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Gernguckers Filmtagebuch


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Berlinale 2013


Meine bislang umfangreichste Berlinale soll hier zumindest mit ein paar kurzen Gedanken bedacht werden. Einen echten Überflieger gab es dieses Jahr für mich nicht.

Mein prominentester Film war sicher Linklaters „Before Midnight“, das nunmehr dritte und vermutlich letzte Treffen mit Julie Delpy und Ethan Hawke als Celine und Jesse. Nach den zeitlich eng abgesteckten magischen Begegnungen in Wien und Paris wandeln sie nun unter griechischer Sonne und philosophieren erneut über das Leben und die Liebe und reflektieren ihr Leben und ihre Entscheidungen. Die Dialoge sind wieder ebenso treffsicher und flüssig, wie die Darsteller überzeugend in ihren selbst geschriebenen Rollen agieren. Nur der Zauber des flüchtigen Momentes, der die Vorgängerfilme so beflügelte, fehlt hier etwas und es dauert bis zur letzten Einstellung, bis sich diese Magie samt einem wunderbaren Schlusssatz einstellt.
Auch andere Filme widmeten sich dem Ausloten von Beziehungen. In „Ayer no termina nunca“ lässt Isabel Coixet ein Ex-Paar sich sehr ausgedehnt in ihrem Leid suhlen und den Tod des gemeinsamen Sohnes und das Ende ihrer Beziehung bedauern. Eine echte Geduldsprobe. Dem gegenüber stellt die Spanierin eine interessante Bildebene. Das Geschehen spielt sich in einer modernen Investruine ab, aus der sich kalte graublaue Bilder ergeben, die den Niedergang des Landes und der Gesellschaft nachzeichnen. Gedanken und Erinnerungen der beiden Trauerfiguren werden als schwarzweiße Szenen wie aus einem Zwischenreich einmontiert und erst ganz am Ende gibt es eine Rückblende mit angenehm freundlich wirkenden Farben.
Spielerisch und verträumt widmet sich „Nugu-ui Ttal-do Anin Haewon“ einer jungen Südkoreanerin, die durch das Chaos ihrer Gefühle und Beziehungen stolpert. Der leicht schwebende Film lebt von den Begegnungen von Haewon mit Fremden und Freunden, sowie alten, aktuellen und eventuell zukünftigen Liebhabern, erzählt von den kleinen Geheimnissen, die keine sind, von Haewons Trinkfreudigkeit und ihrer Unentschlossenheit in der Liebe. Kleines charmantes Kino für den Augenblick, das die Zeit langsamer verrinnen lässt.
Ein großes Drama in Cinemascope-Bildern entführt in „Soguk“ in eine archaische Schneelandschaft in den türkischen Bergen. Herr dieser unwirtlichen Region ist ein Gleiswärter, der sogar Züge zum Stoppen zwingen kann. Er gerät in ein moralisches Dilemma, als er sich in eine russische Prostituierte verliebt, jedoch auch seine mit dem dritten Kind hochschwangere Frau nicht verlassen will. Ugur Yücel gestaltet daraus ein beeindruckendes Drama gleich einer antiken Tragödie, fast eine Spur zuviel Inszenierung. Mir hat die emotionale Wucht jedoch gefallen.

Die großartige Landschaftskulisse hat „Soguk“ mit dem russischen Wettbewerbsfilm „Dolgaya Schastlivaya Zhizn“ gemein. Der spielt auf der Halbinsel Kola, ein kleines Dörfchen an einem reißenden Fluss inmitten unendlicher grün-gelber malerischer Wälder. Hier wehrt sich der junge Anführer einer Gemeinschaft von Bauern gegen den Verkauf seines Landes. Er ist ein Mann mit Visionen, bereit dafür zu kämpfen: ein Last Man Standing in einer Art russischem Western, ein Kampf David gegen Goliath in einer Zeit, in der der kleine Mann nicht mehr dauerhaft gewinnen kann.

Thomas Arslan hat bereits mit „Im Schatten“ das Manko des deutschen Genrefilmes durchbrochen und auch mit seinem authentisch anmutenden Goldgräber-Western „Gold“ sammelt er meinen Respekt ein. Eine Gruppe deutscher Auswanderer schickt er 1898 auf eine entbehrungsreiche Reise durch die nordamerikanische Wildnis. Das Gold bleibt ein Mythos der Ferne, Arslan begleitet seine Protagonisten auf einem Weg voller Strapazen, Vertrauen und Misstrauen, körperlicher und psychischer Belastungen, durch die raue Natur und Unbilden des Wetters. Jede Figur stattet er gerade mit so viel Hintergrund aus, um sie für den Film interessant und verständlich zu machen. Ironischerweise stellt „Gold“ im Kampf um einen Bären genau die gleiche Art von unberechenbarer Falle auf, wie auch der kanadische Wettbewerbsfilm „Vic + Flo“, eine Verbindung im Geiste wie sie sich letztes Jahr ähnlich zwischen „Holy Motors“ und „Cosmopolis“ ergab. „Vic + Flo“ ist ein schwer fassbarer und einzuordnender Film, der sich einem konkreten Genre entzieht und lieber mit verschiedensten und immer wieder neu überraschenden Zutaten etwas eigenes kreiert. Eine Frauenbeziehung in einer abgelegenen und grotesk angereicherten Waldgegend, die mir zu unausgegoren blieb aber letztlich durch sein überrumpelndes und gut gestaltetes Ende aufgewertet wurde.

Neben „Gold“ sah ich noch einen weiteren deutschen Film, den Geheimtipp in Insiderkreisen: „Das merkwürdige Kätzchen“, eine spielerisch komponierte und konzentriert verdichtete Choreografie von Banalitäten des Alltages einer Großfamilie im Verlauf eines Tages. Das absolut gelungene Experiment besitzt keine eigene Geschichte sondern beobachtet und belauscht aufmerksam und mit einem fesselnden und humorvollen Gespür für Details das Treiben in einer Wohnung. Tolles gestaltungsbewusstes Kino und eine reife Leistung für einen Noch-nicht-mal-Abschlussfilm des Studenten Ramon Zürcher. Noch experimenteller zeigte sich nur noch „Le Meteore“, eine Art filmische und nicht uninteressante Kunstinstallation, die die Ebenen Geschichte, Dialoge, Figuren und Bilder voneinander löst. Die sich nur allmählich verkettenden Gedanken von fünf (?) Figuren werden durch Offstimmen eingesprochen, dazu sind meditative und für sich sehr schöne Bilder von Landschaften, Natur, Sonne, Mond zu sehen. Nur ab und an mal eine in sich versunkene Person, jedoch nie jene, die gerade spricht. Für mich ein anstrengend zusammenzusetzender Film, bei dem mir viele Details und sicher auch ein wenig Verständnis entgangen sind.

Ein mehrfach wiederkehrendes Thema war das Coming Out von Figuren in unterschiedlichst ausgelebter Offenheit bzw. zumindest eine homosexuell angeregte Initiation. Malgoska Szumowksa, die letztes Jahr mit „Elles“ bereits die geheimen Sehnsüchte einer Journalistin erkundete und nach außen kehrte, wendet sich mit „W Imie …“ dem brisanten Thema eines katholischen Priesters in Polen zu, der insgeheim Männer liebt, dies aber nicht ausleben darf. Das bildstarke Drama zeigt den wie ein wildes Tier in seiner Haut gefangenen Mann, der gegen die Konventionen, sein Verlangen, seine Einsamkeit und misstrauische Blicke ankämpft, und das sich über drei immer kraftvoller werdende Musikszenen hindurch zu einem intensiven Stück Kino steigert und die Verzweiflung des Protagonisten erfahrbar macht. Ähnlich spannungsvoll und aufreibend erzählt, aber mit stilleren Bildern ausgestattet, ist „Boven is het stil“ von Nanouk Leopold, die damit nicht ganz an die große Klasse ihres „Brownian Movement“ anknüpfen kann aber dennoch einen überzeugenden, atmosphärischen Film abliefert. Auch ihr Protagonist ist heimlich schwul und vermag dies weder sich noch anderen einzugestehen, obwohl er sich an einem Wendepunkt in seinem Leben befinden könnte. Der eigene Schatten scheint unüberwindbar. Wo der polnische Pfarrer nach Alternativen für einen befreienden Ausbruch sucht, bleibt der alleinstehende Milchbauer in sich gekehrt aber nicht minder angespannt, geht den um ihn werbenden Menschen seines Umfelds ängstlich aus dem Weg.
Im fernen Argentinien von „Deshora“ bringt ein junger Mann auf Besuch das eingeschlafene Liebesleben eines Ehepaares neu in Schwung. Als Fremdkörper bringt er Spannung in das abgelegene Haus inmitten einer weiten Naturlandschaft, wirbt ganz ungeniert selbst um die Frau und kommt auch bei der Körperlichkeit des Alltages dem Mann irritierend nahe. Wie in einem Hahnenkampf verteidigt der Ältere sein Revier gegenüber dem Eindringling. „Deshora“ ist ein archaisch anmutendes Dreiecksdrama, in dem es trotz seiner landschaftlichen Weite nur Platz für zwei gibt.
In Georgien, wo Homosexualität weitestgehend noch tabuisiert ist, wird wie in „Chemi sabnis naketsi“ ein Coming Out noch sehr stark codiert gezeigt, hier geheimnisvoll inszenierte Bilder von einem Abstieg in eine Höhle zu einer verborgenen Tür. Der Filmemacher Rusadze eifert mit diesem Film seinen großen Vorbildern Hitchcock und Lynch nach und schafft einen spannungsreichen, leicht mysteriös gehaltenen Thriller mit offensichtlichen Referenzen, der einige seiner Geheimnisse für sich behält. Und hat mir dadurch sehr gut gefallen. Vordergründig erzählt er von einer russischen Familie, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Georgien verblieben ist, und vom Aufbruch eines jungen Mannes in sein eigenes Leben.

Viele Filme, nicht nur aus der Generation-Sektion, widmeten sich kindlichen bzw. jugendlichen Protagonisten. Im sehr guten, formal streng gestalteten „Uroki Garmonii“ aus Kasachstan muss ein stiller 13jähriger Schüler gegen die Demütigungen seiner Mitschüler und die mafiaartige Machtstruktur an seiner Schule ankämpfen und wächst unheimlich über sich hinaus. Respekteinflößend. Ebenso wie auch „Jin“ von Reha Erdem, der seine 17jährige kurdische Heldin auf eine bedrückende Odyssee durch ein kriegsgebeuteltes gefährliches Bergland schickt. Das Mädchen verbündet sich mit der Natur, um die Gefahren der Zivilisation zu überleben. Leider stolpert der atmosphärisch stark aufgeladene Film dann auf der Zielgeraden und hinterlässt einen etwas ernüchternden Nachgeschmack eines sonst sehr guten Filmes. Eine andere 17jährige Protagonistin durchlebt im polnischen „Baby Blues“ mehrfach abrupt wechselnd das Glück und das Leid einer Teenagermutter. Die Figuren sind sehr authentisch eingefangen, jedoch die Inszenierung war mir ein wenig zu überambitioniert, sowohl was formale Gestaltung (Schwarzblenden, Farbsättigung der Bilder) als auch erzählerische Haken betrifft. Das Bemühen um eine ihrer flatterhaften Antiheldin angemessenen Gestaltung wirkte mir etwas zu aufgesetzt. Noch einmal Georgien: im Tbilissi von 1992 in „Grzeli nateli Dgeebi“ werden zwei 14jährige Mädchen mit den alten Traditionen und der noch jungen Geschichte des wieder eigenständigen Landes vernetzt, wodurch sich spannungsvolle Geschichten und Schicksale entspinnen. Das Coming of Age der beiden mündet direkt und für ihr Alter zu früh im ernsten Erwachsensein. Der Film bietet viele dramatische Höhepunkte, die er nur sehr zurückhaltend zur Katharsis nutzt und lieber offen endet. Nebenbei lässt sich der Film als Zustandsbeschreibung des jungen Landes lesen. Noch jünger sind die beiden Schwestern in „Princesas Rojas“, die die ernste Lage ihrer aus Nicaragua geflüchteten und politisch aktiven Eltern gar nicht fassen können. Die unzertrennlichen Mädchen leben in ihrer eigenen aufregenden Welt und sehnen sich nach mehr Normalität und Bodenständigkeit. Der Film blendet sämtliche gesellschaftlichen Hintergründe aus, sondern übernimmt die Sichtweise der Mädchen. Ein kleiner Film mit großem Herzen. Mit einem überirdisch schön gestalteten Vorspann startet „The Weight of Elephants“, der zugleich angenehm leicht an sein ernstes Thema der Kindesentführung heranführt. Zu solch lyrischen Momenten findet er später kaum noch zurück, konzentriert sich ganz auf die Erzählung über einen verträumten Jungen, der in der Schule gegen seinen Außenseiterstatus ankämpft und durch neue Kinder in der Nachbarschaft seinen Mut herausgefordert sieht.

Das ehemalige Jugoslawien wie der Balkan überhaupt ist seit längerem ein mich interessierendes Beschäftigungsfeld im Kino. Eine gute Erzählung und Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte war „Krugovi“, eine Koproduktion vieler ex-jugoslawischer Teilstaaten. Den Rahmen bildet eine Begebenheit von 1993, die das Geschehen im 12 Jahre danach spielenden Kernstück des Filmes beeinflusst, dessen Spannung aus nationalen und religiösen Differenzen sowie erlittenem Verlust entsteht, und das in seinem Wesen um eine Versöhnung zwischen den ehemaligen Bürgerkriegsgegnern bemüht ist. Vielleicht ein bißchen zu brav erzählt, zu eindringlich inszeniert, aber dennoch packendes Kino und durch seine unterbrochene Rahmenhandlung interessant aufgebaut.
Ein klein wenig zu theatralisch empfand ich dagegen „Obrana i Zastita“, ein im Dogmastil mit nervöser Handkamera geführtes groteskes Alltagsdrama, über einen Mann in der geteilten Stadt Mostar. Das interessanteste und herausforderndste am Film war seine Gestaltung, die voreiligen Schnitte vor dem gefühlten Ende einer Szene, die langen Einstellungen des Wartens und Zweifelns, die Störungselemente im Film, der dann darüber hinweg normal weitergeht.
Viele Filme im Forum vermischten Elemente von Spiel- und Dokumentarfilm. Ähnlich auch der Wettbewerbsbeitrag „Epizoda u zivotu beraca zeljeza“, in dem Danis Tanovic eine Romafamilie in der bosnischen Provinz ihre eigene Geschichte nachspielen lässt, ein verzweifeltes Ringen um dringende medizinische Versorgung, die sich die Familie eines Schrottsammlers finanziell nicht leisten kann. Ein sozialkritisches Dokument, eine nüchterne Alltagsstudie, die mit einem kleinen Moment flüchtigen Glücks endet. Ein wichtiger Film in der Tat, aber ein Wettbewerbsfilm? Besonders der Bär an seinen Laiendarsteller als besten Schauspieler ist angesichts der Konkurrenz aus z.B. „W Imie …“ meines Erachtens etwas übertrieben in der Wertschätzung.
Das junge griechische Kino, das letztes Jahr so für internationales Aufsehen sorgte, steuerte mit „I aionia epistrofi tou Antoni Paraskeua“ einen sehr zweifelhaften Film bei. Eine Allegorie auf die aktuelle Situation Griechenlands? Könnte man mit viel Phantasie sicher so sehen. Aber unterm Strich blieben bei mir lediglich ein recht originelles erstes Drittel und zwei lahme und unverständliche weitere Drittel zurück. Ein TV-Star, der sein eigenes Verschwinden vortäuscht und in einem leerstehenden Luxushotel verweilt, und der dann bei seiner groß angekündigten Rückkehr in die Gesellschaft in das Leben eines Obdachlosen flüchtet? Die Groteske wurde für mich immer mehr zur Geduldsprobe. Schade.

Ein anderer Brennpunkt und Ursprung guter filmischer Verarbeitungen bleibt der nahe Osten.
„Lamma Shoftak“ beginnt 1967 in einem Flüchtlingslager in Jordanien. Dort warten Frauen und Kinder auf ihre Männer und die Rückkehr nach Palästina. Ein Junge durchbricht ungeduldig die Last des tatenlosen Ausharrens und fordert seine Mutter zum Handeln und allmählichem Umdenken auf. Ein wenig zu naiv ruht sich das Drama mit seinem kindlichen Protagonisten auf der Faszination von Campabenteuer und Lagerfeuerromantik aus, trennt das Leben des Jungen von der gefährlichen Kriegssituation. Zum Glück erfüllte mir der Film letztlich den Wunsch nach einem offenen Ende.
Der nächste Streifen, 1989 im Gaza-Streifen: „Rock the Casbah“. Ein kraftvolles Statement gegen die sinnlose Auge-um-Auge Kriegsantreiberei zwischen Israelis und Palästinensern. So grotesk auch die Ausgangssituation ist, ein israelischer Soldat wird von einer vom Dach gestoßenen Waschmaschine erschlagen, so bitterernst und aufreibend sind die daraus resultierenden Hetzjagden durch die palästinensischen Viertel, das Wacheschieben auf dem Dach und das Auflehnen der Bewohner gegen die Besatzer inszeniert. In einer denkwürdigen Szene auf dem Dach träumt einer der jungen israelischen Soldaten von seiner Zukunft im Frieden und macht sie somit zum Herzen des Filmes.
Zu einer Enttäuschung wurde für mich die israelische Farce „Youth“, die Geschichte der Entführung eines Mädchens aus wohlhabendem Haus, mittels der zwei Brüder ihre eigene Familie und ihren depressiven Vater retten wollen. Der Film endet wie die Entführung, im nichts.

Zu meiner eigenen Überraschung habe ich letztlich gleich drei afrikanische Filme gesehen.
„A Batalha de Tabato“ ist in feinen, streng komponierten schwarzweiß-Bildern gefilmt, in die sich am Ende meinem Empfinden nach unnötige Rotbilder einmischen. Das evozierte bei mir eine zu aufgesetzte Bedeutungshaftigkeit. Die Geschichte ist klein und ein wenig folkloristisch angehaucht, relativ spannungsfrei in einer Art Parallelerzählung vorgetragen. Dabei werden das Kriegstraumata eines alten Mannes, mit der bevorstehenden aber letztlich ausfallenden Hochzeit eines jungen Paares verknüpft und Tabato als ein Dorf vorgestellt, in dem alle Menschen Musik machen und dies ihr Kampf für den Frieden ist. In Details blieb mir der Film sehr unverständlich und fremd, was sicher auch an meinen mangelnden Vorkenntnissen zur Geschichte von Guinea Bissau lag.
Der südafrikanische Film „Edelwani“ führt eine moderne junge Frau zurück in ihr Elterndorf, wo sie wieder mit den uralten Traditionen ihres Volkes der Venda in Berührung kommt, die große Opfer von ihr fordern. Es folgt eine unerwartete Initiation, eine Wiederaufnahme in einen alten Kulturkreis, die selbstbewusst exotisch erzählt und ausgestaltet wird. An einigen Stellen wird das existentialistische und geheimnisvoll bleibende Kulturdrama ein wenig mystisch aufgewertet aber zum Glück nie überladen.
Den Reichen und Weißen in Südafrika widmet sich der verstörende Thriller „Fynbos“, der dem mysteriösen Verschwinden einer Frau auf einem Luxusanwesen nachspürt. Rational lässt sich der Film kaum beschreiben oder zusammenfassen, denn er verweigert Erklärungen. Er lebt von einer unheimlichen Spannung, seiner Stille und dem beeindruckenden Setting. Schauplatz ist ein riesiges, vom Rest der Welt abgesperrtes Anwesen, auf dem ein architektonisch extravagantes Haus prangt. Die atmosphärische Inszenierung des Filmes hat mich sehr beeindruckt.

Mein letzter Film auf der Berlinale war gleichzeitig mein Sieger des Herzens. „Gloria“ aus Chile landet zwar letztlich etwas neben meinen Erwartungen aufgrund der Kurzbeschreibung (Verknüpfungen zur Geschichte des Landes fehlten), aber er zeichnet ein starkes und sympathisches Porträt einer alleinstehenden aber lebenshungrigen Frau Ende 50, die sich nach dem demütigenden Ende einer viel versprochenen Beziehung wieder aufzurichten weiß. Der tragikomische Film feiert diese beherzte Frau, die sich nicht unterkriegen lassen will, und führt sie zu Umberto Tozzis Hymne zurück ins Leben, zurück auf Anfang. Vom Publikum gab es verdienten Szenenapplaus.



I aionia epistrofi tou Antoni Paraskeua - The eternal return of Antonis Paraskevas (Elina Psykou, Griechenland)
Ayer no termina nunca - Yesterday never ends (Isabel Coixet, Spanien)
Baby Blues (Katarzyna Roslaniec, Polen)
A Batalha de Tabato - The Battle of Tabato (Joao Viana, Guinea Bissau/Portugal)
Before Midnight (Richard Linklater, USA/Griechenland)
Boven is het stil - Oben ist es still (Nanouk Leopold, Niederlande/Deutschland)
Chemi sabnis naketsi - A Fold in my Blanket (Zaza Rusadze, Georgien)
Deshora – Belated (Barbara Sarasola-Day, Argentinien/etc.)
Dolgaya Schastlivaya Zhizn - A long and happy Life (Boris Khlebnikow, Russland)
Elelwani (Ntshavheni Wa Luruli, Südafrika)
Epizoda u zivotu Beraca Zeljeza - An Episode in the Life of an Iron Picker (Danis Tanovic, Bosnien/etc.)
Fynbos (Harry Patramanis, Südafrika/Griechenland)
Gloria (Sebastian Lelio, Chile/Spanien)
Gold (Thomas Arslan, Deutschland)
Grzeli nateli Dgeebi - In Bloom (Nana Ekvtimishvili, Simon Groß, Georgien/etc.)
Jin (Reha Erdem, Türkei)
Krugovi – Circles (Srdan Colubovic, Serbien/etc.)
Lamma Shoftak - When I saw you (Annemarie Jacir, Palästina/etc.)
Das merkwürdige Kätzchen (Ramon Zürcher, Deutschland)
Le Meteore - The Meteor (Francois Delisle, Kanada)
Nugu-Ui Ttal-Do Anin Haewon - Nobodys Daughter Haewon (Hong Sangsoo, Südkorea)
Obrana i Zastita - A Stranger (Bobo Jelcic, Kroatien/Bosnien)
Princesas Rojas - Red Princesses (Laura Astorga Carrera, CostaRica/Venezuela)
Rock the Casbah (Yariv Horowitz, Israel/Frankeich)
Soguk – Cold (Ugur Yücel, Türkei)
Uroki Garmonii - Harmony Lessons (Emir Baigazin, Kasachstan/Deutschland)
Vic+Flo ont vu un ours - Vic+Flo haben einen Bären gesehen (Denis Cote, Kanada)
The Weight of Elephants (Daniel Joseph Borgman, Neuseeland/etc.)
W Imie ... - In the Name of (Malgorzata Szumowska, Polen)
Youth (Tom Shoval, Israel/Deutschland)


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Filmfest Cottbus 2012


Filmfest Cottbus 2012

Auch in diesem Jahr gab es in Cottbus wieder ein recht lohnenswertes und schönes Filmfestival des osteuropäischen Kinos. Zwar ohne einen richtigen Überflieger, aber mit sehr vielen guten Filmen. Die Erinnerungen sind noch sehr frisch und teils noch gar nicht vollends verarbeitet. 15 Filme in 4 Tagen. Bin nun ein wenig filmmüde, will aber meine Eindrücke hier kurz zusammenfassen, bevor andere Dinge sich wieder in den Vordergrund drängen.


Djeca – Kinder von Sarajevo (Aida Begic; Bosnien und Herzegowina / Deutschland / Frankreich / Türkei)
Halimin Put – Halimas Weg (Arsen Anton Ostojic; Kroatien / Bosnien und Herzegowina / Slowenien)
Ustanicka Ulica – Straße der Erlösung (Miroslav Terzic; Serbien / Slowenien)
Die ehemaligen jugoslawischen Teilstaaten verbinden ihre Gegenwartsgeschichten häufig mit einer rückblickenden Aufarbeitung ihrer Bürgerkriege, die tiefe persönliche Wunden hinterlassen haben. Aida Begic (die Regisseurin des sehr tollen “Snow” 2008) fängt in einer stilsicheren Inszenierung von “Djeca” ein verwaistes Geschwisterpaar ein, die wie Satelliten umeinander kreisen und sich zu verlieren drohen, und ihr gelingt es, in einer aufgrund der vielfältigen gesellschaftlichen Spannungen unfertigen Erzählung zumindest diese beiden wieder enger zusammenzurücken. “Halimas Weg” hat eine der stärksten Geschichten zu bieten, gewiss ein wenig konstruiert wirkend, aber im Ansatz auf wahren Begebenheiten beruhend und damit sehr intensiv, glaubhaft und bewegend. Der Film konzentriert sich ganz auf die Story, lenkt durch keine allzu dramatisierende Regie ab und wartet stattdessen geduldig, bis sich die ganze Tragweite dieser Variation einer griechischen Tragödie entfaltet. “Straße der Erlösung” ist dagegen als spannender Genrefilm inszeniert, eine thrillerhafte Aufdeckung von Kriegsverbrechen, die Suche nach unerkannt lebenden Hintermännern und ehemaligen aber nach wie vor mächtigen Befehlsgebern im Krieg.

Archeo (Jan Cvitkovic; Slowenien)
Ein Experiment ohne narrativen Hintergrund: In dem dialogfreien 70-Minüter fallen buchstäblich ein Mann, eine Frau und ein Kind wie aus dem Nichts auf eine befremdlich verlassene Erde, reagieren zunächst auf Instinkte und stehen sich einander konträr gegenüber, bis am Ende aus ihnen eine familienartige Gemeinschaft geworden ist. Eine tolle meditative Kamera fängt exotische Schauplätze ein, in denen die Figuren und die großartige Natur miteinander verschmelzen. Science Fiction, Drama, Ethnoabenteuer, Postapokalypse, Robinsonade?

Kronike Shqiptare – Eine albanische Chronik (Artan Minarolli, Ylljet Alicka; Albanien / Frankreich / Italien / Griechenland)
Herausfordernder Sichtungsumstand: gezeigt wurde die albanische Originalfassung ohne UT, wobei zwei Filmakte miteinander vertauscht abgespielt wurden, so dass nicht nur mein Verständnis sondern auch der Simultandolmetscher zweimal ins Stocken geriet (der offensichtlich die Texttafeln in der richtigen Reihenfolge vor sich hatte). “Eine albanische Chronik” ist ein kauziger Blick auf ein kleines albanisches Dorf, in dem Muslime und Christen sich gegenseitig belauern, miteinander streiten aber auch trinken. Eine junge ungestüme Liebe, die die religiösen Vorbehalte sprengt und die Einwohner herausfordert, setzt eine Kettenreaktion in Gang. Ganz nett mit vielen skurrilen Details.

O Luna In Thailanda – Ein Monat in Thailand (Paul Negoescu; Rumänien)
Ein weiteres Mal vermag mich in diesem Jahr das rumänische Kino nicht vollends zu überzeugen. “Ein Monat Thailand” ist dabei keineswegs ein schlechter Film. Hier ist es Gegenwartskino, das Debüt eines jungen Filmemachers über die eigene Generation um die 30, die sich verunsichert um sich selbst dreht und der plötzlich eine abgestreifte Vergangenheit wieder begehrenswert erscheint. Ein männlicher Protagonist begibt sich in der Silvesternacht auf eine Odyssee durch das pulsierende Bukarest und sucht nach der Liebe. Eine unglaublich stimmungsvolle Partyszene mit einem modernen Remix des ebenfalls fast 30 Jahre alten Jennifer Rush-Hits “The Power of Love” vermochte mich dann doch nach zwei Dritteln Spielzeit und bis dato steigenden Desinteresses wieder einzufangen und mich mit dem Film letztlich versöhnlich zu stimmen.

Dupa Dealuri – Jenseits der Hügel (Cristian Mungiu; Rumänien / Frankreich / Belgien)
Ein abgelegenes Haus in den Hügeln – ein mehrfach verwendetes Motiv in der diesjährigen Filmauswahl. Hier ist es ein Kloster, in dem zwei innig verbundene junge Frauen nach langer Zeit der Trennung wieder zusammen kommen. Wer weggeht ist nicht mehr der selbe, wenn er wiederkommt. Aber auch wer zurückbleibt, verändert sich. Unter diesen Vorzeichen treffen die weltliche Alina und die zu Gott gefundene Voichita sich wieder. Die eine möchte die alte Freundin mit hinaus in die Welt nehmen, die andere möchte, dass sie gemeinsam in der Geborgenheit des Glaubens leben. Beide kämpfen füreinander, aber jede mit eigenem Ziel, bis ein rebellisches Aufbegehren unumkehrbar eskaliert. Das Haus in den Hügeln ist Fluchtmöglichkeit und Gefängnis zugleich. Ein stilles eindringliches Drama, das keinen Ausweg offen lässt.

Dom – Eine Russische Familie (Oleg Pogodin; Russland)
Bei Pogodin ist das einsame Haus in den Hügeln einer endlosen russischen Steppe die Heimat einer Großfamilie, die sich anlässlich des 100. Geburtstag des eher toten als lebendigen Großvaters zusammenfindet. Der Vater regiert im Haus mit harter Hand auch unter seinen sechs längst erwachsenen Kindern. Den Spuren des ältesten, kriminell verflochtenen Sohn folgen Killer zum Haus – ein spannungsvoller und am Ende sehr blutiger “russischer Western” nimmt seinen Lauf, in dem bis zum letzten Schuss das bestehende Patriarchat des Hauses demontiert wird. Anklänge bei Leone, den Coens und Tarantino inklusive. Ein rauer Film, nichts für zarte Gemüter.

Koktemnin Birinshi Zhanbyry – Erster Regen im Frühling (Erlan Nurmuhambetov, Sano Shinju; Kasachstan / Japan)
Das Haus einer kasachischen Familie liegt ebenso abgeschieden in einer urtümlichen Landschaft. Als die im Haus lebende Schamanin ihren Tod und Wiedergeburt ankündigt, bringt ein Ehepaar ihren Leichnam an einen heiligen Ort, während die Kinder der Familie allein im Haus bleiben, aber ganz selbstverständlich den Alltag und die Arbeit fortführen. Ein russisches Mädchen und ihr Vater stranden für wenige Stunden in ihrem Haus und werden für den ältesten Sohn zum Keim seiner künftigen Erweckung aus seinem vermeintlich vorbestimmten Leben. In Kasachstan vollzieht sich auch im Kino eine Rückkehr zu den Naturreligionen, die sich als Gegenentwurf zu einem modernen Leben aufzeigt. In sich ruhendes Kino, das sich der Natur und seinen Menschen unterordnet.

Kokoko (Avotya Smirnova; Russland)
Eine unglaubliche Frauenfreundschaft beginnt in einem Zugabteil und setzt sich in der Atelierswohnung einer St. Petersburger Museumsmitarbeiterin fort: die gediegene und gebildete Lisa trifft auf die lebensfrohe und einfache Vika – ein Gegensatz, der anfänglich zum Scheitern verurteilt scheint, aber der beide Frauen gegenseitig befruchtet. “Kokoko” ist eine schwungvolle und mit kräftiger Musik unterlegte Komödie, die ihre Figuren im Gleichschritt vereint und sie aus ihrem Trott ausbrechen lässt. Der Anfang vom (Film-)Ende kommt ein wenig drastisch und aufgesetzt daher, aber das Ende vom (Film-)Ende passt dann wieder sehr gut als Schlusseinstellung. “Kokoko” zu schauen, hat Spaß gemacht.

Ya Budu Ryadom – Ich werde da sein (Pavel Ruminov; Russland)
Man könnte “Ich werde da sein” als russisches “Mein Leben ohne mich” beschreiben, doch der Vergleich würde emotional zu kurz greifen. Denn Pavel Ruminov lässt seine einst lebensfrohe alleinerziehende Mutter eines 6jährigen Sohnes mit einem tödlichen Tumor im Kopf nicht ihre letzten Tage mit ihren geheimsten Wünschen verbringen, sondern sie konzentriert sich ganz auf die Zukunft des Jungen. Sie muss neue Eltern für ihn finden. Eine authentische, selbst etwas wacklige Kamera bleibt dabei intensiv nah dran an ihr, ihrem Kampf gegen die Schmerzen, Vergesslichkeit und schwindenden Kräfte und letztlich ihrem langsamen und unausweichlichen Tod, den sie vor ihrem Kind nicht einzugestehen vermag, das aber ahnt, dass eine große Veränderung bevorsteht. Die Bilder sind ungeschminkt, ungefiltert bricht sich häufig das Licht in sie hinein. Das sehr bewegende Drama war mein emotionaler Höhepunkt des Festivals.

V Tumane – Im Nebel (Sergej Loznitsa; Deutschland / Russland / Lettland / Niederlande / Weißrussland)
“Im Nebel”, der dieser Tage auch einen zumindest kleinen bundesdeutschen Kinostart hat, erzählt in langen, eindringlichen Einstellungen eine moralisch herausfordernde wie ausweglose Kriegsgeschichte aus dem Jahr 1942 in Weißrussland. Die Tatsache, dass ein ehrbarer Arbeiter von den Deutschen freigelassen wird, während seine anderen Mitgefangenen getötet werden, macht ihn in den Augen seiner Mitmenschen zum Verräter. Die anderen glauben nicht dem, den sie seit Jahren kennen, sondern dem, was sie (zu) sehen (glauben). Aus dieser aufreibenden Ausgangssituation entspinnt sich ein bedrohliches Drama dreier Männer im Wald mit dem Tod im Nacken, auf der Suche nach einem letzten Zipfel Menschlichkeit im Gegenüber. Ich war sehr beeindruckt.

Dom Bashenko – Haus mit Türmchen (Eva Neymann; Ukraine)
Auch die Ukrainerin Neymann drehte ein unspektakuläres, humanistisches Kriegsdrama, hier aus der Sicht eines kleinen Jungen, der seine Mutter verloren hat. Der Film spart dabei Bilder des Krieges komplett aus, fängt jedoch mit sehr “fotografischen” schwarzweißen Aufnahmen die trostlose Kulisse des letzten Kriegswinters ein, durch die der Junge nun irrt. Mitunter erinnern die Bilder ein wenig an Tarkowskis Filme, ohne aber dessen große Bildgewalt zu imitieren noch zu erreichen.

Ete Bolory – Wenn doch nur jedermann (Natalja Belyauskene; Armenien / Russland)
“Wenn doch nur jedermann” ist das eindrucksvolle Regiedebüt einer russischen Filmemacherin bei einer armenischen Produktion. Eine junge Russin will einen Baum auf dem Grab ihres Vaters pflanzen und sucht in Armenien dessen alten Kriegsgefährten auf. Es entspinnt sich ein sehr schönes Roadmovie durch Armenien, das sich für seine Menschen, Landschaften und Traditionen interessiert. Unterbrochen wird die episodenhafte Reise durch die Aufenthalte bei weiteren Männern, die mit ihrem Vater gekämpft haben. Durch die Figur der nahezu magischen jungen Frau kommt eine angenehme Leichtigkeit in die im Grunde nachdenklich stimmende Geschichte, die immer weiter in die jüngere dunkle Vergangenheit und an innere wie äußere Grenzen stößt. Der Film findet zu einem versöhnlichen Ende, welches der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidshan leider noch immer nicht kennt.

Chaika (Miguel Angel Jimenez; Spanien / Georgien / Frankreich / Russland)
Eine internationale Co-Produktion verhilft einer auf den ersten Blick recht neugierig machenden Geschichte auf die Leinwand, aber beim Sehen stellt sich der Film als sehr unausgegorenes Kino mit vielen Ungereimtheiten heraus. Die Inszenierung ruht sich zu lange auf den wirklich guten Landschaftsaufnahmen Sibiriens aus, verlässt sich auf ein eingangs angedeutetes Gleichnis der Protagonistin im Film (eine schwangere Prostituierte, deren sich ein Seemann annimmt und die er in seine Heimat führt) mit der ersten Frau im All (Tereschkowa 1963, genannt “Tschaika – Möwe”) und vergisst dabei, die Geschichte glaubhaft zu unterfüttern und zu erzählen. Mir ist unklar, was der Film wollte, außer eine Frau als gefangenen Vogel anzudeuten, der seinen Käfig verlassen muss, um nicht zu ersticken.


Zusammenfassend will ich die Filme “Wenn doch nur jedermann”, “Ich werde da sein”, “Im Nebel” und “Jenseits der Hügel” als jene hervorheben, die mir persönlich am besten und momentan am nachhaltigsten gefallen haben. Grundsätzlich abraten würde ich nur von “Chaika”.


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Filmfest München 2012


Kurznotizen zum Filmfest München 2012

Die diesjährige Filmfestausgabe bot mir die Gelegenheit, endlich “Terraferma” (Emanuele Crialese; Italien) zu sehen - eine auf den Ebenen Familie und Gesellschaft funktionierende bewegende Geschichte, die Crialese wieder zu ganz großem Kino geformt hat. “Terraferma” und “La Pirogue” (Moussa Toure; Senegal etc.) bildeten eine thematische Einheit. Beide Filme behandeln die Flüchtlingsproblematik zwischen Afrika und Europa, ein globales Problem, das derzeit keine Lösung kennt. Während “La Pirogue” aus afrikanischer Sicht sich mit seinen ausweglosen Figuren in ein kleines Fischerboot und auf den aufreibenden Seeweg nach Europa wagt, mit ihnen hofft und bangt, lässt Crialese an der südlichen Grenze Europas ebensolche Flüchtlinge auf mittellose italienische Fischer treffen, die verunsichert zwischen den Gesetzen der Regierung und den alten Gesetzen der Seefahrt stehen. In einer Zeit, als die Fischerboote nicht mehr das Leben ihrer Besitzer sichern können, als Ausweg nur noch der Tourismus auf der Insel verbleibt, müssen die Menschen dort nach einem neuen Platz für sich suchen, einen neuen Aufbruch wagen und sich vielleicht noch ein letztes Mal auf das Alte besinnen – ihr Boot, das beim Wechsel der Perspektive nicht mehr als eine Nußschale im Meer ist. Letzteres vereint wieder beide doch recht unterschiedliche Filme. Während “La Pirogue” am Ende den Hauptpreis des Festivals gewann, wurde “Terraferma” zu meinem persönlichen Favoriten.

Das südamerikanische Kino war traditionell stark vertreten, in diesem Jahr tat sich besonders Brasilien hervor. Den stärksten Eindruck hinterließ zweifelslos “Southwest - Sudoeste” (Eduardo Nunes; Brasilien) mit seinem extrem breiten Schwarzweiß-Format (etwa 3,5:1), das in bedächtig langsamen Einstellungen innerhalb eines Tagesverlaufes eine so rätselhafte wie märchenhafte Geschichte über die Wiedergeburt einer Frau und ihrem neuen Lebenszyklus im Zeitraffer erzählt. Auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene vollziehen sich Kreisläufe. “Southwest” ist ästhetisch sehr bewusstes Kino mit einer ausgezeichneten Kameraarbeit und Ton, das einen poetischen, nicht erklärbaren Schwebezustand im Nirgendwo absolut beeindruckend einfängt.
“Rat Fever - Febre Do Rato” (Claudio Assis; Brasilien) setzt ebenfalls auf eine selbstbewusste (schwarzweiße) Filmgestaltung, geht allerdings einen anderen Weg und erschafft ein vitales, impulsives, ungezügeltes Stück Kino, das sich ebenso gegen gängige Sehgewohnheiten aufbäumt, wie seine Protagonisten gegen den Gleichlauf der Gesellschaft rebellieren. “Rat Fever” ist das Porträt einer Gruppe junger Menschen, die ziellos in den Tag leben und ihre Freiheiten ohne Tabus auf Partys, mit kraftvoller Musik, Alkohol, hemmungslosem Sex etc. genießen. Ihr Anführer ist Rebell, Anarchist und Poet zugleich, der seinen Zorn gegen die Gesellschaft laut herausschreit.
“Rat Fever” ist in Recife angesiedelt, wie auch “Neighbouring Sounds - O Som Ao Redor” (Kleber Mendonca Filho; Brasilien). Letzterer spielt noch stärker mit der Architektur der Hafenmetropole, konzentriert sich auf ein Villenviertel der Stadt, das bedrohlich von Hochhäusern umgeben ist, die sich immer weiter in die Reihen der alten Häuser hineinfressen, so wie auch zunehmende Kleinkriminalität das Viertel bedroht. “Neighbouring Sounds” vernetzt die Bewohner in derem Alltag und setzt besonders eingangs stark auf eine Geräuschkulisse des Viertels, die jedoch später leider ein wenig an Bedeutung verliert.
“Der Wirbel - Girimunho” (Helvecio Marins jr. & Clarissa Campolina; Brasilien etc.) wechselt den Ort, geht von der bevölkerten Atlantikküste ins provinzielle Sertao. Die Filmemacher recherchierten lange, dokumentierten Orte und Menschen und erschufen daraus ein Spielfilmdrehbuch, in dem eine alte Frau nun ihre eigene Geschichte nachspielt. Im Endeffekt ist “Der Wirbel” deshalb ein halbdokumentarisches Porträt eines Landstriches, in dem eine alte Frau lebt, die nach dem Tod ihres Mannes von gespenstischen Visionen heimgesucht wird. Die Handlungsebene ist stark reduziert und der Film für mich recht ermüdend gewesen.

Ein weiteres Highlight des Filmfestes war für mich die Begegnung mit dem tschechischen Animationsfilm “Alois Nebel” (Tomas Lunak; Tschechien etc.). Als Vorlage diente die Graphic Novel von Jaroslav Rudis und Jaromir Svejdik, die zunächst als Realfilm gedreht und anschließend per Rotoskopieverfahren in eine schwarzweiße, mit wenigen Graustufen arbeitende Animation übersetzt wurde. Dadurch wirken die Bewegungen der Figuren verblüffend realistisch, die Schauspieler sind im Comic noch charakteristisch erkennbar und einige Texturen scheinen offensichtlich noch “real” zu sein. Dieser Film trotzte mir große Bewunderung über die formale Gestaltung ab. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen hinweg vom Verarbeiten menschlicher Erinnerungen.
Auch “Future Lasts Forever - Gelecek Uzun Sürer” (Özcan Alper; Türkei) behandelt Erinnerungen und die Aufarbeitung von Vergangenem, lässt eine Musikwissenschaftlerin aus Istanbul auf der Suche nach ihrem verschollenen Freund ins kurdische Gebiet aufbrechen, um dort ein Zeitzeugnis über die Vertreibung der Kurden zu schaffen. Özcan Alper integriert mehrere filmische Referenzen und kombiniert einen Wim Wenders’schen Sinnsucher beim Aufspüren von Wahrheiten mit einem berührenden Klagegesang, wie Theo Angelopoulos ihn in seine Filme integrierte. Die Hommage an diese beiden Filmemacher, welche ich beide sehr schätze, waren für mich natürlich ein absoluter Glücksumstand.
Ein weiteres Beispiel für historische Aufarbeitung im Film ist “Verwundete Erde - La Terre Outragee” (Michale Boganim; Frankreich etc.), der sich mit der Katastrophe von Tschernobyl beschäftigt. Wie schon in (dem weniger geglückten) “An einem Samstag” wird das Atomunglück von 1986 weder rekonstruiert, erklärt oder gewertet, sondern über persönliche Schicksale der dort lebenden Menschen reflektiert, die anfangs gar nicht wissen, was gerade passiert und welche Folgen die Katastrophe für sie bedeutet. Boganim erzählt recht stimmig und aufrichtig drei miteinander verflochtene Einzelgeschichten und begleitet ihre Figuren über mehrere Jahre hinweg, erzählt von Ängsten, Unwissen, Hoffnung und stummer Ergebenheit.
“Resistance” (Amit Gupta; UK) will eine bewegende Geschichte erzählen, in der sich in einem harten Kriegswinter die feindlichen Soldaten mit den Bewohnern des von ihnen besetzten Landes gegen weiteres sinnloses Töten verbünden. Und damit liegt schon der größte Haken des Filmes in seiner Vorlage. Denn das Buch bemüht eine historische Fiktion, in der 1944 die deutsche Wehrmacht England eingenommen hat. Warum diese selbstzerstörerische Vision? Hat es nicht genug echtes Elend an anderen Orten gegeben? So bewegend die Geschichte auch erzählt sein will, so heroisch sich auch der deutsche Anführer behauptet, so toll die Bilder der walisischen Natur auch waren, vor dem Hintergrund einer solchen Geschichtsumdeutung wollte der Film für mich nicht funktionieren.

Auch das deutsche Kino arbeitete mit historischen Stoffen. In dem beherzten “Die Brücke am Ibar” (Michaela Kezele) begibt sich die Filmemacherin ins Kosovo 1999, um die sich verhärtenden Spannungen zwischen Serben und Albanern aufzuspüren. Ihre Geschichte funktioniert insgesamt sehr gut und ist stimmig und bewegend, nur in Details strauchelt die Debütantin, formuliert ihren Film etwas zu deutlich und lehrbuchhaft aus. Zu einem thematisch verwandten Meisterwerk wie “Before the Rain” (an den die Filmmusik an einer Stelle explizit verweist) fehlt da noch einiges.
Ebenfalls in der Reihe des neuen deutschen Kinos lief das recht groteske und konstruierte Drama “Die feinen Unterschiede” (Sylvie Michel), das eine banale Alltagssituation auf die Spitze treibt und dabei diverse Gegensätzlichkeiten der beiden Protagonisten, einem deutschen Arzt und einer bulgarischen Putzfrau, herausarbeitet.
In den 1950er Jahren ist das Drama “Der Verdingbub” (Markus Imboden; Schweiz) angesiedelt und arbeitet ein Kapitel der Schweizer Geschichte auf, das heute bei der jungen Generation des Landes kaum noch bekannt ist. Als “Verdingkinder” wurden Kinder aus ärmsten Verhältnissen bezeichnet, die als Knechte oder Mägde an Bauernhöfe verkauft wurden und dort ein freudloses, hartes Arbeitsleben fristeten. Der Film funktioniert rein aus seiner Geschichte heraus, die er durch gute Darsteller, authentische Ausstattung und große, der Landschaft angemessene Bilder untermauert.

“The Orator - O Le Tulafale” (Tusi Tamasese; Neuseeland) ist ein exotisches Stück Kino aus und über Samoa mit einem klein(wüchsig)en Mann und dessen großer Courage. Es ist die Geschichte David gegen Goliath, in der unsere Sympathien erwartungsgemäß dem kleinen Helden gehören. Das macht den Film ein wenig überraschungsarm, aber die stille Inszenierung dieser Selbstbehauptung ungeachtet zu erwartender Konsequenzen der Stärkeren gefiel mir ebenso gut, wie das atemberaubende Setting urwüchsiger Natur und die Integration der Geschichte in die Traditionen des dort lebenden Volkes.
Thailand steuerte mit “P-047 - Tae Peang Phu Deaw” (Kongej Jaturanrasamee; Thailand) erneut eine rätselhafte Geschichte bei, die in der Mitte ihre bisherige narrative Linearität durchbricht, sich öffnet und nicht vollständig interpretierbar macht. Anfangs ähnelt die Geschichte über zwei Gelegenheitseinbrecher jener von Kim Ki-Duks “Binjip”, bis sich dann etwas verwirrend-brüchiges in den Film schleicht und ihn einer gewissen Rationalität enthebt. Also nicht unbedingt eine Innovation für das thailändische Kino, zumal andere Filmemacher zuvor diese Brüchigkeit schon viel faszinierender verwirklicht haben. Ich erinnere mich z.B. gern an “Mundane History”, der vor 2 Jahren in München lief.

Recht gut gefallen hat mir auch “It looks pretty from a distance - Z daleka widok jest piekny” (Anke & Wilhelm Sasnal; Polen) der irgendwo in Polen eine ganz andere Seite von Europa zeichnet: ein eigentlich recht idyllischer Flecken Erde, aber durch Müll und Schrott in einen häßlichen, heruntergekommenen Ort verwandelt, an dem auch die Menschen selbst ungeahnte Abgründe offenbaren und sich selbst stets am nächsten sind. Die Menschen haben verlernt zu träumen, zu lieben und füreinander einzustehen.
“Best Intentions - Din dragoste cu cele mai bune intentii” (Adrian Sitaru; Rumänien) ist dagegen eine echte Belastungsprobe. Ein junger Mann sorgt sich übertrieben um den Gesundheitszustand seiner Mutter, mißtraut den Ärzten, hört auf jeden gutgemeinten Ratschlag und erwartet immer das Schlimmste. Daraus entwickelt sich eine anstrengende und ab der Mitte des Filmes nur noch auf der Stelle tretende Farce, die mich am Ende einfach nur noch genervt hat.

Mein persönlicher Tiefpunkt des Festivals war jedoch “Sirenen an Land - Seirenes Sti Steria” (Nikos Perakis; Griechenland), ein Sequel und mainstreamige, laute und überdrehte Polit-Action-Mischmasch-Komödie, die hektisch, flach und uninspiriert ein durchaus ernstes Thema abhandelt, ohne Interesse wecken zu können. “Sirenen an Land” hat absolut gar nichts mit dem gerade aufstrebenden jungen griechischen Kino zu tun.

In den kommenden Wochen haben drei Filme deutschen Kinostart, die ich vorab sehen konnte.
“Das Schwein von Gaza - Le cochon de Gaza” (Sylvain Estibal; Frankreich etc.) ist ein ganz wunderbar komischer wie intelligenter Vermittlungsversuch im Konflikt zwischen Palästina und Israel und “Paris Manhattan” (Sophie Lellouche; Frankreich) eine lockerleichte Hommage an Woody Allen, in der der New Yorker sich in einem Kurzauftritt selbst spielt. Am überzeugendsten kam jedoch “Am Ende eines viel zu kurzen Tages / Death of a Superhero” (Ian Fitzgibbon; Irland etc.) daher, erzählt eine erfrischende wie perspektivlose Coming-of-Age-Geschichte eines 15jährigen, der dank seines Zeichentalentes in seine eigene Comicwelt flüchtet, die mehrmals auch den Spielfilm durchbricht.


Zusammenfassend seien noch einmal “Terraferma”, “Southwest” und “Alois Nebel” als jene Filme herausgestellt, die den stärksten Eindruck bei mir hinterlassen haben.


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Berlinale 2012


Berlinale 2012


Den WETTBWERB empfand ich dieses Jahr als recht ansprechend, zumindest kann ich das übermeine Auswahl an gesehenen Filmen sagen. Über den Gewinner des Goldenen Bären bin ich ein wenig überrascht, denn den Film der Taviani-Brüder hatte ich als einen der ersten aussortiert.
"Czak a szel - Just the Wind" (Bence Fliegauf; Ungarn) ist aufreibendes, atmosphärisch dichtes Kino, das die Roma-Morde und den unterschwelligem Rassismus im Ungarn 2008 thematisiert. Tolle Kamera, die sich an die Fersen seiner Figuren heftet und dabei unglaublichen Suspense erzeugt und auf hohem Niveau hält.
"Tabu" (Miguel Gomes; Portugal) ist formal außergewöhnliche Schwarzweiß-Kunst, besonders in der zweiten Hälfte nah dran am (kommentierten) Stummfilm. Hat mir sehr imponiert. Murnaus gleichnamigen Klassiker kenne ich leider nicht. Um den werde ich mich demnächst bemühen. Achja - die Kinoszenen mit Pilar waren natürlich ganz wunderbar.
"Meteora" (Spiros Stathoulopoulos; Griechenland) hat mir ebenfalls gefallen, eine universelle Liebesgeschichte, die sich trotz Verbot ans Licht bricht. Sehr gelungen waren die ikonenartigen Animationen, weniger gut war die digitale Kamera, die besonders die Totalen recht kontrastlos und verschwommen einfing und damit der großartig archaischen Landschaft nicht gerecht wurde (was vermutlich an den fehlenden finanziellen Mitteln lag).
"Captive" (Brillante Mendoza; Frankreich/Philippinnen) zeigt in rastlosen 120 Minuten eine Entführungsgeschichte aus dem Jahr 2001, fängt das wilde Durcheinander, die ständig hereinbrechenden Kampfsituationen und Hinterhalte, die Gefahren des Dschungels, willkürlichen Tod und eine unberechenbare Symbiose zwischen Rebellen und Opfern in packenden Szenen, Bildern und Geräuschen ein.
"Kebun binatang - Postcards from the Zoo" (Edwin; Indonesien) erinnert in der ersten Hälfte an eine Art "Amelie" in Indonesien, schafft poetisches und magisches Kino. Mit der zweiten Hälfte verliert er sich ein wenig, der Zauber der Inszenierung hält leider nicht bis zum Ende. Er lässt seine Protagonistin zwar am Ende heimkehren, aber narrativ war mir die Handlung ein wenig dürftig, vor allem da die Magie der Bilder zwischenzeitlich nachließ.
Außer Konkurrenz lief "Jin lin Shi San Chai - The Flowers of War" (Zhang Yimou; China) - ein allzu pathetisches Nationalepos, das sich einer bewegenden historischen Geschichte annimmt, aber diese arg rührselig aufbereitet. Zhang Yimou rührt und rührt ohne Unterlass. Zwischendurch blitzten immer wieder starke Bilder (einfallendes Licht in die Kirche) und damit das große Plus des Filmes auf. Leider überinszeniert er aber die Bilder von Krieg, Tod und übersteigertem Heldentum. Zum Glück endet der Film rechtzeitig und ersparte mir ein womöglich unerträgliches Finale. Hatte Zhang Yimou mit "Riding alone a Thousand of Miles" noch den chinesischen-japanischen Schulterschluss gesucht, so zeichnet er hier ein arg eindimensionales Bild der Kriegsparteien. Schade.

Meine Auswahl aus dem PANORAMA-Programm erwies sich als ausgesprochen durchwachsen.
"Parada" (Srdjan Dragojevic; Serbien etc.) ist ein wunderbarer Publikumsfilm trotz, bzw. gerade wegen seines queeren Themas und seinem humorvollen Umgang mit bestehenden Vorurteilen und Klischees. Habe mich sehr amüsiert und unterhalten gefühlt. Sehr schön war auch die symbolische Wiedervereinigung der ex-jugoslawischen Staaten - ein Abbild des auch gesellschaftlich aktuell einsetzenden Dialoges. Außerdem: schon allein, wie der Film solche Klassiker wie "Ben Hur" und "Die glorreichen Sieben" entzaubert, ist das Ansehen wert.
"Highway" (Deepak Rauniyar; Nepal/USA) vollbringt einen Brückenschlag zwischen ländlich-einfachem Leben und (einer so von mir nicht erwarteten) Moderne der Großstadt. Unvermittelt wird aus dem gewitzten Roadmovie eine Art "Short Cuts" in Nepal, das die Insassen eines Überland-Busses mit den Menschen in der Metropole und viele wieder untereinander in Verbindung setzt. Leider hab ich in der so nicht erwarteten Komplexität den Überblick über die Figuren verloren und hab den Film und seine Teilstücke zuletzt nicht ganz zusammen bekommen.
"The Woman who brushed off her Tears" (Teona Strugar Mitevska; Mazedonien) erzählt von zwei sehr unterschiedlichen Frauen, die in ihrer Not auf sich allein gestellt werden. Nur beschwerlich findet die Kamera einen direkten Blick auf die Figuren. Eine kann den Tod des Sohnes und die mögliche Schuld ihres Mannes nicht verwinden, die andere versucht aus dem Gefängnis eines rückständigen muslimischen Landlebens auszubrechen. Am Schluss führt die Erzählung beide Frauen zusammen und sorgt überraschend für eine "gemeinsame" Lösung ihrer Probleme.
"Kuma" (Umut Dag; Österreich) führt eine junge türkische Frau aus ihrer Heimat fort und bettet sie in eine Familie in Österreich ein, in welcher der Schein mehrfach trügt. "Kuma" erzählt vom Weg der jungen Frau bei der Integration in ein schwieriges Umfeld und über ihre Sehnsucht einer Selbstverwirklichung, die gegen die Traditionen verstößt und den Zorn der anderen auf sie lenkt. Am Ende fehlte mir eine deutlichere Aussage des Filmes. Das Plädoyer für Toleranz fiel etwas halbherzig aus.
"Die Wand" (Julian Roman Pölsler; Österreich) ist für Liebhaber des Romanes sicher genau der Film, den sie erwarten mögen: Eine Bebilderung von geschriebenen Worten. Sicher gibt es nicht viele Möglichkeiten, die sciencefiction-artige Geschichte einer unfreiwilligen Eremitin auf die Leinwand zu übertragen. Die Gedanken der Frau sind ein unablässiger Monolog als Offstimme, der den Film leider zu einer Art angestrengtem Vorlesekino macht, welches seine schönen Bilder dann doch immer der Literatur und seinen philosophischen Gedanken unterordnet. Zu wenig für Kino.
"Xingu" (Cao Hamburger; Brasilien) lässt schon durch seine mit Förderern überfüllten Vorcredits erahnen: hier folgt pompöses, wichtiges, aufklärerisches "National Geographic"-Kino. Drei Brüder, die im brasilianischen Urwald auf Indios treffen, deren Lebensweise studieren und fortan bei ihnen leben, werden zu Gutmenschen und Helden stilisiert, die bald den Kampf um den Erhalt des Lebensraumes der Indios führen. Schade um den interessanten, aber sehr simpel heruntergebrochenen Stoff, der sicher ein Publikum verdient. Die Inszenierung war zudem unangemessen pathetisch. Die Bilder und die Musik sind gut aber permanent zu groß für einen Film, der eigentlich selbstloses Engagement zeigen wollte.

Die vier Filme aus dem FORUM luden allesamt zu intensiver Auseinandersetzung ein.
"Tepenin Ardi - Beyond the Hill" (Emin Alper; Türkei/Griechenland) inszeniert einen Mikrokosmos an Figuren in einer kargen Gebirgslandschaft, eingefangen in tollen Cinemascope-Bildern. Zwischen die Menschen bricht sich bald Gewalt ihre Bahn, drohend werden die Blicke auf den unsichtbaren Feind, jene Nomaden auf der anderen Seite des Berges, geworfen und bald mobil gegen sie gemacht. Das stille eindringliche Drama spielt mit seinen Figuren, ihren Ansichten und Vorurteilen, vollendet sich zu einer sehr schönen Parabel, die dem Film dennoch seine Geheimnisse belässt. Hat mir sehr gefallen.
"Avalon" (Axel Petersen; Schweden) zeigt in seinem stimmungsvollen Film drei Menschen, für die die Zeit stehen geblieben ist und die sich als altgewordene Junggesellen in ihrem verantwortungslosen Partyleben feiern und dies zu ihrer Bestimmung gemacht haben. "Avalon" zeigt, wie sie mit ihrem realen Umfeld überfordert sind und sich stattdessen in ihre Wunschwelt ohne Sorgen zurückziehen, um selbstvergessen abzufeiern. Vor allem die Partyszenen sind sehr stimmig und schön inszeniert, die Bilder und Musik sind überzeugend genug, um selbst in diese andere Welt hinübergleiten zu wollen.
"Paziraie Sadeh - Modest Reception" (Mani Haghighi; Iran) lässt uns mit seinen quälenden Protagonisten durch einen rückständigen Landstrich reisen. Ein Mann und eine Frau verteilen wahllos an einfache Menschen Geld und werden zugleich zu moralischen Verbrechern. Sie spielen "Funny Games" mit ihren "Beschenkten", die das blanke Zuschauen schier unerträglich machen. Erst mit etwas Abstand zur soeben erlebten filmischen Tortur tritt die Kritik an der bestehenden Kluft zwischen Arm und Reich hervor. Der Film ist eine echte Belastungsprobe, die jedoch zur Auseinandersetzung mit seinen Figuren zwingt.
"Toata lumea din familia noastra - Everybody in our family" (Radu Jude; Rumänien) schließt sich ein wenig an den zuvor genannten Film an. Hier ist es ein Mann, der bei der Familie seiner Ex auftaucht, um die gemeinsame Tochter zu einem Ausflug abzuholen, sich dort aber in ein gewalttätiges Familiendrama verrennt, das bald keinen Ausweg für den Protagonisten mehr offen lässt. Der Alltag einer Patchworkfamilie wird zur bitterbösen Farce, ein Kleinkrieg in den vier Wänden. Die Intensität der Handlung steigt mit dem Adrenalinspiegel seiner Figuren. Leider ermüdet der keine Grenzen kennende Film dann doch auf Dauer ein wenig, der Blick auf die Figuren weitet sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr.

Außerdem habe ich einen jener Filme aus Kambodscha der 1960er Jahre gesehen, von denen nur wenige während des Krieges erhalten geblieben sind. "Peov Chouk Sor" ist ein farbenprächtiges, simples Märchen, das eine Himmelstochter und einen einfachen Erdenmenschen zusammenführt. Eine sehr schöne Entdeckung, allerdings mit einem arg unökonomischen Ende, das mich im wahrsten Sinne des Wortes leiden ließ. Der recht gute Film "Das Haus am Fluss" (Ein Wiedersehen mit Katrin Sass, Corinna Harfouch und anderen in jüngeren Jahren) lief in der Reihe zu Ehren des Filmstudios Babelsberg, "Magyarorszag 2011" eine Sammlung von 11 Kurzfilmen, die ungarische Filmemacher ohne Geld gedreht haben, um auf die aktuelle missliche (politische wie kulturelle) Lage ihrer Heimat hinzuweisen. Die gelungenste Idee zeigte einen Kurzfilm, der nur aus Vorspann und Abspann besteht, zwischen denen nur schwarze Leinwand herrscht, und Altmeister Miklos Jancso bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: "Hier kann man keine Filme drehen, hier kann man nur schreien". Im Anschluss an die Kurzfilme gab es ein ganz interessantes Podiumsgespräch mit Produzent Bela Tarr und Bence Fliegauf, der einen der Kurzfilme beisteuerte. Zu meinem emotionalen Höhepunkt der diesjährigen Berlinale wurde erwartungsgemäß die Sondervorstellung von "Trilogie: Die Erde weint" zu Ehren des verstorbenen Theo Angelopoulos. Dieter Kosslick, aber vor allem Angelopoulos' langjähriger Co-Autor und Freund, Petros Markaris, berichteten bewegend über den Verstorbenen. Der Film selbst, den ich natürlich schon kannte, ist ein eindrucksvolles Zeugnis, was sowohl Angelopoulos Verankerung seiner Filme in die Historie des eigenen Landes und der Mythologie der Griechen angeht als auch die Inszenierung in langen Einstellungen und Kamerafahrten, in der sich mitunter ohne Schnitt verschiedene Zeiten in einem Bild vereinen.


Einen Überflieger wie in den vergangenen Jahren ("La Teta Asustada", "Winter's Bone" oder "The Turin Horse") hatte ich dieses Mal nicht, ich bin aber ganz zufrieden mit den von mir gesehenen Filmen. Am meisten möchte ich da "Tepenin Ardi", "Czak a szel" und "Tabu" hervorheben.


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Filmfest Cottbus 2011


Zurück vom Filmfest Cottbus. Die Qualität der Filme war gemischter als sonst, ein ums andere Mal wandelten sich neugierig machende Titel in mittlere Enttäuschungen, während sich woanders ganz unverhofft Überraschungen zeigten.


Der Feind (Dejan Zecevic, Serbien-Montenegro)
Mein persönlich stärkstes Filmerlebnis, ein atmosphärisch ungeheuer dichter, ja gespenstischer Gänsehaut-Kriegsthriller. Wenige Stunden nach Kriegsende öffnet eine serbische Einheit eine Kellerwand und befreit einen tagelang eingeschlossenen und befremdlich unversehrten Mann, der zu ihrem zynischen, diabolisch kommentierenden Begleiter wird. Es ist, als hätten sie den leibhaftigen Satan befreit. Die Stimmung im Minenbeseitigungs-Trupp beginnt zu brodeln, Mißtrauen, Angst und der Tod treten zwischen die Männer. Der Film ist ein klaustrophobisches Kammerspiel auf einem durchweg hohen Spannungsniveau, geradlinig ohne Schnörkel erzählt, eine schockierende, symbolgeladene Kriegsaufarbeitung, die man nicht so leicht vergisst.

Wenn das Samenkorn nicht stirbt (Sinisa Dragin, Rumänien)
Ein rumänischer und ein serbischer Vater auf der Suche nach ihren verschollenen Kindern irren auf ihren Odysseen über den Balkan umher, ganz beiläufig kreuzen sich mehrfach ihre Wege und treffen am Ende inmitten der Donau wieder aufeinander, wo sich die tragikomischen Gegenwartsgeschichten mit einer wunderbar mythisch überhöhten Legende über eine einst über das Land gezogene und im Fluss versunkene Kirche verbinden. Gerade diese mehrfach eingewobene historische Geschichte (die ein wenig an "Fitzcaraldo" erinnert) bildet einen sehr schönen poetischen, staunenswerten Kontrast zu den dramatischen wie grotesken Wirren des Alltags, durch den sich die Protagonisten in der Gegenwart kämpfen müssen.

Jelena (Andrej Swjagintsev, Russland)
Der dritte Spielfilm des derzeit vielleicht besten russischen Nachwuchsregisseurs ("The Return") spielt diesmal nicht in einem archaischen Nirgendwo, sondern vornehmlich im Moskauer Haus eines reichen Mannes, der von seiner Frau Jelena geliebt und umsorgt wird. Durch die gutsituierte Ehe ist Jelena in der Lage, auch die Familie ihres nichtsnutzigen Sohnes aus erster Ehe durchzubringen. Eine bedenklich übertriebene Mutterliebe treibt Jelena in die Enge, als ihr Mann dies nicht mehr unterstützen möchte. Swjagintev zeigt sich auch in diesem zeitgenössischen Drama als meisterhafter Regisseur, die Bilder zweier gegensätzlicher Lebenswelten sind atmosphärisch toll fotografiert und ganz sparsam aber ungeheuer wirkungsvoll ist eine mehrfach auf- und abschwellende Musik eingesetzt, die die Spannung enorm anfacht. Im Zentrum des Filmes steht die zweifelhafte Heldin Jelena, die unglaublich gut von Nadezhda Markina gespielt wird. Einziges Manko von "Jelena" ist vielleicht wie schon bei "The Banishment", dass die Geschichte fast ein wenig zu klein für so einen großartig inszenierten Film ist.

Personalausweis (Ondrej Trojan, Tschechien/Slowakai)
Diese Coming of Age Geschichte war für mich eine ganz wunderbare Überraschung. Vier Schulfreunde werden Mitte der 1970er Jahre langsam erwachsen und der tragikomische Film fängt ganz leicht und unbeschwert die Sorgen, Nöte und Freuden der Jungs zwischen Schulbank, Familie und den neu winkenden "Freiheiten" als junge Erwachsene ein. Regisseur Ondrej Trojan weiß wovon er erzählt, denn er war selbst in besagter Zeit so alt wie seine Helden. Er weiß seine Geschichte sowohl mit sehr viel Humor und nostalgischem Charme auszugestalten und damit (nicht nur) meine Sympathie zu gewinnen, wie auch den Ernst, Ängste und Repressalien dieser Ära einzubinden. Trojan verrät seine Figuren nie und weiß immer wieder zu überraschen, vergisst am Ende nur ein, zwei lose Fäden von Nebenfiguren zu Ende zu knüpfen. Ein beherzter Film für ein dankbares Publikum, ganz angenehm mitten auf einem Festival.


Außerdem habe ich gesehen:

Zaster (Konstantin Buslov, Russland)
Mainstreamige Komödie über die Jagd nach einem Geldkoffer, der mehrfach seinen (unrechtmäßigen) Besitzer wechselt. Eine gewalttätige Odyssee durch ein modernes kapitalistisches Russland. Hat mir nix gegeben.

Der Jäger (Bakur Bakuradze, Russland)
Der triste Alltag eines Bauern wird aufgebrochen, als er sich ganz allmählich in eine andere Frau verliebt und ihn in Entscheidungsnot bringt. Der Film verrinnt unendlich langsam und zäh. Ein interessanter Ansatz, leider als übertriebene Geduldsprobe verpackt.

Salz Weiß (Keti Machavariani, Georgien)
Drei einsame Menschen treffen als mittellose "Glücksritter" in einem Ferienort am Schwarzen Meer aufeinander, verweilen kurz und driften wieder auseinander auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück und einer besseren Zukunft. Ganz unaufgeregt erzählt und inszeniert, hat mir gefallen.

Sonnige Tage (Nariman Turebayev, Kasachstan)
Die Abwärtsspirale eines jungen arbeitslosen Mannes, der bis zu seinem 30. Geburtstag alles verlieren wird. Ein sehr träge erzählter und bedrückender Film mit diversen Regiefehlern, durch den ich mich gequält habe.

Crulic (Anca Damian, Rumänien/Polen)
Eine nüchtern erzählte Rekonstruktion über den Tod eines zweifelhaft verurteilten und aus Protest in Hungerstreik getretenen Mannes. Eine wahre Geschichte, visuell in (nahezu beliebig) vielen Animationsstilen umgesetzt. Das lag mir nur wenig, zudem ich von der Unschuldigkeit des Mannes bis zuletzt nicht wirklich überzeugt wurde.

Rotes Eis. Saga über die Chanten von Ugra (Oleg Fesenko, Russland)
Kaum an historischen Hintergründen oder an seinen Figuren interessierter Actionfilm, in dem die Sowjetarmee mit sozialistischem Erziehungsauftrag auf das ursprünglich lebende Volk der Chanten trifft. Zuviel Kamerafahrten, Schnitte, Action und Effekte, ein total verschenkter Stoff mit nur wenigen wirklich guten Einzelszenen, die das Potential bei einer sensibleren Inszenierung hervorblitzen ließen.

Asche und Blut (Fanny Ardant, Frankreich/Rumänien/Portugal)
Fanny Ardant debütiert hier als Drehbuchautorin und Regisseurin, schwebt allerdings mehr als "Künstlerin" über ihrem recht ambitioniert klingenden Projekt und verschenkt das Potential ihres Blutrachedramas durch eine unkonzentrierte, zum Abschweifen neigende Erzählung und Inszenierung. Schade. Meine größte Enttäuschung des Festivals.

Ich heiße Ki (Leszek Dawid, Polen)
Eine humorbewusste Alltagsgeschichte über eine temperamentvolle und recht anstrengende junge alleinerziehende Frau, die sich auf ihre unangepasste Weise durch das Leben schlägt und für ihre Mitmenschen immer wieder zur Belastungsprobe wird. Leichtfüßig, gewitzt, charmant. Hat mir sehr gefallen. Nur begegnen möchte ich der echten Ki auch nicht.

Portrait im Zwielicht (Angelina Nikonova, Russland)
Eine vergewaltigte Frau nimmt auf ungewöhnliche Weise Rache an ihrem Peiniger, indem sie ihn zu therapieren versucht. Der Film ist schon recht gut gemacht und konzentriert erzählt und verdichtet, aber die Motivation der Frau blieb mir fremd und fragwürdig und somit auch die Aussage des Filmes, der zur Selbsterniedrigung aufzurufen scheint.


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Albanisch-kosovarische Filmtage


Medeni Mesec (Goran Paskaljevic)
Kukumi (Isa Qosja)
Amnistia (Bujar Alimani)
Lindje, Perëndim, Lindje (Gjergj Xhuvani)

Die kurze albanisch-kosovarische Filmreihe wurde mit dem Albanien-Beitrag der Doku-Serie "Balkan Express" eröffnet, der auf das Leben im Umbruch vor allem in der aufstrebenden Metropole Tirana verweist, auf das auch einige Filme der Reihe Bezug nahmen. Vom alten traditionsgeprägten Albanien, wo der Alltag im Hochland vom streng regelnden Kanun beherrscht wird, war kaum noch etwas zu spüren.
Mag es nur am anderen Blickwinkel auf das Land liegen, oder hat sich hier tatsächlich bereits ein Generationswechsel vollzogen?

"Medeni Mesec" ("Flitterwochen") ist die erste Koproduktion zwischen Serbien und Albanien und vereint zwei parallel erzählte Geschichten über jeweils ein junges Paar, in deren Familien sich alte und moderne Lebensweisen und Ansichten vermischen und Konflikte nähren. Beide Paare brechen aus ihrem Land auf, um in ein anderes europäisches (westlicheres) Land zu gehen. Beide Handlungsstränge sind nahezu spiegelbildlich angeordnet und verdeutlichen so, dass das Leben, seine Herausforderungen und Probleme in beiden Ländern die gleichen sind. Das zwischen den Nationen liegende politisch umstrittene Kosovo wird auf absurde Weise beiden Paaren bei der Einreise in die anderen Länder zum Verhängnis. Somit ist "Medeni Mesec" um Neutralität und Entspannung bemüht und politisch sehr korrekt, zurück bleibt jedoch eine für meinen Geschmack zu offensichtlich konstruierte Geschichte.

"Kukumi" ist eine stille weil dialogarme Geschichte, die im Kosovo des Jahres 1999 spielt, als die UN-Truppen die Kontrolle im Land übernehmen. Trotz des ernsten Hintergrundes ist es ein sehr schöner und eigentümlich betörender kleiner Film, nicht zuletzt durch seine tollen Bilder, seine eindringliche Musik und eine sehr stimmige Inszenierung. In einer Art kreisförmiges Roadmovie entdecken drei Psychiatrie-Insassen auf unverhofftem Freigang ihre Heimat im Umbruch. Sie stolpern als gewitzte Glücksritter durch ein karges, verlassenes Land und entdecken (mehrsinnig) ihre neue Freiheit. Um sie herum flüchten Menschen oder nähren die Hoffnung auf Demokratie oder versuchen ihr Kapital aus der neuen Situation zu schlagen, während KFOR-Panzer durchs Land rollen. In gewissem Sinn könnte man das Abenteuer Freiheit der drei Figuren als eigenwillige Menage-a-trois beschreiben.

"Amnistia" ("Amnestie") erzählt zunächst parallel von einer Frau und einem Mann, die ihre jeweiligen Ehepartner im Gefängnis von Tirana besuchen, bis sich beide begegnen und ihre Geschichten sich zu einer verzahnen. Wie bei "In the mood for love" lernen sich hier eine Frau und ein Mann äußerst zag- und schamhaft kennen, während die abwesenden (inhaftierten) Ehepartner gesichtslos bleiben. Beiläufig klagt der Film die Zustände im Land an, wie zum Beispiel in jener ausdrucksstarken Szene, in der die Frau an einer endlos langen Besucherschlange am Gefängnis vorbei geht. Stärker bezieht er den Konflikt zwischen Tradition und Moderne ein, indem er dem sich heimlich findenden Paar einen sittenstrengen Schwiegervater der Frau gegenüberstellt, der sie aus ihrem Dorf in die Stadt fliehen lässt. Sie alle sind in ihrer Weise Gefangene und eine Amnestie gebiert und zerstört Hoffnungen gleichermaßen. "Amnistia" ist ein gut gespieltes, leises und formal konzentriertes Drama, das mir sehr gefallen hat.

"Lindje, Perëndim, Lindje" ("Der letzte Sprint") beschwört den albanischen Nationalstolz in Form eines tragikomischen Roadmovies. Albanien erhält nach Jahren endlich wieder eine Einladung zu einem internationalen Radrennen. Während sich ein Team von Amateuren, offensichtlich zum Verlieren verdammt, per Schiff auf den Weg macht, stürtzt in der Heimat das politische System zusammen. Der Umbruch macht sie zu Vergessenen und das Rennen rückt in weite Ferne. Per Rad machen sie sich auf den Weg in die Heimat die es so nicht mehr gibt. Der Film gibt sich gewitzt und lokalpatriotisch, sympathisiert mit seinen Figuren, schwächelt ein wenig beim Erzählen durch Weglassen von Hintergrund. Ganz nett, mehr nicht.




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Gerngucker
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