätte ich vielleicht noch im Kopf) dürfte dies nach wie vor die bedrückendste und unangenehmste filmische Auseinandersetzung mit dem Thema Heroin-Abhängigkeit sein. Sicherlich sollte Edels Werk auch bewusst eine pädagogische bzw. didaktische Dimension beinhalten, diese bleibt dank seiner ausgewogenen Nüchternheit jedoch stets subtil.
"Christiane F.", der Film, der weitaus faszinierter von seinem Sujet berichtet als die zugrunde liegende Biographie, ist vor allem Observation und Stimmungsspezifizierung; die Beobachtung eines jungen Lebens, das sich zunehmend der immer bestimmender werdenden Stumpfheit des Drogenkonsums und der Beschaffung verschreibt. Entscheidende inhaltliche bzw. authentische Details der Vorlage, so Christianes Behandlung durch die Entzugssekte 'Narconon' oder das zwischenzeitliche Leben bei ihrem ebenso besorgten wie hilflosen Vater spart der Film aus, was ihm gut bekommt und nie Gefahr laufen lässt, durch zuviel Ballast die ohnehin schon umfassende Erzählzeit zu sprengen. Wesentlich länger würde man es wohl auch kaum ertragen, der so hübschen Natja Brunckhorst bei ihrer sukzessiven Selbstverwahrlosung zusehen zu müssen.

9/10

Uli Edel Bernd Eichinger Berlin Drogen Heroin Prostitution Kiez David Bowie Transgression Biopic


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LORD OF THE FLIES (Peter Brook/UK 1963)


"What if... we are the beast?"

Lord Of The Flies (Herr der Fliegen) ~ UK 1963
Directed By: Peter Brook

Nachdem ein englisches Flugzeug über einer nordpazifischen Insel abgestürzt ist, kann sich eine größere Gruppe von Schuljungen auf das Eiland retten. Schon bald kristallisieren sich erste Grabenkämpfe zwischen dem besonnenen Ralph (James Aubrey) und dem herrischen, gewaltbereiten Jack (Tom Chapin) heraus. Während Ralph versucht, Erziehung und Zivilisiertheit unter den Übrigen aufrecht zu erhalten, ziehen Jacks Argumente deutlich nachhaltiger: Er verspricht, den anderen Fleisch zu beschaffen und sie vor einem obskuren "Monster", das auf der Insel gesehen worden sein soll, zu beschützen. Nachdem immer mehr von Ralphs Anhängern zu Jacks Gruppe überwechseln, sieht sich Ralph bald einer sich bedrohlich steigernden Aggression gegenüber.

William Goldings Allegorie auf Machtstrukturen, Machtmissbrauch und die gesellschaftliche Grundlegung für Diktaturen in erster Verfilmung des Bühnenregisseurs Peter Brook. Im zum Schulkanon gehörenden Roman noch im inhaltlichen Rahmen eines Atomkriegs "evakuiert", landen bei Brook in einem etwas realitätsangebundeneren Kontext (angesichts der damals noch aktuellen Kuba-Krise wäre auch das Weltkriegsszenario überaus passend gewesen) die Jungen eher unfällig (zumindest suggeriert der Film nichts anderes) auf ihrer einsamen Insel, durch ihre unerschöpflichen Ressourcen und klimatischen Verhältnisse zunächst zu einem Paradies avanciert. Bis die klerikal geprägten "Jäger" des körperlich am weitesten entwickelten Jack demonstrieren, dass sie durch rigorose Urinstinktaktivierung und bereitwilligen Rückfall in atavistische Verhaltensweisen den anderen in dieser "Überlebenssituation" überlegen sind. Ralphs und vor allem die Versuche seines schwächlichen Freundes Piggy (Hugh Edwards), schon seit jeher ein 'Opferkind', Raison walten zu lassen, werden mit Ausschluss und bald mit offener Gewalt beantwortet, derweil Jacks Untergebene sich die Zeit mit immer blutrünstiger werdenden Jagdspielen, irrsinnigen "Festen" und Körperbemalung vertreiben. Die Möglichkeit, je wieder gerettet und in die (erwachsene) Zivilisation zurückkehren zu können, bildet für sie keine Option mehr.
Die Hölle, das sind die anderen? Nicht bei Goldman. Wie der Autor mit seiner im Grunde simplen Parabel den Zustand von Welt und Menschheit auf die beschleunigte Staatsbildung einer Gruppe kleiner Jungen herunterbricht und überträgt, ist noch heute ebenso beeindruckend wie mustergültig. Nicht minder gilt dies für Brooks naturalistisch gehaltenen, nüchternen Film: Der mit dem rücksichtslosesten Wesen, der größten Klappe und den härtesten Muskeln übernimmt die Führung, nachdrücklich, aber doch mit Volkes Gunst. Die Intelligenzia mit ihrem ewigen, salonhaften Sinnieren nach Konsequenzen und Zukunft verliert derweil. Das Gesellschaftsgros indes ist mit der Möglichkeit der Demokratie langfristig überfordert, es verlangt nach Usurpatoren, um die übermächtige Sinneslust seines Es zu befriedigen.

9/10

Peter Brook William Golding Insel Kinder Parabel Dystopie


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HANNAH ARENDT (Margarethe von Trotta/D, LU, F 2012)


"Denken ist ein einsames Geschäft."

Hannah Arendt ~ D/LU/F 2012
Directed By: Margarethe von Trotta

1960 erfährt die nach New York emigrierte, jüdischstämmige Journalistin und Ex-Heidegger-Geliebte Hannah Arendt (Barbara Sukowa) von der Ergreifung Eichmanns durch den Mossad in Argentinien und dass ihm in Jerusalem der Prozess gemacht werden soll. Arendt reist nach Israel, ist bei den ersten Prozesstagen zugegen, um sich ein Bild von dem vermeintlichen Monster Eichmann zu machen und schreibt daraufhin eine philosophische Abhandlung für den 'New Yorker'. Darin vertritt sie nicht nur den standpunkt, dass Eichmann ein grauer Bürokrat war, dessen Unfähigkeit zur Empathie als repräsentativ für die gesamte Funktionlität des NS-Staates erachtet werden kann, sondern dass die sogenannten 'Judenräte' eine noch minutiösere Vernichtungsmaschinerie als ohnehin schon unterstützt hätten. Damit setzt sich Arendt zwischen alle Stühle, eine gewaltige Kontroverse entfacht sich, infolge deren man ihr diverse Titulierungen von 'Verräterin' bis 'Nazihure' angedeihen lässt. Ihr soll der Lehrstuhl entzogen werden, doch schließlich erweist sich besonders die Nachkriegsgeneration als verständig für ihre Denkprozesse.

Engagiertes Porträt der berühmten Philosophin, Politikwissenschaftlerin und Autorin Hannah Arendt, die den mittlerweile geflügelten Terminus von der 'Banalität des Bösen' geprägt hat. Ihr tiefes Entsetzen darüber, in der Person des Deportationskoordinators Adolf Eichmanns kein mythisch überhöhtes Monster geschweige denn einen diabolischen Verführer vorzufinden, sondern bloß ein kleines, verschnupftes Männchen, dessen Obrigkeitshörigkeit und Verweigerung zu individueller Denkleistung geradezu grotesk anmuteten. "Ich habe sie ja nicht vernichtet", antwortet Eichmann auf die gerichtliche Anschuldigung, dass er entscheidend zum Massenmord beigetragen habe, und dass "Zivilcourage möglich" gewesen wäre, hätte man sie bloß "hierarchisch strukturiert". Für Hannah Arendt kommt besonders die Erkenntnis jener intellektuellen Nichtigkeit des tumben Hackenklatschers einer Epiphanie gleich, die tief in das Wesen des Dritten Reichs als Mitläufersystem blicken lässt. Darauf jedoch reagiert die globale Intelligenzia ebenso wie Überlebende und Knesset jedoch nasreümpfend bis aggressiv.
Von Trottas sehenswerter Film, der sich wie ehedem schon "Rosa Luxemburg", ebenfalls mit Barbara Sukowa in der Titelrolle, einer der großen Denkerinnen des vergangen Jahrhunderts widmet, konzentriert sich, mit Ausnahme von ein paar Rückblenden zu Hannahs Beziehung zu und mit Heidegger, auf einen erzählten Zeitraum von vier Jahren, besitzt eine erwartungsgemäß routinierte Form, strotz dabei jedoch vor authentischer Sorgfalt und gibt Einblick in Wesen und Gedanken jener faszinierenden Frau, deren mutige Thesen der NS-Forschung wichtige neue Impulse bescherten.

8/10

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SINGAPORE SLING (Nikos Nikolaidis/GR 1990)


"Now I can smoke."

Singapore Sling ~ GR 1990
Directed By: Nikos Nikolaidis

Ein Privatschnüffler verfolgt die Spur eines verschwundenen Mädchens namens Laura bis hin zu einem feudalen Haus in Seenähe, das von Mutter (Michele Valley) und Tochter (Meredyth Harold) bewohnt wird. Die beiden Frauen, die hier in der Abgelegenheit Serienmord, Paraphilie, Rollenspiele und andere Merkwürdigkeiten in vielen Facetten durchspielen, nehmen den angeschossenen und teils bewegungsunfähigen Detektiv gefangen und taufen ihn aufgrund eines Cocktailrezepts in seiner Tasche 'Singapore Sling'. Der Mann wird zum mehr oder weniger willfährigen Opfer der Perversionen der zwei Frauen, bis er schließlich selbst den Verstand zu verlieren droht.

Ein hochpoetisches Gedicht von einem Film, bedingungslos konsequent in seiner zwischen oberflächlicher und verschlammter Schönheit delirierenden Ästhetik. Man kann den Blick kaum abwenden von all dem Ungeheuerlichen, was Nikolaidis seinem - durchaus elitär anvisierten - Publikum in "Singapore Sling" auftischt. Von grenzpornographischen Bildern über die gegenseitige Besprenkelung mit diversen Körperflüssigkeiten, die Auslebung multipler Fetische bis hin zu harten Gewalteruptionen reicht die Palette seiner Visualitäten. Ein Statement, möglicherweise eine künstlerische Sublimierung tiefverwurzelter, unausgelebter Obsessionen. So schön und zeigefreudig sich die Protagonistin Meredyth Harold auch gibt, Nikolaidis zeigt den Voyeuren unter seinen Zuschauern immer wieder die rote Karte, indem er stimulierend beginnende Szenen durch matschige Hemmungslosigkeiten enterotisiert.
Dabei ist "Singapore Sling" natürlich erst in zweiter Instanz ein transgressives, herausforderndes Kunstwerk, primär bietet er ein Panoptikum von Nikolaidis' umfassender Einflussbasis: Angefangen bei Premingers "Laura", von dem "Singapore Sling" ein Semi-Remake darstellt, über Swing, Chandler, Wyler, Losey, Pasolini, Hopper und Hooper reicht die Skala der vielen Zitatwurzeln, die der auteur hierin abgrast: Eine kompromisslose Fundgrube für offenherzige Filmliebhaber.

9/10

Nikos Nikolaidis film noir neo noir Hommage Transgression Groteske Madness Nacht hardboiled


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SIDE EFFECTS (Steven Soderbergh/USA 2013)


"Everybody knows everything."

Side Effects ~ USA 2013
Directed By: Steven Soderbergh

Der vielbeschäftigte Psychiater Jonathan Banks (Jude Law) gerät an die suizidale Patientin Emily Taylor (Rooney Mara), die unter schweren Depressionen leidet. Nachdem sich mehrere Alternativpräparate als wirkungslos erwiesen haben, verschreibt ihr der an einer hochdotierten Versuchsreihe beteiligte Banks den neuen SSRI 'Ablixa', der bei Emily jedoch die Nebenwirkung des Schalfwandelns hervorbringt. Dennoch bleibt das Medikament weiterhin angesetzt, bis Emily eine Tages im somnambulen Zustand ihren Ehemann (Channing Tatum) ersticht. Doch wer ist wirklich für den Todesfall verantwortlich - Patientin oder Arzt? Banks, dessen Renommee schwer unter dem Fall zu leiden hat, forscht nach und stößt auf immer neue Spuren rund um Emilys Vergangenheit...

Nach Danny Boyles "Trance" noch ein weiterer Thriller um die Psychotherapie als Mittel für durchtriebene, mehr oder weniger kriminelle Superpläne. Vielfilmer Soderbergh geht das Ganze sehr konventionell und umweglos konsumierbar für den Endverbraucher an. Ich hatte eigentlich eine etwas tendenziösere Auseinandersetzung mit der billionenschweren Psychopharmaka-Industrie erwartet, doch letzten Endes geht es in "Side Effects" gar nicht um Serotonin fördernde Präparate und Konsorten, sondern um einen klassischen Suspense-Plot, in dem Protagonist und Zuschauer lange an der Nase herumgeführt werden, bis am Ende schließlich alles einen zufriedenstellende, taghellen Ausgang nimmt.
Geradezu klassisch aufbereitetes Genrekino, das inmitten all des gegenwärtigen, sensations- und innovationssüchtigen Filmwerks, das sich in zumeist panischer Erfolgssucht wahlweise an neue Erfolgskonzepte zu hängen versucht oder sich zwanghaft neu erfinden will, eine ihre Berechtigung findende Wohltat darstellt. Saubere Kurzweil, garantiert ohne jedwede Form von Nebenwirkungen.

7/10

Steven Soderbergh Psychiatrie Pharmaindustrie Courtroom Verschwörung New York





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