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Herr Settembrini schaltet das Licht an

Oberlehrerhafte Ergüsse eines selbsternannten Filmpädagogen

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Das Schweigen


Ingmar Bergmans Das Schweigen (Tystnaden) gehört sicherlich zu des Meisters vieldeutigsten und rätselhaftesten Filmen und hat eine Vielzahl von Deutungen erfahren. Überaus beliebt waren vor allem zur Entstehungszeit des Werks einseitige religiöse Auslegungen (etwa vom Kritiker Klaus Hebecker, der in dem Film ein "ausschließlich religiöses Drama" sah und andere Auslegungen als "kaum zulässig" ansah), zu denen ich später noch ein paar Worte verlieren werde. Besonders heftig entzündete sich der Widerstreit der Meinungen an den seinerzeit gewagten, nach heutigen Maßstäben aber zahmen Sexszenen, wie sich etwa in Reclams Filmführer nachlesen läßt. Dort heißt es:

Als "Spekulation" und als "nicht beschreibbar" erschienen sie damals einem der Gegner des Films, "wie Peitschenhiebe der Flagellanten" einem seiner Verteidiger.

Rückblickend betrachtet fragt man sich natürlich, was besagte Gegner und Verteidiger zu Filmen wie Der letzte Tange in Paris oder Im Reich der Sinne gesagt hätten...
Soweit mir bekannt, ist kaum ein Rezipient jemals auf den Einfall gekommen, Das Schweigen als Horrorfilm anzusehen. Und die Idee ist ja auch (auf den ersten Blick zumindest) absurd: es geschieht kein blutiger Mord, die Protagonisten werden nicht von Vampiren, Werwölfen oder mit einer Axt bewaffneten Wahnsinnigen durch endlose Hotelkorridore verfolgt - kurz und gut, es erscheint als ausgesprochen albern, Bergmans Drama über Vereinsamung und gestörte Beziehungen mit Filmen, die Motive wie die gerade genannten enthalten, in Verbindung zu bringen.
Anders sieht es mit der Atmosphäre des Films aus: denn diese ist alptraumartig und fast unheimlich, und es gibt kaum ein Bild in dem Film, in dem nicht ein unterschwelliges Gefühl der Bedrohung spürbar ist, und auch die Angst der Hauptfiguren voreinander, vor sich selbst, vor ihrer Umgebung und vor allem vor dem Tod ist förmlich greifbar. Inhaltlich ist Das Schweigen vom Horrorfilm zwar weit entfernt, atmosphärisch diesem aber ziemlich nah, und dazu passen auch einige der Mittel, mit denen Bergman diese Atmosphäre erzeugt: ein durchdringendes Weckerticken (wie es einem wenig später auch in Polanskis Ekel begegnet) und andere, auf beunruhigende Weise unnatürlich wirkende Geräusche; düstere Schatten und, nicht zu vergessen, ein fast menschenleeres Hotel mit Korridoren, in denen ein kleiner Junge sich zu verlieren droht... Da ich zur Zeit aber gerade in meinem Filmarchiv herumwühle und dabei bevorzugt Horrorfilme herausgreife, wobei ich allerdings den Begriff des Horrorfilms sehr weit fasse und mich keineswegs auf reinrassige Vertreter des Genres beschränke, hielt ich es für eine interessante Idee, Bergmans Film in meine kleine Reihe zu inkorporieren (Die Stunde des Wolfs hätte sich natürlich noch mehr angeboten, aber der fehlt in meiner Filmsammlung, und außerdem fand ich es spannend, Das Schweigen vor einem echten Horrorfilm, der hauptsächlich in einem Hotel spielt, zu sehen...).
Zur Handlung des Films will ich hier nicht viele Worte verlieren (zumal es eine gute Zusammenfassung in der lesenswerten Besprechung von Short Cut gibt). Die Übersetzerin Ester, deren Schwester Anna und Annas kleiner Sohn Johan sind auf der Heimreise aus dem Urlaub und werden durch einen Anfall der kranken Ester zum Aufenthalt in einer fremden Stadt gezwungen, während ihres Aufenthalts entlädt sich der offenbar schon lange schwelende Konflikt zwischen den Schwestern, bis schließlich Anna mit ihrem Sohn abreist und Ester zurückläßt, die (so ist zumindest anzunehmen) schon bald sterben wird.
Der Titel verweist schon auf das Thema der Kommunikationslosigkeit (und damit auch der Vereinsamung), und tatsächlich gibt es in Das Schweigen viel weniger Dialog als in anderen Bergman-Filmen wie etwa Licht im Winter, Persona oder Szenen einer Ehe. Die Sprachlosigkeit, von der die drei zentralen Figuren erfaßt werden, verstärkt sich noch dadurch, daß die Sprache der Landeseinwohner unverständlich bleibt, und sowohl Anna als auch Ester "erzählen" dem Mann, mit dem Anna sich mehrmals trifft bzw. den alten Portier im Hotel nur deshalb recht offen von sich, weil sie wissen, daß sie nicht verstanden werden. Aber auch Anna, Ester und Johan finden trotz ihrer gemeinsamen Sprache kaum zueinander, Johan nähert sich zwar im Verlauf des Films seiner Tante an, entfremdet sich aber gleichermaßen von seiner Mutter, die ihn am Ende fast schon gewaltsam von der sterbenskranken Ester trennt (und auf deren Brief an Johan mit gerade demonstrativem Desinteresse reagiert). Auch die Beziehung der Schwestern selbst verändert sich während des Films, aber nicht zum besseren: der intellektuellen (aber auch verklemmten) Ester entgleitet zunehmend die Herrschaft, die sie über ihre Schwester bisher ausgeübt hat, trotzdem erscheint der endgültige Bruch, den Anna schließlich vollzieht, eher als Flucht denn als ein Aufbegehren. Zur allgemeinen Atmosphäre der Bedrohung trägt auch bei, daß das namenlose Land offenbar von einem Krieg bedroht (oder bereits in einen solchen verwickelt) ist; ob Bergmans Films von der kurz zuvor nur mit viel Glück ausgestandenen Kuba-Krise beeinflußt worden ist, weiß ich allerdings nicht.
Gesprochen wird also nur wenig; dafür nimmt das visuelle Element einen entsprechend großen Raum ein, und in dieser Beziehung ist der Film, obwohl seine Bilder vor allem von Entfremdung, Isolation und nicht zuletzt vom Tod künden, von großer Schönheit (und dementsprechend ist die meisterhafte Arbeit Sven Nykvists herauszustreichen).
Wie ich schon eingangs erwähnte, waren (und sind) religiös gefärbte Interpretationen des Films besonders verbreitet. Bergman selbst hat solchen Deutungen dadurch Vorschub geleistet, daß er Tystnaden und dessen beide Vorgängerfilme (in denen Religion tatsächlich eine recht große Rolle spielte) als eine Trilogie bezeichnete, deren dritter Teil Das Schweigen sei. Insofern galt und gilt vielen Interpreten das stille Inferno, das Bergman zeigt, als "die erschütternde Vision einer Welt ohne Gott" (um nochmals Reclams Filmführer zu zitieren). Nun ist diese Sichtweise zwar legitim, ich halte sie aber für durchaus nicht für zwingend. Gerade die Lesart, daß für Bergman eine "Welt ohne Gott" besonders schrecklich sei, darf angezweifelt werden, denn in Bergmans Autobiografie Laterna magica schreibt der Meister an einer Stelle:

"Das, was Jesus da sagt, daß es im Haus seines Vaters viele Wohnungen gebe, daran glaube ich nicht. Außerdem bedanke ich mich herzlich. Wenn ich es endlich geschafft habe, den Wohnungen meines Vaters zu entkommen, möchte ich nicht bei jemandem einziehen, der vermutlich noch schlimmer ist."

Das klingt (für mich) doch so, als ob Bergman den Gedanken an eine Welt ohne Gott sehr gut aushalten kann. Letztlich muß man aber ohnehin Bergmans Äußerungen zu seinen Werken immer mit gewisser Vorsicht genießen, immerhin hat der Mann es fertiggebracht, unter Pseudonymen Schmähschriften, die sich gegen seine eigenen Filme richteten, zu verfassen...
Ich persönlich finde jedenfalls den Gedanken überzeugender, daß die Personen in Tystnaden nicht am Schweigen Gottes leiden, sondern eher am Schweigen der Menschen, an ihrer Isoliertheit, an dem Gedanken, dem Tod letztlich ganz allein gegenübertreten zu müssen - das letztere Motiv wird in der Gestalt der am Ende verlassenen Ester schon sehr konkret und kündigt zugleich auch schon das spätere Meisterwerk Schreie und Flüstern an, in dem ohnehin diverse Motive aus Das Schweigen wieder auftauchen. Zu einer solchen eher weltlichen Auslegung paßt auch, daß die Musik Johann Sebastian Bachs einen kleinen Hoffnungschimmer in den Film hineinträgt: die Musik bedient sich ihrer eigenen Sprache, die von allen verstanden wird, und vermag so die Sprachlosigkeit zu überwinden. Dies gilt aber, wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt, auch für die Filmkunst, deren Bildersprache ebenfalls die Schranken der verbalen Kommunikation überwinden und so einen Keil in die Sprachlosigkeit, in der die Menschen erstarrt sind, treiben kann.
Letztlich tut man aber ganz gut daran, den vielschichtigen Film nicht auf eine Bedeutung festzulegen - das haben ohnehin schon genug Interpreten versucht. Vielleicht sollte man, anstatt jedes Detail verstehen zu wollen, diesen ebenso schönen wie schrecklichen Film einfach mit seinen Bildern und Tönen auf sich wirken lassen.


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Das Schweigen der Lämmer


Hinweis: An dieser Stelle die übliche Warnung vor preisgegebenen Inhalten...

Mein Filminteresse erwachte vor mittlerweile fast zwanzig Jahren im Jahr 1994 zwar nicht gerade von einem Tag auf den anderen, aber doch innerhalb sehr kurzer Zeit durch recht wenige Filme. Einer davon war Das Schweigen der Lämmer, der auf Anhieb zu einem meiner Lieblingsfilme wurde - und dies bis heute geblieben ist.

Das Schweigen der Lämmer ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Thomas Harris; dabei steht die junge FBI-Agentin Clarice Starling im Mittelpunkt von Buch und Film. Clarice wird von ihrem Chef Jack Crawford beauftragt, den Psychiater und kannibalistischen Serienmörder Dr. Hannibal Lecter zu interviewen; der Fragebogen, mit dem er Clarice zu Lecter schickt, ist allerdings nur ein Vorwand (hier unterscheidet sich der Film übrigens vom Roman), denn tatsächlich vermutet Crawford (zu Recht) eine Verbindung zwischen Lecters Fall und dem eines noch frei herumlaufenden Serienmörders, der von der Presse "Buffalo Bill" genannt wird, und hofft, daß Clarice Informationen aus Lecter herausholen kann (da er wohl ebenfalls zu Recht annimmt, daß auf einem anderen Weg überhaupt nichts aus Lecter herauszubekommen wäre). Tatsächlich gibt Lecter Clarice (häufig recht verschlüsselte) Hinweise, verlangt aber, daß sie im Gegenzug persönliche Details aus ihrer Kindheit verrät. Clarice gelingt es schließlich, "Buffalo Bill" zu finden und dabei zu töten - gerade noch rechtzeitig, um seinem letzten Entführungsopfer das Leben zu retten; allerdings zu einem hohen Preis, denn Lecter ist unterdessen die Flucht gelungen, was vor allem Dr. Chilton, der arrogante Leiter der Anstalt, in der Lecter jahrelang einsaß, zu verantworten hat (dafür folgt ihm Lecter aber in der Schlußeinstellung auch mit nicht mal zehn Metern Abstand...).

Jonathan Demmes meisterhafter Film folgt Harris' Roman (der zumindest teilweise als Fortsetzung des Romans Roter Drache angelegt ist, während im Film alle Verweise auf die frühere Geschichte sorgfältig entfernt sind, so daß er völlig für sich steht) recht genau (die vielleicht gravierendste Änderung habe ich bereits erwähnt) - und ist für mich trotzdem eines der besten Beispiele für eine Romanverfilmung, die das zugrundeliegende Buch noch beträchtlich übertrifft. Das liegt nicht so sehr am Inhalt, sondern vor allem am Stil. Harris ist sicherlich ein guter Handwerker, der seinen Roman mustergültig aufgebaut hat und sehr gut weiß, wie er Spannung beim Leser erzeugen kann; es käme mir aber nicht in den Sinn, ihn als wirklich großen Schriftsteller zu bezeichnen. Der Film dagegen versteht es, nicht nur eine sehr starke äußere Spannung zu erzeugen, sondern gehört auch zu den vergleichsweise seltenen Thrillern (wenn man ihn als Thriller rezipieren will, denn man könnte ihn auch als Drama einerseits, als Horrorfilm andererseits betrachten - besonders für letzteres sprechen so einige Gründe), die daneben auch starke und interessante Figuren zu bieten haben; und er zeichnet sich durch eine Vieldeutigkeit aus, die ich dem Roman beim besten Willen nicht zugestehen kann.

Dabei lohnt es sich aber durchaus, zunächst einmal zu betrachten, auf welche Weise der Film zunächst Spannung erzeugt und diese auf permanent hohem Niveau hält: Jonathan Demme bedient sich klassischer Suspense-Techniken, wie man sie von Hitchcock kennt: erwähnt sei etwa, wie die Kamera den so verhängnisvollen Kugelschreiber, der zu einem Werkzeug bei Lecters Flucht wird, so ins Bild setzt, daß dessen Bedeutung erkennbar wird; erwähnt sei auch die meisterhafte Parallelmontage kurz vor dem Ende des Films, wenn der Zuschauer erst am Ende der Sequenz erkennt, daß das FBI das falsche Haus stürmt, während Clarice ganz allein mit "Buffalo Bill" (der tatsächlich Jame Gump heißt) fertig werden muß. Hinreißend ist auch, wie verschiedene Szenen oftmals durch einzelne Dialogsätze, also über die Tonspur verbunden werden; so etwa, wenn Dr. Chilton eine Frage beantwortet, die Clarice zuvor Jack Crawford gestellt hat. Das ist ein ganz altes Verfahren, das man schon in Fritz Langs M findet, aber nur wenige Filme haben seit M so überzeugenden Gebrauch davon gemacht. Andererseits arbeitet Demme in den gemeinsamen Szenen von Jodie Foster und Anthony Hopkins hauptsächlich mit Schuß-Gegenschuß und läßt seinen beiden überragenden Hauptdarstellern weitgehend den Vortritt. Und er tut gut daran, denn daß die Beziehung zwischen Clarice und Dr. Lecter zu einer der faszinierendsten und vielschichtigsten der Filmgeschichte gehört, ist sicher auch der Vorlage (wo die direkten Konfrontationen der zentralen Figuren zu den stärksten Passagen gehören) und Ted Tallys hervorragendem Drehbuch zu verdanken, zu einem beträchtlichen Teil aber dem Spiel von Foster und Hopkins. Gerade eine der Schlüsselszenen des Films, die letzte direkte Begegnung zwischen Clarice und Lecter, gewinnt so eine wunderbare Mehrdeutigkeit: ist es der kannibalische Serienmörder, der Clarice dazu drängt, ihm ihr Kindheitstrauma zu schildern, weil er sich daran ergötzen will? Oder spricht hier der Psychiater, der seine Patientin heilen will? In dem ungemein intensiven Moment, in dem sich die Finger der beiden sekundenlang berühren, erscheint dann sogar die Lesart möglich, daß zwischen ihnen eine heimliche, nicht ausgesprochene und nicht eingestandene Liebe besteht (und nur in dieser Form ist das reizvoll, während ich Harris' Einfall, aus Clarice und Lecter in der Fortsetzung ein wirkliches Liebespaar zu machen, völlig meschugge finde). Aber diese seltsame Beziehung lädt noch zu weiteren Interpretationen (oder Assoziationen, um es etwas vorsichtiger auszudrücken) ein: so scheint in der Vereinbarung mit Dr. Lecter, auf die Clarice sich einläßt, natürlich auch das faustische Motiv vom Pakt mit dem Teufel durch.
Dabei sollte man natürlich nicht übersehen, daß Clarice die eigentliche Hauptfigur ist: der Film schildert vor allem, wie sie sich in einer Männerwelt, die in ihrer Gesamtheit von Gewalt, entfesselten Trieben und Wahnsinn beherrscht wird, behaupten muß, und Jodie Foster versteht es dabei auf hinreißende Weise, Clarice als ebenso mutige wie ehrgeizige, aber auch verletzliche junge Frau zu zeigen, die es schließlich versteht, sich auch von ihrem Ersatzvater Jack Crawford wie von Dr. Lecter zu emanzipieren - insofern steht Das Schweigen der Lämmer auch dem klassischen Bildungsroman durchaus nahe. Zu der Eindringlichkeit, mit der Clarice' mühsame Behauptung dargestellt wird, tragen natürlich auch die Bilder maßgeblich bei: so zeigt Demme noch in der Titelsequenz, wie Clarice als einzige Frau in einen Fahrstuhl einsteigt, in dem lauter (recht kräftig gebaute) Männer sind - und verdichtet so ein zentrales Thema des Films in einer einzigen, noch dazu sehr kurzen Einstellung (vergleichbare Bilder findet man in der Szene, die der Obduktion eines der Opfer Jame Gumps vorausgeht). Zuvor sah man Clarice im Wald verschiedene Hindernisse erklimmen, die als Vorboten der Hindernisse, die sie im weiteren Film noch überwinden muß, erscheinen. Doch auch die Rückblenden, die Clarice als kleines Mädchen zeigen, sind wunderbar und zeugen davon, mit welchem Einfühlungsvermögen sich Demme seiner Hauptfigur nähert.

Besonders zugute kommt dem Film zudem Demmes Gespür für Atmosphäre (welches sich sehr schön etwa bei Jame Gumps seltsamen Tanz zum Song "Goodbye Horses" kurz vor dem Finale des Films zeigt), von dem bereits sein vorzüglicher Konzertfilm Stop Making Sense so profitiert hatte, aber auch seine Fähigkeit, in den zumeist realistischen Stil des Films Bildmetaphern und stilisierte Elemente einzuflechten, die dann Spielraum für faszinierende Interpretationsansätze eröffnen. Wenn etwa Clarice erstmals Lecter besucht und am Eingang zu dem Korridor, in dem Dr. Lecter und die anderen Gefangenen sie erwarten, steht, wird das Bild von einem intensiven Rot erfüllt - gerade so, als ob Clarice jetzt in den Tartaros einträte; und auch das Haus "Buffalo Bills" gemahnt an ein Unterweltreich. Dies lädt zu geradezu mythologischen Deutungen ein; insofern könnte der Film auch "Clarice in der Unterwelt" heißen. Zwingend ist diese Lesart selbstverständlich nicht, aber reizvoll.
Ebenso reizvoll ist auch die Verwendung des Schmetterlings- bzw. Insektenmotivs, das (nicht zuletzt nach Dr. Lecters Worten) für Verwandlung steht: neben den wirklichen Nachtfaltern, die zu sehen sind, gibt es auch Anklänge an dieses Motiv. So verleiht das Nachtsichtgerät, das Jame Gump benutzt, ihm ein fast insektenartiges Aussehen, allerdings erscheint er nicht wie ein Schmetterling, sondern eher wie ein Insekt, das eine nicht geglückte Transformation durchlaufen hat (so wie auch die vom ihm angestrebte Metamorphose nicht gelingt).
Stilisiert ist auch die grausige (und auch beim x-ten Sehen immer noch äußerst beklemmende) Szene, die Lecters Ausbruch aus seinem Käfig zeigt: sie wirkt geradezu choreographiert und ist vielleicht gerade deshalb so schockierend. Auch dies gehört wohl zu den vielen Geheimnissen dieses Films: daß seine brutalsten Momente zugleich die am stärksten stilisierten sind und daß er mit Schockeffekten nicht eben geizt, diese aber trotzdem nicht zum Selbstzweck werden.

Durch solche Qualitäten ist Das Schweigen der Lämmer ein Film, der auch beim wiederholten Sehen faszinierend bleibt, weil er immer wieder neue Sichtweisen zuläßt - und weil sich immer wieder Details entdecken lassen, die einem zuvor noch nicht aufgefallen sind. Interessant ist dabei, daß man sich den Film heute mit keinem anderen Regisseur und auch keinen anderen Hauptdarstellern vorstellen kann; doch es stand keineswegs von Beginn an fest, daß das Team, das ihn schließlich gedreht hat, in dieser Form zusammenfinden würde. Vielmehr war vor Jodie Foster schon Michelle Pfeiffer die Rolle der Clarice Starling angeboten worden, und Gene Hackmann erwog wohl, sowohl die Lecter-Rolle zu spielen als auch die Regie zu übernehmen. Daß der Film also in seiner jetzigen Form entstand, ist wohl auch ein glücklicher Zufall, vielleicht der glücklichste Zufall seit Casablanca.

Erstaunlicherweise erkannte sogar die Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die solche Filme wie Das Schweigen der Lämmer normalerweise mit spitzen Fingern anfäßt, die Qualitäten des Meisterwerks und zeichnete es in einer ihrer Sternstunden mit den fünf "Hauptoscars" aus. Die Berlinale-Jury (unter dem Vorsitz von Volker Schlöndorff) hatte kurz zuvor leider die Gelegenheit verpaßt, dem Film den Goldenen Bären zuzusprechen, denn in der Jury wollte man "Kunst statt Horror" sehen - und übersah dabei, daß das eine das andere nicht ausschließen muß. Der (zudem geteilte) silberne Bär für Jonathan Demmes Regie war da eher ein Alibi-Preis. Schade.
So großartig ich den Film insgesamt und auch Anthony Hopkins Darstellung des Dr. Lecter finde, muß ich hier allerdings noch anmerken, daß mir der Hannibal-Lecter-Kult, den der Film ausgelöst hat (und der wohl der Hauptgrund dafür ist, daß diverse weitere Lecter-Filme und neuerdings auch eine Fernsehserie gedreht wurden) ein wenig suspekt ist. Es ist inzwischen zur Mode geworden, Das Schweigen der Lämmer allein zur Hannibal-Lecter-Show zu reduzieren, was dem Film in keiner Weise gerecht wird.
Dies ändert aber nichts an meiner Bewunderung des Films selbst, den ich vielmehr für den besten Film der 90er Jahre halte - und darüber hinaus für einen der zehn besten Filme überhaupt. Daß er natürlich nach wie vor auch dem engsten Kreis meiner Lieblingsfilme angehört, muß ich wohl nicht eigens betonen.


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Ekel


Hinweis: Der Text verrät ziemlich vom Inhalt des Films und ist eher für Leser gedacht, die ihn schon gesehen haben.

Die Filmproduzenten Michael Klinger und Tony Tenser wollten nur einen billigen Horrorfilm haben, doch sie bekamen ein Meisterwerk: und so nehme ich denn die Wiederbegegnung mit Roman Polanskis Ekel zum Anlaß, mal wieder etwas in mein Filmtagebuch zu schreiben.
Ekel schildert den allmählichen geistigen Verfall der (schon zu Beginn des Films recht verklemmt und verstört wirkenden) Maniküre Carol, die Abscheu vor Sexualität (und Männern) empfindet, schließlich dem Wahnsinn verfällt und die Annäherungsversuche zweier Männer abwehrt, indem sie beide umbringt.
Besonders zu seiner Entstehungszeit wurde Ekel oft mit Hitchcock und vor allem dessen Psycho verglichen, und bei einer oberflächlichen Betrachtungsweise ergeben sich durchaus Ähnlichkeiten: Wahnsinn und Mord stehen im Mittelpunkt beider Werke, und auch bei einigen visuellen Motiven ist eine Verwandtschaft auszumachen; besonders das leinwandfüllende Auge, mit dem Ekel beginnt, ist ein Beispiel dafür.
Trotzdem überwiegen für mich die Unterschiede: denn der Wahnsinn wird bei Hitchcock aus der Außenperspektive gezeigt, während Polanski zwischen der Außen- und Innenperspektive wechselt und letztere vor allem in der zweiten Filmhälfte viel Raum einnimmt. Dabei aber greift er auch auf surrealistische Elemente zurück, die Hitchcock ebenfalls weitgehend fremd sind, und wenn man nach Hitchcock-Parallelen sucht, wird man fraglos in Frantic weitaus fündiger werden.
Dabei ist das allmähliche Hinübergleiten Carols in den Wahnsinn, das der Film mit fast klinischer Präzision verfolgt, mit äußerster visueller und akustischer Raffinesse gestaltet. So werden Alltagsgeräusche wie das Ticken eines Weckers oder das Läuten des Telefons zur Bedrohung, und ähnliches gilt für viele Bilder: ein realer Riß im Straßenpflaster wird zum Vorboten der halluzinierten Risse, die sich später in den Wänden von Carols Wohnung auftun; einmal ist Carols verzerrtes Bild zu sehen, das sich in einer Teekanne spiegelt; und bereits eines der ersten Bilder des Films, das eine Kundin im Schönheitssalon zeigt, der gerade eine Gesichtsmaske aufgelegt ist, kündet von Erstarrung und Tod. Dazu paßt auch, daß ein so alltäglicher Schauplatz wie eine Wohnung (deren zunehmende Verwahrlosung zum Spiegel von Carols geistigem Zustand wird) immer mehr zu einem Ort des Schreckens wird (wobei immer wieder Aufnahmen mit einem Weitwinkelobjektiv die alptraumhafte Wirkung verstärken).
Eine wirkliche Erklärung für Carols Wahnsinn und die monströsen Geschehnisse, die der Film zeigt, gibt es in Ekel nicht, allerdings wird das Schlußbild, wenn die Kamera auf ein Foto aus Carols Kinderzeit und schließlich auf Carols Pupille fährt (wodurch der Film zu einem geschlossenen Kreis wird), häufig so interpretiert, daß hier ein sexueller Mißbrauch Carols in der Kindheit, möglicherweise durch ihren Vater, angedeutet wird; das ist fraglos eine durchaus schlüssige Lesart (schlüssig, wenn man Vergleiche mit anderen Polanski-Filmen anstellt, schlüssig aber auch deshalb, weil das Verhältnis der Geschlechter ein wichtiges Thema des Films ist), aber wohl nicht die einzig mögliche.
Ein besonderes Ereignis dieses Films ist Catherine Deneuve. Ihr von leichter Unruhe bis zu nackter Panik reichender, bisweilen aber auch völlig erstarrender Blick bleibt im Gedächtnis haften, wie auch die nervösen Gesten, mit denen Carol sich ständig nicht vorhandenen Schmutz aus dem Gesicht zu streichen versucht (während sie ein real verwesendes Kaninchen nicht weiter stört...); großartig auch, wie sie bügelt, ohne daß das Bügeleisen mit irgendeiner Stromquelle verbunden wäre.
Ekel ist ein großartiger, in allen Belangen überzeugender und ungemein dichter Film: Inszenierung, Fotografie und Hauptdarstellerin sind herausragend und machen dieses Werk zu einem der großen Filme der 60er Jahre.


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Psycho


Ein kleiner Hinweis vorweg: sollte jemand, der Psycho wirklich noch nicht kennt, hier reinschauen, möchte ich demjenigen von Weiterlesen freundlich abraten...


Mit Psycho betrat der seinerzeit 60jährige Alfred Hitchcock in mancherlei Hinsicht Neuland, ging auch einiges an Risiken dafür ein - und gewann, denn mit dem Film gelang ihm sein größter Kassenerfolg. Der Film, der das Publikum dadurch schockierte, daß die vermeintliche Hauptfigur nach einer knappen Dreiviertelstunde mit einer Brutalität, die deutlich über das hinausgeht, was seinerzeit auf der Leinwand üblich war, ermordet wird, wurde zwar von den meisten amerikanischen und britischen Kritikern verrissen (unter anderem war von einem "Schmutzfleck auf einer ehrenhaften Karriere" die Rede - wobei derselbe Kritiker einige Jahre später Polanskis Ekel als "psychologischen Thriller im klassischen Stile von Hitchcocks Psycho" bezeichnete!), zog aber die Zuschauer scharenweise ins Kino. Im Rückblick erscheint einem dieser Erfolg als geradezu natürlich, fast schon zwingend, aber welches Risiko Hitchcock tatsächlich einging, verdeutlicht das Schicksal des fast zur gleichen Zeit entstandenen meisterlichen, auch thematisch mit Psycho verwandten Films Peeping Tom von Michael Powell, der seiner Zeit offenbar zu weit voraus war und zu einem Skandal geriet, der sich verheerend auf die Karrieren Powells und seines Hauptdarstellers Karl-Heinz Böhm auswirkte. Hitchcock hatte dagegen Glück: die Zuschauer waren entsetzt, schockiert - aber auch begeistert.

Eine solche Schockwirkung erzielt Hitchcocks Film heute in aller Regel nicht mehr. Zum einen liegt das natürlich an den veränderten Sehgewohnheiten des Publikums, das in dem halben Jahrhundert Filmgeschichte, das seit Psycho vergangen ist, allerhand an schockierenden Szenen und Leinwandmorden, wie sie früher undenkbar gewesen wären, zu sehen bekommen hat; zum anderen kommt der berühmte Mord unter der Dusche für die meisten heutigen Zuschauer auch nicht so überraschend wie für das damalige Publikum (und Hitchcock scheute seinerzeit keinen Aufwand, um für eine möglichst große Überraschung zu sorgen), allein schon deshalb, weil Psycho so berühmt ist. Ich bin da übrigens keine Ausnahme: als ich Psycho mit 13 oder 14 Jahren das erste Mal gesehen habe, wußte ich (leider) auch schon vorher, daß die arme Marion Crane des Bates Motel nicht mehr lebend verlassen wird. Wie der Film und insbesondere seine berühmteste Szene also auf einen Zuschauer wirken, der vorher wirklich gar keine Ahnung hat, was im Film passiert, werde ich also nie persönlich herausfinden.
Nun gibt es ja, besonders im Thriller- und Horrorgenre, Filme, die vor allem auf eine große Überraschung, einen entscheidenden Plottwist hinsteuern, und die dann tatsächlich erst mal enorm verblüffen, vielleicht sogar verstören - aber kaum noch von Interesse sind, wenn man sie mit dem Wissen um die entscheidende Wendung sieht. Psycho gehört aber (für mich zumindest) eindeutig nicht zu diesen Filmen, denn trotz der eher ungünstigen Voraussetzungen, unter denen ich ihn das erste Mal sah, ist er einer meiner liebsten Filme geworden - und einer von denen, die ich am häufigsten gesehen habe. Da lohnt es sich dann doch, ein wenig der Frage nachzugehen, was letztlich die Faszination des Werks ausmacht.
Die Story selbst ist es kaum: eine junge Angestellte wird in einem schwachen Moment zur Gelegenheitsdiebin, landet dann in einem Motel und wird dort brutal ermordet - scheinbar von der herrischen Mutter des Motelbesitzers, tatsächlich aber von diesem selbst, der sich als Wahnsinniger herausstellt und auch seine Mutter ermordet hat, nach ihrem Tod aber noch mehr als zuvor von ihrer Persönlichkeit beherrscht wird. Darin steckt natürlich eine Menge Horrorpotential (das Hitchcock und sein Team dann ja auch wunderbar genutzt haben), aber es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich auszumalen, was für ein Schund aus diesem Stoff hätte werden können, wenn ein untalentierter Regisseur ihn verfilmt hätte.
Wichtiger also als die eigentliche Handlung scheint mir daher die überaus dichte Atmosphäre zu sein - das gilt im Grunde genommen natürlich für sehr viele Filme (gerade auch solche, die dem Horrorgenre angehören oder es streifen), für Psycho aber im besonderen Maße: und diese Atmosphäre entsteht durch Kamerapositionen und -bewegungen, durch Schatten, Schnitte, die meisterhafte und genreprägende Musik, aber auch durch die Raffinesse, mit der sowohl visuelle als auch inhaltliche Motive den Film durchziehen. Sehr schön macht dies etwa der erste Teil des Films (der damit endet, daß das Auto mit Marions Leiche im Sumpf versinkt) deutlich: einerseits arbeiten des Drehbuch und Hitchcocks Regie eine Dreiviertelstunde darauf hin, den Zuschauer in die Irre zu führen, wie die Handlung sich entwickeln wird: wenn Marion aus der Stadt Phoenix hinausfährt, läuft ihr noch ihr Chef über den Weg, dann weckt sie die Aufmerksamkeit eines Polizisten, und selbst wenn Marion im Bates Motel mit ihrem späteren Mörder spricht, so endet diese Unterhaltung (für den Zuschauer) mit der Erwartung, daß sie, von Reue getrieben, nach Phoenix zurückkehren wird. All dies führt den Zuschauer auf falsche Fährten.
Die Bilder und Töne des Films sprechen freilich eine ganz andere Sprache und kündigen schon vom Vorspann an, was tatsächlich geschehen wird: so werden die Namen der Beteiligten zerschnitten (so wie Marion in der Dusche), und die bedrohliche Musik Bernard Herrmanns gibt gleichfalls vor, in welche Richtung die Handlung des Films sich bewegen wird: es wird eine Reise in den Wahnsinn und den Tod. Dieser Vorspann ist nebenbei bemerkt auch ein hinreißendes Meisterstück der Abstraktion und Reduktion (so wie der ganze Film auf Reduktion setzt, durch den Verzicht auf Farbe und das auf die Streicher reduzierte Orchester) und gehört sicherlich zu den größten Würfen des Vorspann-Genies Saul Bass. Im eigentlichen Film setzt sich das nahtlos fort: es wimmelt nur so vor horizontalen und vertikalen Linien, die das Bild zerteilen (bzw. "zerschneiden"), und auch an düsteren Bildern, die auf den Tod verweisen, mangelt es nicht: Marion wird während ihrer Autofahrt, als es Nacht wird, zunehmend von Schwarz umgeben und fast davon verschluckt, aber auch der Polizist mit seiner Sonnenbrille ist ein Bote des Todes (um so mehr, wenn man an seinen Ratschlag denkt: "Es gibt doch Motels - schon zu Ihrer eigenen Sicherheit"!). Das verzerrte Bild durch die eingeregnete Windschutzscheibe verweist bereits auf Bates' vom Wahnsinn verzerrte Wahrnehmung, und besonders hartnäckig taucht das Motiv erstarrter Augen auf: Bates spricht mehrmals davon während des wohl ungemütlichsten Essens der Filmgeschichte, nach dem Mord füllt Marions totes Auge die Leinwand, am Ende fällt das Licht einer schwankenden Lampe in die leeren Augenhöhlen der echten Mrs. Bates, und in der vorletzten Einstellung starrt Norman mit jenem für Wahnsinnige typischen Blick, der sich quer durch Hitchcocks Werk (ganz besonders auch seine Fernsehspiele) hindurchzieht, in die Kamera.
Ein anderes typisches Hitchcock-Motiv, das in Psycho seine wohl eindringlichste und in gewisser Beziehung endgültige Ausprägung erfährt, ist das der tyrannischen Mutter. Es taucht in zahlreichen Hitchcock-Filmen auf und begegnet uns in Psycho in der Weise, daß Norman (wie schon erwähnt) von seiner toten Mutter noch weitaus mehr beherrscht wird als früher von seiner lebenden. Freilich wird auch Marions Geliebter Sam noch von seinem toten Vater verflogt (wenn auch nur in der Form von hinterlassenen Schulden), und Marion erwähnt das Bild ihrer Mutter, das in ihrer Wohnung hängt: in Psycho werden die Kinder von ihren (schrecklichen) Eltern beherrscht und die Lebenden von den Toten.
Ebenfalls besonders typisch für Hitchcock ist das Thema des Identitätsverlusts, der in Norman Bates' Fall in einer seiner schlimmsten Formen eingetreten ist: durch eine gespaltete, oder wie man auch sagen könnte, verdoppelte Persönlichkeit (und natürlich sind die in Hülle und Fülle auftauchenden Spiegel ein besonders geeignetes bildliches Symbol für diese Doppelung).
Sehr interessant ist auch, mit Blick auf Hitchcocks nächsten Film, das vor allem im Bates-Motel reichlich vorhandene Vogelmotiv: obwohl der Meister zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wußte, daß er als nächstes Die Vögel drehen würde, kündigt sich dieser kommende Film in Psycho bereits deutlich an.

Bewunderswert ist an Psycho vor allem, mit welch unangestrengter Natürlichkeit der Film all diese Motive ins Bild (bzw. in das Handlungsgefüge) integriert. Zugleich ist Hitchcock, der seine Laufbahn als Stummfilmer begann, in Psycho dem visuellen Erzählen der Stummfilmzeit vielleicht näher gekommen als in jedem anderem seiner Tonfilme, und so sind es zum großen Teil auch gerade die Szenen, die mit wenig oder keinem Dialog auskommen, die besonders eindringlich sind und im Gedächtnis bleiben: die geradezu lyrischen Szenen, in denen Lila Crane das Haus der Bates' untersucht, wären hier ebenso zu erwähnen wie die virtuose Reinigungsszene nach dem Mord.
In diesem Zusammenhang zu nennen ist natürlich auch die berühmteste Szene des Films (und vielleicht der Filmgeschichte), der berühmte Mord unter der Dusche, ein besonderes Meisterstück des Montagekinos. Fraglos hat der einzigartige Ruhm dieser Szene dazu beigetragen, daß die daran Beteiligten versucht haben, ihren eigenen Anteil so groß wie möglich erscheinen zu lassen und so haben Hitchcock und seine Mitarbeiter denn auch Versionen über die Entstehung der Szene zum besten gegeben, die so verschieden sind wie die Geschichten in Kurosawas Rashomon. Als erwiesen darf gelten, daß Saul Bass ein präzises Storyboard für diese Szene angefertigt hat (ich habe es in einem Buch über Ed Gein sogar selbst gesehen), auch wenn Hitchcock sowohl im Gespräch mit Truffaut als auch mit Bogdanovich behauptet hat, Bass habe nur Zeichnungen für die zweite Mordszene angefertigt, die obendrein unbrauchbar gewesen wären. Bass wiederum behauptete später (vielleicht eine Retourkutsche darauf, daß Hitchcock es mit der Wahrheit nicht so genau genommen hatte?), er hätte die Szene allein konzipiert und sogar Regie geführt - der zweite Teil dieser Behauptung (die selbst Donald Spoto in seiner Hitchcock-Biographie bemerkenswert unkritisch übernommen hat) kann wohl auch als klar widerlegt angesehen werden, da Janet Leigh und der Kameramann John L. Russell dieser Darstellung vehement widersprochen haben. Ich vermute, Bass' Beitrag bestand in der Tat in der Anfertigung des Storyboards, wobei es sicherlich Vorgaben Hitchcocks gegeben haben dürfte (alles andere hätte nicht Hitchcocks Arbeitsweise entsprochen) - aber wie präzise diese Vorgaben nun waren, werde ich vermutlich nie herausfinden (und für die filmische Brillanz der Szene spielt es eh keine Rolle). Interessant ist aber noch, daß nach Hitchcocks Version Janet Leigh zum großen Teil von einem nackten Model gedoubelt wurde, während Janet Leigh meinte, das Model wäre nur für Probeaufnahmen verwendet worden, bei der eigentlichen Szene aber habe ausschließlich sie vor der Kamera gestanden - und auch nicht nackt, sondern in einem hautfarbenen Anzug!
Die Art, wie diese Szene rezipiert wurde, zeigt dann auch besonders deutlich die Verschiebung der Sehgewohnheiten, die sich seither vollzogen hat: während sie 1960 als unerhört brutal empfunden wurde, erscheint sie aus heutiger Sicht eher als ein Musterbeispiel stilisierter und indirekter Darstellung.

Psycho ist, um zum Abschluß zu kommen, ein Film, der nicht nur Filmgeschichte geschrieben, sondern diese auch maßgeblich beeinflußt hat. Zum einen hat er etliche spätere Regisseure beeinflußt und den modernen Psychothriller wie auch den Horrorfilm maßgeblich geprägt (sowohl, was Motive als auch Stilmittel betrifft); der Film war aber auch ein Dammbruch, was die Gewaltdarstellung im Film betrifft. In dieser Beziehung gingen andere Filme schon wenige Jahre später deutlich weiter, auch Hitchcock selbst erlaubte sich in seinem Spätwerk Frenzy eine drastische Erdrosselungsszene, mit der er in den 50er Jahren nie durchgekommen wäre. Doch auch nach einem halben Jahrhundert ist es ein immer noch sehr atmosphärischer, dichter und interessanter Film, wobei Hitchcocks meisterhafte Regie natürlich besonders herauszustreichen sind, aber man sollte darüber nicht vergessen, was der Film der Musik, der Kameraarbeit und auch Anthony Perkins und Janet Leigh zu verdanken hat.

Erstaunlicherweise wurde der Film sogar für vier Oscars nominiert (darunter Hitchcocks fünfte und letzte Nominierung für die beste Regie); erstaunlich deshalb, weil die Academy Filme mit solchen Sujets eigentlich immer mit spitzen Fingern anfaßte. Bei der Verleihung selbst ging er natürlich leer aus; es mußten erst nochmals 31 Jahre vergehen, bis sich die Academy zur Erkenntnis durchringen konnte, daß ein Thriller bzw. Horrorfilm sehr wohl der beste Film des Jahres sein kann. Der Triumph von Das Schweigen der Lämmer ist insofern sicherlich auch ein wenig als nachträgliche Anerkennung der Lebensleistung Hitchcocks zu verstehen - für Hitchcock selbst kam diese Anerkennung allerdings zu spät.


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Die Vögel


Außer bei kino.de war ich mehrere Jahre lang auch auf der Seite filmde.de aktiv; diese Seite scheint nun vor einigen Tagen auch endgültig das Zeitliche gesegnet zu haben. Mir ist allerdings noch eingefallen, daß ich dort einmal einen, wie ich glaube, nicht ganz schlechten Text zu Hitchcocks Die Vögel reingestellt habe (den ich später auch noch im bekanntermaßen ebenfalls nicht mehr existierenden kino.de-Forum veröffentlichte), und es ist mir nun gelungen, diese Rezension zu rekonstruieren. Genug der Vorrede, hier ist mein alter Text:



Die Vögel basiert auf einer Erzählung Daphne Du Mauriers, wobei Hitchcock lediglich das Grundthema übernommen hat, die eigentliche Filmhandlung und die Figuren sind dagegen das Werk Hitchcocks und seines Drehbuchautoren Evan Hunter. Hitchcock stürzte sich in das Unternehmen, das zur damaligen Zeit eine ungeheure tricktechnische Herausforderung darstellte, so daß Die Vögel nicht nur sein teuerster Film wurde, sondern auch der mit der längsten Produktionszeit. Um den Film zu realisieren, wurden nahezu alle damals zur Verfügung stehenden Verfahren eingesetzt: dressierte Vögel kamen zu Hunderten zum Einsatz (wobei der Tierschutzverein sorgfältig darauf achtete, daß den gefiederten Darstellern nicht zuviel zugemutet wurde), teilweise wurden auch - aus Sicherheitsgründen - mechanische Vögel konstruiert und benutzt, und dazu kamen Animationstechniken und Spielarten der Trickfotografie.

Die Bedeutung des Films beschränkt sich aber keineswegs auf die technische Innovation - jene allein sicherte ihm wohl noch nicht seinen Platz im Pantheon der größten Meisterwerke. Die Vögel fügt sich vielmehr nahtlos in Hitchcocks Gesamtwerk ein und führt Entwicklungen aus den vorangegangenen Filmen fort, führt sie in mancherlei Hinsicht zum endgültigen Abschluß. Vogelmotive hatten schon früher bei Hitchcock eine wichtige Rolle gespielt, vielleicht am ausgeprägtesten in Psycho und in seinem Fernsehspiel Arthur (Ein Fressen für die Hühner). In Die Vögel erfährt diese Motiv nun seine eindringlichste Gestaltung, so wie der Film ohnehin in vieler Hinsicht zu den konsequentesten des Regisseurs zählt: es ist wohl Hitchcocks düsterster, pessimistischster Film, dabei einer der vieldeutigsten.

Dabei lassen die ersten Szenen nur wenig von dem heraufziehenden Unheil erahnen: Die Vögel beginnt sogar in einem eher leichten Komödienton und wird dann zunächst zum Melodram, um dann vollends in einen Horrorfilm, der sich zur Vision des beginnenden Weltuntergangs steigert, umzuschlagen. Anders als in vielen späteren Katastrophenfilmen stehen die melodramatischen Elemente und die Sequenzen, in denen die Vögel angreifen, jedoch nicht zusammenhanglos nebeneinander, sondern die einzelnen Details greifen auf raffinierte Weise ineinander. Der Anwalt Mitch Brenner fängt in der ersten Szene, die in einer Tierhandlung spielt, einen Vogel wieder ein und sagt dabei zur anderen Hauptfigur, der oberflächlich dahinlebenden Tochter eines reichen Zeitungsbesitzers Melanie Daniels: "Zurück in den goldenen Käfig, Melanie Daniels." Damit ist auch tatsächlich schon ihre Situation metaphorisch beschrieben; im Verlauf des Films wird aus diesem goldenen Käfig dann ein echter, wenn die Vögel frei sind, Melanie hingegen im Inneren von Mitchs Haus oder zuvor in einer Telefonzelle Zuflucht suchen muß (klaustrophobische Szenen, um auch dies zu erwähnen, sind eine der Stärken Hitchcocks, und in Die Vögel lassen sich gleich mehrere derartige Beispiele anführen).

Melodram und Horrorfilm gehen direkt ineinander über, der Film handelt von gestörten menschlichen Beziehungen, und diese Störungen finden schließlich in den Vogelattacken einen Ausdruck. Mitchs Mutter ist eine der typischen Hitchcockmütter, beherrschend und Melanie gegenüber feindselig, und sie ist zugleich keine dieser typischen Mütter, denn eigentlich ist sie von einer tiefen Angst erfüllt, verlassen zu werden. Diese Angst ist aber eigentlich allen Figuren in Die Vögel gemeinsam, und so kommt es auch immer wieder zu Situationen, in denen jemand allein einem Angriff der Vögel ausgesetzt wird. Zugleich ist der Film auch eine interessante Charakterstudie, der Menschen in einer Extremsituation zeigt (und den Szenen, in denen die Brenners mit Melanie zusammen im Haus eingeschlossen sind, haben sicher viele andere Filme bis hin zu Die Nacht der lebenden Toten manches zu verdanken), wobei Mitchs anfangs so dominant erscheinende Mutter immer mehr die Fassung verliert, während Melanie Verantwortungsgefühl für Mitchs jüngere Schwester entwickelt und teilweise die Rolle der Mutter ausfüllt.

Doch der Riß, der durch die aus den Fugen geratene Welt, die Hitchcock in Die Vögel entwirft, geht, ist letztlich auch für Melanie zu tief, denn in der schrecklichsten Szene des Films wird sie scheinbar eine Ewigkeit von den Vögeln angegriffen; filmisch erinnert diese Szene sehr stark an den Mord unter der Dusche in Psycho, eine ähnliche Abfolge von Schnitten, ähnlich auch die Aufnahmen vom Gesicht des Opfers, von Händen und Füßen. Die Szene in Psycho ist sicherlich stärker stilisiert und von größerer formaler Strenge, dennoch ist dieser lange Vogelangriff kaum weniger intensiv, obwohl Melanie überlebt. Sie tut es freilich nur in physischer Hinsicht, denn danach hat sie jenen starren Blick, den man aus anderen Hitchcockfilmen kennt, und der für Wahnsinnige und Tote typisch ist.

Entscheidend zur Faszination des Meisterwerks trägt fraglos auch der Umstand bei, daß der Film eine rationale Erklärung für die Vogelangriffe verweigert. Daraus ergeben sich verschiedene Deutungsmöglichkeiten: daß sich die Vogelangriffe möglicherweise als Ausdruck tief gestörter menschlicher Beziehungen verstehen lassen, habe ich oben ja schon angedeutet. Man könnte den Film aber auch als eine Parabel über die vom Menschen vergewaltigte Natur sehen, die sich am Menschen rächt. Doch fraglos dürften sich auch Kriegsängste in diesem Film niedergeschlagen haben, dessen Drehzeit nur wenige Monate vor die Kubakrise fiel. So gibt es auch immer wieder Bilder, die an Kriegsbilder erinnern, so etwa, wenn Hitchcock aus der Luft Möwen zeigt, die sich einer zerstörten Tankstelle nähern. Auch das Ausharren der Brenners in ihrem Haus während eines der heftigsten Angriffe ist inszeniert, als würde eine Bombennacht im Zweiten Weltkrieg gezeigt - und im Gespräch mit Bogdanovich vergleicht auch Hitchcock die Situation der Filmfiguren mit der Londoner Bevölkerung.

Doch er ist natürlich auch eine "Art Vision des Jüngsten Gerichts", wie Hitchcock während desselben Gesprächs auf Bogdanovichs entsprechende Frage hin bestätigt. Auch in der visuellen Gestaltung findet sich der Verlust aller bestehenden Ordnung, das Abrutschen ins Chaos wieder: immer wieder gibt es Einstellungen, in denen die Kamera leicht schräg steht, nicht besonders auffällig, aber doch zu bemerken.

Unbedingt ansprechen sollte man dabei die geradezu lyrischen Qualitäten des Films: in seinem Wechsel aus Vogelangriffen, in denen der reine Schrecken Gestalt annimmt (wobei die komponierten Geräusche, insbesondere die Vogelschreie, die mit einem Trautonium erzeugt wurden, viel zur Wirkung des Films beitragen und beinahe noch schlimmer als die Bilder sind) und Phasen völliger, aber stets bedrohlicher werdender Ruhe, folgt er nicht so sehr einer klassischen Dramaturgie, sondern ist eher strophisch aufgebaut, wie ein Gedicht - und als solches läßt er sich vielleicht auch am besten verstehen. Aber auch Anklänge an die Malerei sind vorhanden - so nahm sich der Production Designer Robert Boyle Edvard Munchs Gemälde Der Schrei zum Vorbild, und in einer Szene kommt Hitchcocks Film Munch tatsächlich auch extrem nahe: wenn Mitchs von Jessica Tendy gespielte Mutter einen toten Farmer entdeckt hat und den Mund zu einem Schrei öffnet, den man als Zuschauer nicht hört.

Hitchcocks Wunschvorstellung wäre es übrigens gewesen, den Film mit einer Einstellung der über und über von Vögeln bedeckten Golden Gate Bridge enden zu lassen, doch das ließ sich wohl technisch nicht verwirklichen. Doch auch so ist ihm mit Die Vögel ein herausragender Film gelungen, dessen offenes Ende übrigens auch dadurch betont wird, daß das seinerzeit übliche "The End" am Schluß fehlt.

(Zuerst veröffentlicht auf filmde.de am 30.12.2007, später auch auf kino.de)

kino.de


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Mein Berlinale-Bericht 2013


Ich will an dieser Stelle wieder meine diesjährigen Eindrücke von der Berlinale festhalten. Leider war es ein eher mittelmäßiger Festivaljahrgang, oder ich hatte diesmal nicht so viel Glück mit meiner Auswahl, bei der mir lange Zeit die wirklichen Höhepunkte und Lieblingsfilme fehlten, wobei ein wirklich starker Abschluß den Gesamteindruck etwas verbesserte. Meine eigentlichen Festivalhöhepunkte waren aber letztlich nicht so sehr die Filme, sondern die verschiedenen Begegnungen mit ehemaligen kino.de-Mitgliedern, an denen ich viel Freude hatte.
Nun aber zu den einzelnen Filmen:

Mein Auftaktfilm war:

How green was my valley (Schlagende Wetter/So grün war mein Tal) [Retrospektive]
Ein in der Welt walisischer Kohlenarbeiter angesiedeltes Sozialdrama, in dessen Mittelpunkt die Familie Morgan steht, das aber zugleich auch als Milieustudie angelegt ist. Zum größten Teil überzeugt der Film: so werden die Spannungen, zu denen es in der Familie nach dem Ausbruch eines Streiks kommt, eindringlich dargestellt, und die Szenen unter Tage sind visuell eindrucksvoll. Lediglich in einigen sentimental eingefärbten Szenen schwächelt der Film etwas. Die Fotografie ist, wie eigentlich immer bei Ford, ausgezeichnet. Ein guter Film, der allerdings nicht zu Fords besten Werken gehört (und sicherlich nicht mit The Maltese Falcon oder Citizen Kane konkurrieren kann, denen er bei der Oscar-Verleihung vorgezogen wurde - was man aber nicht dem Film, sondern nur der Academy vorwerfen sollte).

Weiter ging es mit:

Vic+Flo ont vu un ours (Vic+Flo Saw a Bear/Vic+Flo haben eine Bären gesehen) [Wettbewerb]
Eine aus dem Gefängnis entlassene Frau sucht in einem Haus in den kanadischen Wäldern Ruhe, aber auch die Zweisamkeit mit ihrer Geliebten. Diese wird allerdings vom Bewährungshelfer gestört, und dann taucht noch eine nette Nachbarin auf, die sich jedoch als grausamer Racheengel entpuppt...
Letztlich hat mich der Film ein wenig ratlos zurückgelassen. Es gibt sehr gelungene Details wie die von trockenem Humor geprägte Eröffnungsszene, auch das Ende ist zumindest recht kraftvoll und es gibt einige Überraschungen. Dazwischen stellt sich aber auch immer wieder Leerlauf ein. Alles in allem konnte der Film meine Erwartungen nicht wirklich erfüllen, zumal ich schon so einige frankokanadische Filme gesehen habe, die bei mir doch einen stärkeren Eindruck hinterlassen haben.

Es folgte:

The Cold Lands [Generation 14+]
Ein Junge lebt mit seiner Mutter zusammen, die möglichst unabhängig sein will. Als sie wenig später stirbt, flüchtet er in die nahen Wälder, um nicht in fremde Obhut zu kommen und trifft dort auf einen tatsächlich weitgehend unabhängig lebenden Strauchdieb, mit dem er sich zusammentut. Einer der besseren Filme, die ich in diesem Jahr bei der Berlinale sah, wobei ich allerdings die größte Mühe hatte, die leider nicht untertitelten Dialoge zu verstehen.
(Witzig fand ich die Erklärung der Mutter, wer Elvis war: "He was the Justin Bieber of his time.")

Dann sah ich den mit Spannung erwarteten:

Pardé (Closed Curtain) [Wettbewerb]
In dem heimlich gedrehten Film reflektiert Jafar Panahi über den Zustand seines Landes, seine eigene Situation und die Frage, wie unter solchen Bedingungen Kunst entstehen und was sie bewirken kann. Panahi wählt dafür eine komplexe Form, in der sich eine Spielfilmhandlung (ein Mann versteckt sich mit seinem Hund, der als unrein gilt, in einem Haus, wo eine Frau, die sich auf offenbar auf der Flucht befindet, auftaucht) und eine weitere Ebene (Panahi tritt nun selbst in Erscheinung) durchdringen. Ein guter und vielschichtiger Film mit vielerlei Symbolen (besonders die das Haus absperrenden Gitter in der ersten und letzten Einstellung seien hier erwähnt), der aber auch seine Längen hat und es dem Zuschauer nicht gerade leicht macht.

Es folgte ein weiterer Abstecher in die Sektion Generation:

Shopping [Generation 14+]
Ein neuseeländisches Sozialdrama um einen Jugendlichen mit einem weißen Vater und einer samoanischen Mutter, der an eine Gang gerät und dadurch in die größten Schwierigkeiten bekommt. Die Beziehung des Jungen zu seinem kleinen Bruder ist überzeugend und geradezu anrührend dargestellt, doch ich verlor zwischenzeitlich ein wenig den Überblick über die Handlung und die (Neben)figuren; letztlich war ich nicht so besonders begeistert von dem Film, zumal ich von dieser Sektion stärkere Filme gewohnt bin.

Extrem verschieden waren die Eindrücke, die ich aus dem folgenden Kurzfilmprogramm mitnahm:

Berlinale Shorts IV
Dieses Programm stellte sich aus fünf Filmen zusammen: Between Regularity and Irregularity, Ba bi lun shao nian, Die Ruhe bleibt, dem aus dem Jahr 1978 stammenden Film Step by Step und Tabato. Letzterer scheint mit einem im Forum gezeigten Langfilm in Verbindung zu stehen (derselbe Regisseur, teilweise übereinstimmende Darsteller, Schwarzweiß und rot), weiß aber nicht, ob es sich beim Kurzfilm um eine Kurzfassung oder ein ergänzendes "Nebenkapitel" handelt. Mit dem Kurzfilm konnte ich jedenfalls nicht sehr viel anfangen, vielleicht wäre das bei Kenntnis des langen Films anders. Step by Step, in dem ein syrisches Dorf porträtiert wird,ist dagegen, wenn man auf das gegenwärtig stattfindende Gemetzel in Syrien schaut, trotz seines Alters sehr aktuell. Ba bi lun shao nian war ganz gut anzuschauen. Der absolute Tiefpunkt meiner diesjährigen Berlinale war dagegen Between Regularity and Irregularity: eine grauenhafte Zusammenstellung von abstrakten, oftmals flackernden Bildern (auf der Onlineseite der Berlinale wurde, wie ich erst hinterher gesehen habe, eine Epilepsiewarnung wegen stroboskopischer Effekte ausgesprochen!) und noch schlimmeren Geräuschen, darunter ekelhafte Pfeiftöne. Bereits nach der ersten Minute dieses insgesamt achtminütigen filmischen Anschlags auf die Gesundheit war ich bereit, alles zu gestehen, um nicht länger zusehen und -hören zu müssen, und blieb nur, weil noch vier Filme ausstanden. Ich glaube nicht, daß die internationale Genfer Konvention die Aufführung solcher Filme zuläßt!
Um so erfreulicher war dagegen Die Ruhe bleibt, in dem der junge Tom, dem man ein Set-Praktikum bei Filmdreharbeiten versprochen hat, die tolle Aufgabe hat, mit einer Pilone auf der Straße herumzulaufen und diese abzusperren und wieder freizugeben. Der in einer einzigen Einstellung gedrehte Film besaß eine Menge Witz (etwas, was ich bei dieser Berlinale sonst schmerzlich vermißt habe) und war wohl mein diesjähriger Festivalliebling.

Eher unglücklich verlief dagegen meine Begegnung mit:

Sieniawka [Forum]
Der Film fing pünktlich, kurz nach 18.30 an. Die ersten Eindrücke waren so schlecht nicht: ziemlich lange Einstellungen, die vor allem eine wohl recht heruntergekommene Gegend zeigen. Offenbar ein kontemplatives Werk. Zwischendurch irrte mal ein Kosmonaut (?) durchs Bild, dann unterhielten sich zwei Männer, kurz darauf vergrub der eine die Leiche des anderen, ohne daß klar wurde, wie dieser ums Leben gekommen ist. Es ging auf 19.00 Uhr zu, ohne daß so richtig etwas passiert wäre, und der Film fing allmählich an, mir auf die Nerven zu gehen.
Um 19.00 Uhr dachte ich dann daran, daß zu dieser Zeit in der Retrospektive eine Aufführung von Lubitschs To Be Or Not To Be begann. Aber man besucht ja eigentlich keine Festivals, um Filme zu sehen, die man schon einige Male gesehen hat, oder?
Nun wurde ein Männerasyl Schauplatz des Films. Erst einmal wurde Suppe ausgeschenkt, dann begann ein alter Mann recht jämmerlich auf einem Klavier zu klimpern und dazu mit dünner Stimme ein langweiliges Lied zu singen. Diese Szene nahm und nahm kein Ende, und ich dachte nun voller Neid an die Leute, die sich zu dieser Zeit bei Lubitsch amüsierten.
Der Alte klimperte immer noch, während mir erstmals die Augen zufielen. Ich fragte mich nun, warum zum Teufel ich hier eigentlich noch weit über eine Stunde herumsitzen sollte.
Ich wartete noch ein paar Minuten ab, und obwohl die Klimperszene schließlich doch endete, hatte ich keine Lust mehr, weiter zuzusehen und ging nach Hause - höchst verbittert darüber, mir eine Karte für diesen Film besorgt zu haben und nicht für To Be or Not To Be.

Ein wirklich starker Abschluß entschädigte mich dann aber ein wenig für das vergleichsweise mäßige Festival:

Uroko Garmonii (Harmony Lessons) [Wettbewerb]
Der 13jährige Aslan ist ein Außenseiter und erfährt in der Schule Demütigungen und Gewalt, besonders von der Seite des brutalen Bolat, der von anderen Schülern Schutzgelder erpreßt, aber seinerseits Gewalt von älteren Jungen erfährt, die schon ganz tief in einem mafiösen System, von dem die ganze Schule (und sicher nicht allein diese) verseucht ist, drinstecken. Aslan, der immer wieder zwanghafte Rituale ausübt, sinnt auf einen Weg, sich gegen Bolat zu wehren, wird vom Opfer zum Täter und erfährt dadurch bald die repressiven Methoden des Staates.
Der finstere Film hat mich von Beginn an in seinen Bann geschlagen. Gewalt ist hier praktisch allgegenwärtig, und auch in den Momenten, in denen augenscheinlich nichts besonderes geschieht, stets latent spürbar. Die Erzählweise ist sehr elliptisch, viele Ereignisse werden nicht direkt gezeigt. Für Hoffung läßt der Film so gut wie keinen Raum: der Ausweg, auf den Aslan verfällt, ist selbstzerstörerisch, und an den eigentlichen Verhältnissen hat sich auch am Ende nichts geändert; der Film stellt nicht allein die alltägliche physische und verbale Gewalt dar, sondern macht vor allem die sich dahinter verbergende strukturelle Gewalt sichtbar. Für mich war Harmony Lessons der stärkste Langfilm, den ich bei der diesjährigen Berlinale gesehen habe.

Und das war's dann.


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In ihrem Haus


Der Lehrer Germain hat offenbar schon lange keinen Spaß an seinem Beruf mehr: frustriert liest er seiner Frau die miserablen Aufsätze vor, die seine Schüler, deren Aufgabe es war, zu beschreiben, wie sie das letzte Wochenende verbracht haben, ihm vorgesetzt haben. Doch inmitten des Ozeans der Banalität stößt er auf etwas interessantes: der unscheinbare Schüler Claude schildert, wie er seinem Mitschüler Rapha nur deshalb in Mathematik geholfen habe, weil er lange vorhatte, in dessen Haus hineinzukommen und zu sehen, wie Raphas Familie lebt. Das ganze in einem ziemlich ironischen Ton und frecherweise mit dem Schlußsatz: "Fortsetzung folgt". Germain (der selbst als Schriftsteller gescheitert ist) meint ein Talent gefunden zu haben und spricht Claude an: zum einen, um ihn für seine Indiskretionen ein wenig zu tadeln, vor allem aber, um ihn im Schreiben zu unterrichten - und um selbst noch mehr lesen zu können (und da stört es ihn auch herzlich wenig, daß die Fortsetzungen ebenfalls wieder von Raphas Familie handeln...)! So versorgt er nun Claude mit Literatur und Ratschlägen und kommt dafür in den Genuß von Claudes weiteren Texten - doch damit läßt sich Germain auf ein gefährliches Spiel ein, das er schon bald nicht mehr wirklich unter Kontrolle hat und dessen Regeln eher von Claude als von ihm bestimmt werden...
In ihrem Haus ist der dritte Film François Ozons, den ich bisher gesehen habe, und derjenige, der mir bislang am besten gefallen hat. Schon die Aufgabe, die Geschichte, deren Herzstück die Aufsätze Claudes (also letztlich kleine Stücke Literatur) darstellen, filmisch zu erzählen, hat Ozon sehr überzeugend gelöst. Den ersten Aufsatz liest Germain einfach noch vor, später sieht man dann auch die entsprechenden Szenen im Haus, wobei der Text immer mehr in den Hintergrund tritt und die bildliche Erzählung in den Vordergrund rückt - manchmal taucht dann Germain selbst auf und spricht mit Claude über die Szene, die sich gerade abspielt. Zugleich wird aber auch (für Germain und für den Kinozuschauer) immer ungewisser: beschreibt Claude da eigentlich ein Geschehen, das wirklich stattgefunden hat, setzt er die Vorschläge und Vorgaben seines Lehrers für eine Geschichte um oder lebt er eigene Obsessionen aus - oder vielleicht sogar alles auf einmal? Dadurch wird In ihrem Haus auch zu einem sehr vergnüglichen Diskurs darüber, was Wirklichkeit eigentlich ist, und ob sie sich überhaupt (mit literarischen oder filmischen Mitteln) abbilden läßt. Der Film verneint letztlich diese Frage, denn schon früh, wenn Claude zwei verschiedene Versionen desselben Geschehens abliefert, wird deutlich, daß es so etwas wie einen unbeteiligten Beobachter eigentlich nicht gibt: ein Autor stellt ein Geschehen nicht einfach nur dar, sondern schon durch seien Entscheidung, ein bestimmtes Wort an den Anfang zu setzen, ein Detail zu schildern, das andere dagegen wegzulassen, greift er ein und manipuliert den Rezipienten - und gleiches gilt für den Filmregisseur und seinen Umgang mit der Kamera (man könnte von der erzählerischen Unschärferelation sprechen...). Damit handelt der Film zugleich auch von gegenseitiger Manipulation: so meint Germain, Claude beim Schreiben zu lenken, merkt aber gar nicht so richtig, daß er selbst zu einem Teil der Geschichte wird, die sein Schüler erzählt (wobei Auswirkungen auf sein richtiges Leben nicht ausbleiben); Interaktion ist eben mit Risiken verbunden, und der Zuschauer kann insofern ganz froh darüber sein, daß er nicht in den Film eingreifen kann...
In ihrem Haus ist aber kein trockener Filmessay, sondern auch großartiges Unterhaltungskino, allein schon dadurch, daß all die Geschichten, die Claude seinem Lehrer vorsetzt, diverse Genres streifen: von der Mittelstandssatire über den Psychothriller bis hin zur Liebesschnulze. Die (für mich zumindest) interessanteste und geheimnisvollste Figur ist dabei Claude selbst, ein Voyeur wie etwa L.B. Jeffries oder Jeffrey Beaumont; ein Voyeur aber, der über seine heimlichen (Ein-)blicke schreibt und das Geschriebene wiederum seinen Vorstellungen anpaßt; ist er ein angehender Künstler, ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen, der sich nach gesellschaftlichem Aufstieg sehnt oder ein skrupelloser Manipulator, der andere Leute virtuos gegeneinander ausspielt?
Dabei ist der Film ausgezeichnet fotografiert und wunderbar gespielt. Fabrice Luchini etwa ist wunderbar als Germain, gleiches gilt für Kristin Scott Thomas und Emmanuelle Seigner, und eine besonderes Lob verdient der junge Ernst Umhauer als Claude: da stimmen alle Blicke und Regungen, sein Mienenspiel ist wunderbar nuanciert und nichts daran wirkt übertrieben. Bisher ist dieser junge Darsteller wohl noch wenig bekannt, aber das kann - nach einer solchen Leistung - eigentlich nicht mehr lange so bleiben.
In ihrem Haus ist wohl der beste von den (allerdings nur wenigen) Filmen des aktuellen Kinojahres, die ich gesehen habe: anregend, intelligent und unterhaltsam. Kino, wie ich es liebe.


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Von Angesicht zu Angesicht


Die Psychiaterin Jenny Isaksson scheint fest im Leben zu stehen, gerät jedoch in eine schwere Krise, als sie (während eines mehrmonatigen Amerikaaufenthalts ihres Mannes) eine längere Zeit bei ihren Großeltern verbringt und wenig später in ihrem neuen Haus nicht nur einer ihrer Patientin, sondern auch zwei unbekannten Männern begegnet, von denen einer versucht, sie zu vergewaltigen. Schließlich unternimmt sie einen Selbstmordversuch, wird aber von dem Arzt Tomas, mit dem sie sich kurz zuvor ein wenig angefreundet hat, gerettet. Der weitere Film spielt dann im Krankenhaus, wo Jenny einerseits beunruhigende Träume durchlebt, und sich zugleich an Begebenheiten aus der Vergangenheit, gerade auch ihrer Kindheit erinnert.
Ein typischer Bergman-Stoff: wesentliche Motive (traumatische Erfahrungen in der Erziehung etwa) tauchen auch in anderen Bergman-Filmen auf, das Entwerfen des Psychogramms einer Figur durch das Eintauchen in ihrer Vergangenheit gab es bereits in Wilde Erdbeeren, und auch den Versuch, die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit aufzuheben, hat Bergman schon in früheren Werken unternommen. Mit Von Angesicht zu Angesicht war Bergman, der bei diesem Film wohl sehr große Ambitionen hatte, ausgesprochen unzufrieden und rechnete den Film in seiner Autobiographie gar zu den "peinlichen Fehlschlägen". Tatsächlich gehört Von Angesicht zu Angesicht nicht zu den besten Bergman-Filmen: der Film wirkt weniger dicht als andere Werke, der Erzählrhythmus ist teilweise holprig, Liv Ullmanns stellenweise sehr exaltiertes Spiel ist zumindest gewöhnungsbedürftig (allerdings durch die Anlage ihrer Figur doch wieder gerechtfertigt) und die Traumsequenzen sind von recht verschiedener Qualität: die große Sequenz nach Jennys Selbstmordversuch fand ich nicht wirklich überzeugend, fast schon aufgesetzt, während die späteren Traumszenen sehr starke Momente haben (wenngleich sie nicht ganz an die Traumszenen in Wilde Erdbeeren herankommen, denen sie recht stark ähneln). Trotzdem ist Bergmans eigenes, wohl von seiner Enttäuschung geprägtes Urteil eindeutig zu streng, denn es gibt in Von Angesicht zu Angesicht - besonders in der zweiten Hälfte - einige großartige Szenen, die jene quälende Intensität besitzen, die Bergmans (gelungenen) Werke auszeichnet: wenn aus Jenny etwa all die Sprüche, mit denen ihre Großmutter sie im Zuge der von praktizierten repressiven Erziehung regelmäßig traktiert hat, herausbrechen, oder wenn sie ein von eisiger Kälte geprägtes Gespräch mit ihrer Tochter führt. Eigentlich verfolgte Bergman die Idee, daß eine Frau durch eine schwere Krise zur Selbsterkenntnis und letztlich einer bewußteren und eigenständigeren Existenz geführt wird, doch bei der Arbeit am Film scheint Bergman den Glauben an diese Idee weitgehend verloren zu haben, denn letztlich ist am Ende für Jenny nichts wirklich besser geworden. Von Angesicht zu Angesicht ist sicherlich kein Meisterwerk, aber trotz diverser Detailschwächen immer noch ein durchaus sehenswerter Film.


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Uhrwerk Orange (alter Text mit neuem Vorwort und Nachwort)


Vorwort:
Bei dem folgenden Text handelt es sich um ein Rezension zu Kubricks Uhrwerk Orange, die ich im Februar 2004 bei kino.de veröffentlicht habe. Es handelte sich bereits um meinen zweiten Text zu diesem Film bei kino.de. Um nun zunächst einmal zu erläutern, warum ich überhaupt noch einen zweiten Text zu diesem Film schrieb, muß ich etwas weiter ausholen.
Zunächst einmal muß ich betonen, daß ich bereits seit meiner Jugend ein großer Verehrer der Musik Ludwig van Beethovens bin und mir als solchem auch seine neunte Sinfonie viel bedeutet (wenngleich ich sie nicht für seine beste halte, die fünfte oder sechste etwa sind viel besser, dies nur nebenbei...). Warum das wichtig ist, wird aus dem eigentlichen Text deutlich werden. Ich bin aber auch - was keine ganz große Überraschung sein dürfte - ein Filmliebhaber. Als ich mich in den 90er Jahren für Filme zu interessieren begann, begegnete mir dabei natürlich auch immer wieder der Name Kubricks, von dem ich 2001 bereits seit meiner Jugend kannte und dann kurz nach Erwachen meines Filminteresses Wege zum Ruhm, Full Metal Jacket, Shining und Dr. Seltsam kennenlernte - mit Ausnahme von Shining fand ich jeden dieser Filme großartig. Trotzdem war ich zunächst noch entschlossen, niemals Uhrwerk Orange zu sehen, weil ich schon damals fürchtete, daß der Film (Gewalt)bilder in mein Gehirn pflanzen könnte, die mich dann auch beim Hören der erwähnten neunten Sinfonie verfolgen würden (und genau so ist es letztlich auch gekommen...).
Im Jahr 2001 sah ich dann den gleichnamigen Film im Kino und war nun so beeindruckt, daß ich endgültig (ganz so endgültig dann allerdings doch wieder nicht...) zum Kubrick-Fan wurde, ihn zu meinen Lieblingsregisseuren zählte und im Verlauf desselben Jahres meine alten Bedenken über Bord warf und mir Uhrwerk Orange schließlich doch ansah. Und zunächst einmal machte es mir nichts aus, die Szenen mit der Beethoven-Musik anzusehen und glaubte, die Sichtung des lange so gefürchteten Film unbeschadet überstanden zu haben. Und nicht nur das: ich war von dem Film sogar ungemein beeindruckt, um nicht zu sagen begeistert und lobte ihn als visuell grandiosen und ebenso klugen wie komplexen filmischen Diskurs über persönliche und strukturelle Gewalt. Dies war dann auch der Tenor meiner ersten kino.de-Kritik, die für immer verloren ist (was ich für kein Unglück halte, zum einen, weil sie meiner Meinung längst nicht mehr entspricht, vor allem aber auch, weil die Lobeshymnen auf den Film, die ich darin anstimmte, die allgemein üblichen waren und es solche Texte wie Sand am Meer gibt).
Doch in der Folgezeit begann ich einerseits bei kino.de recht ausführlich über den Film zu diskutieren, und zum anderen hörte ich dann irgendwann mal wieder die neunte Sinfonie - und bemerkte recht entsetzt, daß die Sichtung des Films doch nicht so folgenlos geblieben war. Als ich in einer recht merkwürdig verlaufenen Diskussion eine zarte Andeutung in dieser Richtung machte, sah einer meiner Gesprächspartner darin einen weiteren Beleg für die Qualität von Kubricks Werk, er sprach von "Bewußtwerdung" und "Gewalt- und Größengefühlen", die Beethoven beim komponieren gehabt haben müsse. Spätestens von diesem Moment an hatte ich ein echtes Problem mit Uhrwerk Orange. Ich diskutierte weiter, bekam immer stärkere Zweifel am Film (beim Musikhören stellte ich auch fest, daß der Konditionierungseffekt sich mit der Zeit noch zu verstärken schien) und sah ihn schließlich (was vielleicht ein wenig seltsam ist) ein zweites Mal, um klarer zu sehen. Nach diesen Vorbemerkungen nun mein alter Text.


Meine Besprechung von 2004:

Beginnen will ich mit einer kurzen Vorbemerkung: Der folgende Text ist weniger eine Filmkritik im gängigen Sinn, es handelt sich eher um (vergleichsweise ungeordnete) Gedanken und Thesen zu Uhrwerk Orange, wobei ich nicht ausschließen kann, daß einige dieser Überlegungen sich auch untereinander widersprechen; sollte dies der Fall sein, so wäre dies wohl nur ein weiterer Beleg für meine ambivalente Haltung dem Film gegenüber und die verschiedenen, teilweise sehr konträren Gedanken, mehr noch aber Gefühle, die er bei mir auslöst.

Nach diesen einleitenden Erläuterungen nun zum Film selbst: Uhrwerk Orange ist Stanley Kubricks umstrittenster Film, er war es schon zu seiner Entstehungszeit, und ist es eigentlich bis heute geblieben. Auf der einen Seite halten ihn viele für ein Meisterwerk (manche setzen noch ein „unerreichtes“ davor) und möglicherweise auch Kubricks besten Film; andere dagegen haben ihn aufs Schärfste verurteilt; so warf Pauline Kael ihm die Verherrlichung sadistischer Gewalt vor, und Susan Sontag hielt ihn gar für faschistisch. Die zwiespältigen Reaktionen, die der Film immer noch auslöst, spiegeln sich nicht zuletzt in meiner persönlichen Haltung wieder: während ich ihn anfangs entschieden begrüßt und immer wieder (insbesondere auch hier im Forum) in den höchsten Tönen gelobt habe, befielen mich später zunehmend Zweifel am Film, die an manchen Tagen bis zur offenen Ablehnung führten (was ja nun auch keine Neuigkeit ist, da ich damit im Forum ja regelrecht hausieren gegangen bin, allerdings nicht, um mich damit interessant zu machen, sondern wirklich deshalb, weil mich die Auseinandersetzung über den Film, die zuletzt auch sehr stark eine innere Auseinandersetzung war, niemals ganz losgelassen hat). Das beste Zeugnis für meine frühere Einschätzung des Films ist sicherlich meine alte Kritik [die, wie erwähnt, nicht mehr existiert], in der ich mich zuletzt immer weniger wiederfinden konnte.
Nun habe ich mir den Film abermals angesehen, und insgeheim hatte ich gehofft, nun zu einer ganz klaren Position zu gelangen: entweder zurück zur früheren Begeisterung oder hin zur endgültigen Ablehnung. Das hat jedoch nicht funktioniert, denn (um dies schon vorwegzunehmen): meine Beurteilung von Uhrwerk Orange ist weiterhin zwiespältig. In der folgenden Kritik will ich versuchen, meine gegenwärtige Position kurz darzustellen.

Eines vorweg: Ich werde dabei den Film als solches betrachten, also nicht auf die Romanvorlage eingehen, schon deshalb, weil ich sie gar nicht kenne und nur ein paar Sekundärinformationen besitze, aber auch aus dem Grund, weil ein Film ohnehin immer insofern eigenständig sein sollte, daß er die Kenntnis einer literarischen Vorlage nicht voraussetzt. Wenn ich aber darüber hinaus bei Dingen, die mir an dem Film nicht gefallen, keine Rücksicht darauf nehme, ob sie durch den Roman von Anthony Burgess vorgegeben sind, dann auch deshalb, weil gerade Kubrick sich bei seinen vielen Literaturverfilmungen stets nur wenig um die Intentionen der Autoren gekümmert hat (Shining ist dafür das Paradebeispiel schlechthin); daher ist alles in seinen Filmen (und natürlich auch in diesem Film) deshalb enthalten, weil er es so wollte. Diesen Hinweis halte ich für wichtig, weil er für einen Aspekt, auf den ich später noch eingehen werde, von Bedeutung ist.

Außerdem sollte noch betont werden, daß meine Kritik die Kenntnis des Films unbedingt voraussetzt.

Eigentlich sollte Kubricks nächster Film Napoleon sein; bekanntlich wurde daraus nichts, statt dessen folgte auf 2001 - Odyssee im Weltraum eben Uhrwerk Orange. Und es ist sicherlich nicht uninteressant, die beiden Filme ein wenig miteinander zu vergleichen. 2001 gehörte zu den wenigen Werken Kubricks, in denen es zumindest einen Hoffnungsschimmer gibt, wobei man allerdings deshalb nicht dem Irrtum verfallen sollte, den Film für „optimistisch“ zu halten. Sicherlich ist das rätselhafte Schlußbild in seiner Vieldeutigkeit auch durchaus als Zeichen der Hoffnung (auf eine Weiterentwicklung des Menschen, in welcher Weise auch immer) zu deuten, doch der Blick auf die Menschen selbst ist auch in 2001 von bitterer Skepsis geprägt (abgesehen davon, daß es in dem Film, wie fast immer bei Kubrick, keine einzige sympathische Figur gibt), der eher vage Hoffnungsschimmer liegt in der Begegnung mit einer außerirdischen Macht, was aber letztlich nichts anderes heißt als: für die Menschen gibt es eigentlich keine Hoffnung, es sei denn die auf ein Wunder. In Uhrwerk Orange wird auch dieser kleine Funken von Optimismus gründlich demontiert, Kubricks Hang zum Zynismus bricht hier deutlicher als je zuvor durch, und das gleiche gilt für seinen Pessimismus, der hier bis ins Extreme gesteigert ist und sich hart an der Grenze zur Menschen- oder besser noch: Weltverachtung bewegt. Man könnte es auch so ausdrücken: Uhrwerk Orange legt den Gedanken nahe, daß es besser gewesen wäre, wenn die Affenhorde aus dem ersten Kapitel von 2001 nie zu Menschen geworden wäre. Ohnehin hat es mitunter fast den Anschein, als ob Uhrwerk Orange Kubricks Gegenentwurf zu seinem eigenen Film wäre.

Worum geht es in Uhrwerk Orange? Natürlich in erster Linie um Gewalt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Auf der einen Seite steht die individuelle, persönliche Gewalt, die vor allem von Alex, dem Protagonisten des Films verübt wird, auf der anderen Seite die staatliche, in erster Linie strukturelle Gewalt, die sich besonders deutlich in Form der „Ludovico“-Methode zeigt.
Der Einfachheit halber beginne ich mit der filmischen Darstellung der staatlichen Gewalt: diese halte ich (zumindest zum größten Teil, es gibt eine wichtige Einschränkung) immer noch für recht gut gelungen, so wie ohnehin das zweite Drittel des Films wohl als das stärkste einzuschätzen ist. Besonders bemerkenswert ist dabei der Sehzwang, dem Alex im Verlauf der fragwürdigen Therapie ausgesetzt wird, so wie der Film von Gewalt handelt, wird hier das Medium Film selbst zur Gewalt, und zugleich hat die Gewalt im Film oft den Charakter einer grotesken Inszenierung, worauf ich noch einmal zurückkommen werde. In diesem Kontext wird auch Alex’ Aussage, daß die Farben (fließenden Blutes etwa) erst echt wirken, wenn sie auf der Leinwand zu sehen sind, sinnvoll: wir sind so sehr von visuellen Medien beherrscht (und werden manipuliert), daß wir etwas, was vor unseren Augen geschieht, erst dann glauben, wenn wir es abends im Fernsehen sehen. Bemerkenswert ist sicherlich auch der Aspekt, daß die Gewalttäter in den ersten beiden Filmen, die Alex vorgeführt werden, optisch (vor allem durch ihre Kleidung) stark an Alex und seine Droogs erinnern: ist dies ganz gezielter Bestandteil der Behandlung, oder eher ein nur für die Wahrnehmung des Zuschauers bestimmtes Detail? Wir erfahren es nicht. Gelungen ist sicherlich auch der Einfall, daß die Droogs Georgie und Dim später zu Polizisten werden und im Staatsdienst ihren sadistischen Neigungen nachgehen.
Was die Darstellung des staatlichen Systems als solches betrifft, so könnte man - verglichen mit Werken wie Fahrenheit 451 oder 1984 (hier meine ich die Adaption von Michael Radford) - beklagen, daß die totalitären Züge der im Film gezeigten Gesellschaft diffus und auf Andeutungen beschränkt bleiben, doch darin sehe ich keinen Schwachpunkt, denn gerade solche schleichenden, kaum sichtbaren und subtilen Entwicklungen sind besonders typisch für unsere Zeit. Die offene, totale Diktatur gibt es nur noch in vergleichsweise wenigen Staaten (Nordkorea wäre hier zu nennen), das unterdrückerische System modernen Zuschnitts schmückt sich mit einem demokratischen Mäntelchen: das gegenwärtige Rußland ist dafür ein besonders gutes Beispiel.
Wenn man den Film als Gewaltstudie und damit auch als Gegenüberstellung der verschiedenen Gewaltformen rezipiert, dann muß man sich natürlich auch mit der Darstellung der anderen Erscheinungsform der Gewalt auseinandersetzen. Hier fangen die Probleme an. Denn Alex führt nicht nur als Erzähler durch den Film, sondern dieser nimmt auch sehr oft seine Sichtweise (oft auch durch den Einsatz subjektiver Kamera) ein: die Inszenierung drängt uns Alex als Identifikationsfigur regelrecht auf. Die schon erwähnte Pauline Kael hat gerade dies scharf kritisiert: während der Film kaum Mitleid mit Alex’ Opfern erkennen läßt, scheint er es vor allem im letzten Drittel darauf anzulegen, den Zuschauer dazu zu bewegen, daß er mit Alex Mitleid hat (was zumindest etwas seltsam wirkt, gerade deshalb, weil Kubrick auch in seinen anderen Filmen, abgesehen von einigen sehr spärlich vorhandenen Ausnahmen nie Mitleid mit seinen Figuren zeigt, sondern sie, wie ich in privaten Diskussionen schon einmal bemerkt habe, eher auf die Weise betrachtet, auf die ein Insektenforscher seine Schmetterlingssammlung beobachtet - und ausgerechnet bei Alex weicht er von diesem Prinzip ab?). Manche Kritiker haben sich davon auch in die Irre führen lassen, so etwa Rolf Thissen, der in seinem Kubrick-Buch schreibt: „Die Kritiker, die über die Gewalt in A Clockwork Orange lamentierten, übersahen meist, daß Alex viel mehr Gewalt zugefügt wird, als er anderen zufügt.“ Dieser Einschätzung möchte ich ausdrücklich nicht zustimmen. Sicher, Alex wird im Verlauf des Films gefoltert, sowohl physisch als auch psychisch, doch andererseits hat er (unter anderem) zwei der schlimmsten Verbrechen überhaupt auf seinem Kerbholz, Vergewaltigung und Mord. Wer will das gegeneinander abwägen oder aufrechnen? Ich nicht; zumindest läßt sich aber wohl sagen: wenn irgend jemand das verdient hat, was ihm in den letzten beiden Dritteln des Films angetan wird, dann ist es Alex.
Nun läßt sich natürlich aus der Erzählhaltung des Films, der gerade im ersten Drittel sehr oft die Täterperspektive einnimmt und die Gewaltszenen stilisiert, teilweise gar choreographiert (die Schlägerei im Theater zu Beginn wird in der Literatur gern mit einem Ballett verglichen, mich persönlich erinnert sie aber weit mehr an ein Wrestling-Match - auch wenn das natürlich peinlich ist, weil ich damit zugebe, diesen Quatsch schon mal gesehen zu haben; ja, das habe ich, vor einigen Jahren sogar ziemlich regelmäßig...), nicht schließen, daß er Alex’ Taten gutheißt. Auch in der Literatur gibt es viele Romane, die in der Ich-Form erzählt sind, deren Autoren jedoch in solcher Weise durch ihren Erzähler sprechen, daß sie sich für den Leser spürbar von ihm distanzieren. Insofern halte ich die Annahme, daß der Film wirklich auf Alex’ Seite steht, für irrig. Wenn Kubrick sich aber trotz der Erzählperspektive von Alex distanziert (wovon ich eigentlich ausgehe), so wird das im Film nicht wirklich deutlich: möglicherweise hat Kubrick hier unbeabsichtigt eine Schwäche des filmischen Mediums an sich aufgedeckt, denn was in Romanen funktioniert, funktioniert im Film weit weniger gut. Das liegt wohl daran, daß Worte eigens zum Zweck der Kommunikation erfunden wurden, so daß einem Schriftsteller ganz andere stilistische Kunstgriffe zur Verfügung stehen. Filmbilder dagegen sind oftmals vieldeutig, und sie haben eine ungeheure Suggestivkraft. Daher ist es für einen Regisseur ungleich schwieriger, sich von den Bildern, die er zeigt, zugleich zu distanzieren. Mir kommt es stellenweise so vor, als ob Kubrick in Uhrwerk Orange die Kontrolle über seine Bilder verloren hätte, oder richtiger: die Kontrolle über die Wirkungen seiner Bilder.
In letzter Konsequenz bedeutet das: wir (damit meine ich jetzt die Gesamtheit der Zuschauer) gehen zwar davon aus, daß Kubrick eine kritische Position zu der von Alex verübten Gewalt einnimmt, doch wirklich belegen läßt sich diese Annahme kaum. Was die Frage aufwirft: wie erlebt ein Zuschauer, der noch keinen anderen Kubrick-Film gesehen hat und auch noch nichts von Kubrick weiß, Uhrwerk Orange? Wird er zwangsläufig die angesprochene Kritik aus dem Film herauslesen, oder tun wir das vor allem, weil wir bei einem Kubrick-Film einfach stillschweigend voraussetzen, daß er kritisch engagiert ist?
Insofern hinterläßt die filmische Darstellung von Alex’ Gewalttaten einen zumindest zwiespältigen Eindruck, weil Kubrick den Zuschauer mit dem Gesehenen ziemlich allein läßt. Manche werden sicherlich gerade darin einen entscheidenden Vorzug des Films sehen, doch ich gebe offen zu, daß ich die Art der Gegenüberstellung von individueller und staatlicher Gewalt, wie sie in Kieslowskis Ein kurzer Film über das Töten, in dem die Inszenierung den Zuchauer sowohl beim Mord als auch bei der Hinrichtung auf die Seite des Opfers zieht, vorgenommen wird, für die überzeugendere halte. Sicherlich: auch bei Kubrick ist die Gewalt extrem unangenehm anzuschauen und schockierend. Aber daß ein Werk schockierend ist, ist allein noch lange kein Qualitätsbeweis. Wichtig ist daher die Frage: Führen die schockierenden Szenen den Zuschauer auch zu wirklichen Erkenntnissen, lösen sie eine Katharsis aus? Ich bin mir da nicht so sicher.
Fairerweise muß ich das eben gesagte allerdings etwas relativieren, da Kubrick mitunter das, was ich als „Täterperspektive“ bezeichnet habe, durchbricht: in der Szene, in der Alex und seine Bande den Schriftsteller und seine Frau überfallen, etwa insofern, daß Alex sich, als er in höhnischem Ton an den Schriftsteller wendet, nicht nur diesen, sondern (durch den direkten Blick in die Kamera) auch den Zuschauer anspricht. Dies schwächt meine Bedenken ab, kann sie aber keineswegs beseitigen.
Ein weiterer Punkt, auf den einzugehen mir lohnend scheint, ist der Aspekt der Gesellschaftskritik und des Gesellschafts- und Menschenbildes, das Kubrick in seinem Film entwirft.
Zunächst fällt auf, daß die Figuren, die Kubrick auf die Leinwand stellt, ein schauerliches Pandämonium bilden, womit sich eine Entwicklung in Kubricks Werk fortsetzt und ihr Extrem erreicht: denn während es in Wege zum Ruhm in der Gestalt des Colonel Dax noch eine positive, idealistische Figur gab und auch in Dr. Seltsam zumindest der Austauschoffizier Mandrake und der (allerdings sehr hilflos wirkende) US-Präsident sich als solche verstehen lassen, wirkten die Figuren in 2001 eher roboterhaft und fast schon tot. In Uhrwerk Orange wiederum gibt es eigentlich nur hassenswerte Gestalten. Alex selbst ist ein arroganter Widerling, der Bewährungshelfer ist ebenso wie der Gefängniswärter eine einzige Karikatur, und über solche Leute wie den Innenminister muß man wohl keine weiteren Worte verlieren. Auffallend ist dabei auch, daß es keine unschuldigen Opfer mehr gibt, viele Figuren im Film sind Opfer und Täter zugleich. Kubrick zeigt uns eine Gesellschaft, die irreparabel deformiert ist; man könnte darin natürlich einen gewollten Verfremdungseffekt sehen, doch ich glaube eher, daß daran deutlich wird, daß Kubrick jede Hoffnung für die Menschheit aufgegeben hatte, als er den Film drehte. Insbesondere tritt hier ein Kerngedanke, der sich durch sein gesamtes Werk zieht, hier besonders klar zutage: der Gedanke nämlich, daß Gewalt die Urform des menschlichen Umgangs miteinander ist. Kubrick zeigt die Gewalt nicht als menschliche „Verirrung“, sondern als Normalzustand der menschlichen Gesellschaft: die Zivilisation ist der unnatürliche Zustand des Menschen, von Natur aus ist der Mensch, wie der Film ihn zeigt, gewalttätig und böse. Wenn man diesen Gedanken konsequent zu Ende führt, ergibt sich, daß Alex also nicht durch die Gesellschaft pervers und gewalttätig ist, sondern daß er vielmehr den Menschen in seiner natürlichsten Form verkörpert; bis er konditioniert und zwangszivilisiert wird: man kann den Menschen demnach nur dadurch gewaltlos machen, daß man ihm Gewalt antut. Eine mehr als bittere Weltsicht, denn die Folgerung daraus ist, daß die Menschen nicht deshalb so verabscheuungswürdig sind, weil sie von einer kranken Gesellschaft deformiert worden sind, sondern daß die Gesellschaft deshalb krank (und zwar unheilbar krank!) ist, weil der Mensch als solches eine einzige Fehlkonstruktion ist. In meiner alten Kritik hatte ich dies noch nicht erkannt, damals interpretierte ich den Film noch so, daß Alex erst durch die Gesellschaft zu dem Monster geworden ist, als das wir ihn erleben. Nun tendiere ich zur genau umgekehrten Auslegung. Kubrick führt die Brüche der Gesellschaft auf die Mängel des einzelnen Menschen zurück und verwirft im nächsten Schritt den Menschen selbst. Dies geschieht allerdings völlig ohne Bedauern oder Mitleid, so wie es dem Film überhaupt an jeglichem positiven menschlichen Gefühl mangelt. Kubrick reiht sich damit in die Tradition etwa eines Jonathan Swift ein, der die Menschen im vierten Buch von Gullivers Reisen als stinkende, häßliche Tiere darstellt (und auch in Kubricks Film ist ja schon am Anfang von der „stinkenden Welt“ die Rede). Während Swift aber noch ein Gegenbild in der Gestalt idealisierter, edler sprechender Pferde entwirft, verzichtet Kubrick darauf, sein Film bleibt ein hermetisch geschlossener Alptraum ohne jeden Hoffnungsschimmer, das trostlose Bild einer Welt, die nicht heilbar ist, sondern am besten gleich unterginge. Ob es Filme gibt, die noch misanthropischer sind, weiß ich nicht, aber ich kenne zumindest keine.
Dies ist aber noch nicht einmal das, was mich an dem Film am meisten stört, denn wenn auch Kubricks Sichtweise recht grob verzerrt ist, hat sie doch zumindest den Vorteil, daß sie den Zuschauer mit der Frage nach dem „Alex in uns selbst“, wie ich es einfach mal ausdrücken will, konfrontiert; außerdem steckt in dieser düsteren Weltsicht leider mehr als nur ein Körnchen Wahrheit, auch wenn ich sie nicht in dieser Radikalität und Konsequenz teilen kann.

Ein besonderes Problem ist allerdings die Art, wie der Film Musik einsetzt, und seine Haltung zur Kunst und Kultur insgesamt, die sich daraus ableiten läßt.
Zunächst einmal ist es interessant, sich mit Kubricks Einstellung zur Musik zu befassen. Dazu habe ich im Internet unter

http://www.heise.de/...no/13827/1.html

ein Interview mit seinem Schwager Jan Harlan gefunden, das offenbar kurz nach Kubricks Tod geführt wurde. Dort meint Harlan: „Sein Problem war, daß alle diese Stücke [gemeint sind Werke der klassischen Komponisten] so lang waren und kein Ende fanden. Und er war voller Respekt gegenüber Komponisten, es wollte auf keinen Fall daran rumschneiden oder ausblenden.“
Interessant daran finde ich das Wort Respekt. Denn wenn ich mir ansehe bzw. -höre, wie Kubrick klassische Musikstücke in Uhrwerk Orange benutzt (allein das Wort „benutzen“ deutet nicht gerade auf Respekt hin, doch letztlich hat Kubrick auch in Filmen wie 2001 und Barry Lyndon Musik vor allem benutzt, so wie er seine Schauspieler benutzt hat - Malcolm McDowell etwa beklagte sich später darüber, daß Kubrick sich zwar während der Dreharbeiten zu Uhrwerk Orange fast väterlich ihm gegenüber zeigte, nach deren Abschluß aber so tat, als ob er ihn nicht kennen würde!), fällt es mir schwer, daran zu glauben.
Wie taucht die Musik im Film auf? Zunächst einmal als Stilisierungsmittel, vor allem bei Gewaltszenen, wobei vor allem der bedauernswerte Rossini ständig als Filmmusik herhalten muß. Das ist für mich aber nicht unbedingt ein Zeichen von Respekt den auf diese Weise benutzten Werken gegenüber.
Die Verwendung von klassischer Musik in Uhrwerk Orange veranlaßt mich dazu, eine grundlegende Frage aufzuwerfen, was die Verwendung bereits vorhandener Musik in Filmen betrifft.
Normalerweise betrachten wir dies vor allem mit Blick auf den Film, stellen also die Frage: Wie wirkt die Musik auf die Bilder?
Ich bin nun aber der Meinung, daß man sich auch mit der umgekehrten Frage befassen muß:

Wie wirken die Bilder auf die Musik?

Warum ist mir die Frage so wichtig? Weil meine persönliche Antwort auf die Frage alles andere als angenehm ist. Denn neben den schon erwähnten Werken Rossinis zieht sich vor allem ein Stück durch den Film hindurch: Ludwig van Beethovens neunte Sinfonie, die hier auch so manchen Gewaltrausch begleitet. Leider hat sich der Film bei mir so ausgewirkt, daß mich diese Gewaltbilder verfolgen und manchmal (wenn auch nicht immer) beim Hören der neunten Sinfonie bedrängen, fast „attackieren“. Das geht natürlich nicht annähernd so weit wie im Film (wo Alex nach der Ludovico-Behandlung nicht nur beim Gedanken an Sex und Gewalt übel wird, sondern auch dann, wenn er die Neunte hört), zum Glück hat der Film mir Beethovens Meisterwerk nicht verleiden können. Trotzdem ist es eine lästige, störende, unangenehme Erfahrung: „An die Freude“ ist für mich keine so reine Freude wie früher mir, und das habe ich diesem Film zu „verdanken“. Ich bekenne auch ganz offen, daß ich das nicht nur dem Film, sondern auch seinem Regisseur ziemlich übel nehme. Warum ich ihn mir trotzdem nochmals angesehen habe? Zum einen, um (wie eingangs erwähnt) zu einer klareren Haltung zu gelangen. Vielleicht aber auch, um mich (nicht zuletzt durch diese Kritik) zu befreien. Ob das gelingen wird, weiß ich noch nicht.
Nun ist es natürlich durchaus möglich, daß ich von allen Zuschauen, die Uhrwerk Orange je gesehen haben, der einzige bin, der diese Erfahrung gemacht hat, und dann hätte ich eben ganz einfach Pech gehabt; natürlich könnte man dann fragen, was solche Betrachtungen in dieser Kritik überhaupt verloren haben. Sie gehören jedoch hinein, weil dies der Punkt ist, von dem meine Zweifel an dem Film ausgegangen sind, meine Skepsis, mein Schwanken zwischen Bewunderung und Ablehnung, und meine mitunter aufkochende Wut auf den Film (ja, auch das).
Zugleich sehe ich in diesen persönlichen Erfahrungen aber auch durchaus einen Ansatzpunkt zu berechtigter, objektiver Kritik: Wie der Film zeigt, kann Musik unter bestimmten Voraussetzungen Menschen konditionieren, ihnen zur Qual werden. Das gilt für Alex (und die Neunte), aber auch für den Schriftsteller, der in ähnlicher Weise bei „Singin’ in the Rain“ leidet (und Alex auch daran erkennt).
Wenn wir aber auch hier wieder von kritischen Intentionen Kubricks ausgehen wollen (etwa, was die Ludovico-Methode), so verliert diese Kritik natürlich dadurch erheblich an Glaubwürdigkeit, daß der Film ähnliches mit dem Zuschauer tut. „Ludovico light“, wenn man so will. Natürlich ließe sich nun einwenden, Kubrick wolle eben gerade den Mißbrauch von Musik vorführen, deutlich machen, wie selbst Musik zum Mittel der Gewalt werden kann. Wenn dies seine Absicht war, dann hat er es meiner Meinung ganz einfach schlecht gemacht. Kubrick selbst hat einmal gesagt: „Ein Regisseur ist eine Art Idee-und-Geschmack-Maschine. Ein Film ist eine Serie kreativer und technischer Entscheidungen, und es ist die Aufgabe des Regisseurs, die richtigen Entscheidungen so oft wie möglich zu treffen.“ Vorausgesetzt, Kubrick wollte den Mißbrauch von Musik als Mittel der Gewalt darstellen, so hat er bemerkenswert schlechten Geschmack bewiesen und eindeutig die falschen Entscheidungen getroffen. Da lobe ich mir das Vorgehen von Roman Polanski in Der Tod und das Mädchen.
Zugleich muß ich auch hier eine Einschätzung aus meiner alten Kritik korrigieren: Damals schrieb ich, die Tatsache, daß Alex in der Anstalt auch die Liebe zu Beethoven ausgetrieben werde, sei als ironisches Detail aufzufassen.
Diese Deutung halte ich für nicht mehr haltbar. Denn dies wäre ja nur dann ironisch, wenn Alex’ Liebe zu Beethovens Musik etwas wirklich positives wäre. Davon kann aber keine Rede sein; Alex konsumiert die Musik nur, sie stimuliert ihn sogar zur Gewalt, und von den Ideen des Idealisten Beethoven hat er nicht das geringste verstanden (und ich würde nicht darauf wetten, daß Kubrick irgend etwas davon verstanden hat). Wenn Alex aufschreit, es wäre eine Sünde, Beethoven auf solche Weise zu benutzen, so stimmt das zwar, aber es wirkt lächerlich, wenn ausgerechnet er das sagt. Ich vermute daher, daß dieses Detail lediglich die spätere Folterung durch den Schriftsteller vorbereiten soll.
Wenn man jedenfalls der obigen These folgt, dann zeigt sich auch hieran die Misanthropie des Werks: die Menschen in Uhrwerk Orange wissen mit Musik (oder Kunst allgemein) nichts anzufangen, sondern benutzen sie nur, um andere Menschen zu quälen.
Allerdings läßt der Film noch eine andere These zu (die ich persönlich sogar bevorzuge). Sehen wir uns noch einmal an, was Kubrick mit Beethovens Neunter Sinfonie tut. Diese wird ja nicht allein zur Stilisierung verwendet: sie ist ja auch direkter Bestandteil der Handlung, und (fast) immer tritt sie in Verbindung mit Gewalt auf. Sie versetzt Alex in Erregung und regt ihn zu wüsten Gewaltphantasien an; sie ist für Alex eine Stimulans, eine Droge. Später, in den Händen des Schriftstellers (dessen Gesicht sich vor Rachsucht fratzenhaft verzerrt) wird sie zum Folterwerkzeug. Kubrick reduziert Werke wie die Neunte Sinfonie so konsequent auf das, was sie im schlimmsten Fall werden können, daß ich geneigt bin, zu vermuten, daß dies Methode hat. Es spricht Bände, daß nach dem Überfall auf den Schriftsteller und der Vergewaltigung seiner Frau in der nächsten Szene „Freude, schöner Götterfunken“ gesungen wird.
Beethoven formulierte in seinem sinfonischen Vermächtnis ja auch ein Ideal, das in den Schlüsselsätzen „Alle Menschen werden Brüder“ und Seid umschlungen, Millionen“ zum Ausdruck kommt. Dieses Ideal wird im Film mit geradezu hohnlachender Gehässigkeit zertrümmert, und genau dies stört mich gewaltig. Daß die traurige Wirklichkeit weit von dem Schiller-Beethovenschen Ideal entfernt ist, weiß jeder; um dies zu erkennen, braucht man keinen Kubrick. Und die Erkenntnis, daß es schlechte Menschen gibt, die trotzdem gern solche Musik hören, ist nun auch nicht gerade neu. Doch meiner Ansicht ist beides noch lange kein Grund, deshalb nun das Ideal zu verwerfen, nur weil es in der Wirklichkeit nicht erricht wird. Und es ist erst recht kein Grund, das dazugehörige Kunstwerk auf den Müll zu befördern. Doch eben dies legt der Film nahe, wenn am Ende Alex mit der Neunten so gequält wird, daß er sich aus dem Fenster stürzt. Auch Kunst (und Musik als eine Form von Kunst) ist letztlich nur eine Form von Gewalt: diese These lese ich aus dem Film heraus, oder zumindest die etwas schwächere These, daß Kunst als Trägerin ethischer Werte nichts taugt und in keiner Weise positiv auf den Menschen einwirken kann, in diesem Sinne also zu nichts nütze, ja sinnlos ist. Doch solche Thesen halte ich für falsch.
Daß an dieser Lesart aber durchaus etwas dran sein könnte, zeigt für mich auch der Mord an der Cat-Lady: Womit setzt sie sich zur Wehr, als Alex in ihr Haus eindringt? Natürlich mit einer Beethoven-Büste (alles andere wäre eine Überraschung gewesen). Daß Alex sie mit einer gräßlichen Phallus-Skulptur erschlägt, läßt sich so verstehen, daß Beethoven eben gegen Sex keine Chance hat, oder auch so, daß Alex die Skulptur ihrem eigentlichen Zeck zuführt: ein Mordinstrument zu werden. Und Beethoven taugt auch nur als Waffe.
Auch in der Szene, in der Alex den zweiten Satz der Neunten Sinfonie hört und dabei in Gewaltphantasien schwelgt, zeigt, wie der Film Beethoven eine „gewalttätige Seite“ andichtet: nicht nur, daß diese wüste Collage im Rhythmus der Musik geschnitten ist, sondern immer wieder rückt auch das Beethoven-Poster ins Bild: der Film stellt eine enge Verbindung zwischen Beethoven und Gewalt her, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Und er tut dies teilweise in einer sardonischen Weise, die fast schon mit Alex’ Bosheit konkurrieren kann.
Ich konnte daher auch beim erneuten Ansehen meinen schon länger gehegten Verdacht, daß der Film auch einen gewissen Hang zur Kunst- und Kulturfeindlichkeit hat, nicht wirklich loswerden: dafür deuten Indizien wie die von mir eben genannten zu deutlich in diese Richtung. Das soll nicht heißen, daß es wirklich so ist; tatsächlich bin ich mir über Kubricks Intentionen bei diesem Film weniger sicher denn je. Aber es dürfte nicht leicht sein, mich davon zu überzeugen, daß die These, der Film beziehe eine ablehnende Position zu aller Kunst, wirklich rundherum falsch ist.
Allerdings muß ich einräumen, daß sich, wenn man diese These akzeptiert, zwei merkwürdige Paradoxien ergeben: Zum einen würde eine so radikale Absage an jedes Kunstwerk, das einen ethisch-moralischen Anspruch hat, eine Zielsetzung, die über die rein ästhetische hinausgeht, schlecht zu Kubricks sonstigem, durchaus kritisch engagierten Werk passen. Wenn an der Anti-Kunst-These etwas dran ist, hieße das, daß der Film sich selbst in Frage stellt und in letzter Konsequenz aufhebt. Doch so seltsam dieses Paradox ist, es beweist nicht, daß meine These falsch ist.
Das andere Paradoxon ergibt sich daraus, daß Uhrwerk Orange ein so überstilisierter, überästhetisierter Film ist, daß man fast schon von einer narzißtischen Inszenierung sprechen kann: der Film nimmt eine skeptische Haltung der Kunst gegenüber ein und will doch selbst große Kunst sein, denn Kubrick schöpft formal aus dem Vollen: Zeitlupe, Zeitraffer, Weitwinkel, virtuose Kamerafahrten, etc.. „Das ist ein bedeutendes Kunstwerk“ scheint uns der Film ständig mitzuteilen; doch vielleicht ist er eher eine Monstrosität wie die große Phallus-Skulptur. Oder ist auch dies wieder ein bewußtes Mittel: ein monströser Film, um die Monstrosität und Perversität seines Protagonisten angemessen zu verdeutlichen?

Es wird Zeit, daß ich zum Ende komme, die Kritik ist ohnehin viel zu lang geworden. Ich will noch mal zusammenfassen, wie ich Uhrwerk Orange mittlerweile erlebe:
Zum einen halte den Film für abgrundtief pessimistisch, pessimistischer vielleicht sogar als die Philosophie Schopenhauers, der zwar die Welt als Jammertal sah, aber die Kunst (speziell die Musik) als eine Möglichkeit, das Fristen in diesem Jammertal erträglicher zu machen, begrüßte; doch Kubrick scheint auch in die Kunst keinerlei Hoffnung zu setzen.
Zum anderen halte ich ihn für nihilistisch, nihilistischer vielleicht als die Philosophie Nietzsches, denn in „Also sprach Zarathustra“ heißt es zwar immer wieder: „Zerbrecht die alten Tafeln!“, doch Nietzsche will dann neue Tafeln meißeln. In Uhrwerk Orange dagegen geht es allein um das Zerbrechen.
So könnte das Motto dieses Films möglicherweise lauten:
„Denn alles, was entsteht,
ist wert, daß es zugrunde geht;
drum besser wär’s, wenn nichts entstünde.“
Wobei dies freilich Worte sind, mit denen sich der Teufel in Fausts Stube vorstellt.

Abschließend bleibt mir die nüchterne Feststellung, daß mich dieser Film verwirrt und verunsichert zurückläßt; ich bin mir nicht sicher, ob ihm Absichten, die ich ganz und gar unterstützen kann, zugrunde liegen und Probleme mit deren Umsetzung habe, oder ob er wirklich Thesen vertritt, denen ich unter keinen Umständen zustimmen könnte. Fest steht jedenfalls, daß ich Probleme mit dem Film habe, von denen mich auch das erneute Ansehen nicht befreien konnte. Meine Einschätzung bleibt zwiespältig: vom Standpunkt des filmischen Handwerks betrachtet wird man kaum einen perfekteren Film finden, doch inhaltlich halte ich ihn teilweise für fragwürdig. Fest steht zumindest, daß Uhrwerk Orange zu den düstersten und wohl auch grauenvollsten Werken der Filmgeschichte zählt; von dem Film geht eine Kälte aus, mit der man Helium verflüssigen könnte. Die aus meiner alten Kritik herauszulesende einstige Begeisterung ist beim neuerlichen Sehen nicht zurückgekehrt (und mir im Nachhinein nur schwer verständlich), und ich glaube auch nicht, daß sie sich jemals wieder einstellen wird. Statt dessen fühle ich mich in meiner seit einiger Zeit bestehenden Einschätzung bestätigt, daß Uhrwerk Orange als Filmkunstwerk extrem überschätzt wird (es ist mit Sicherheit Kubricks am meisten überschätzter Film); möglicherweise sind die Diskussionen über den Film wertvoller als der Film selbst.


Nachwort:
Soweit mein alter Text von 2004. Er entstand wenige Tage, nachdem ich den Film das zweite Mal gesehen hatte und zeugt von einer immer noch zwiespältigen Haltung (was allerdings den darin enthaltenen Vorwurf des Narzißmus betrifft, muß ich mir wohl an die eigene Nase fassen, denn fraglos ist mein Text mit seinen Nietzsche- und Goethe-Zitaten selbst ein wenig überfrachtet und angeberisch - narzißtisch eben...). Diese war dann allerdings auch nur eine Zwischenstation, und im Verlauf recht kurzer Zeit entschied ich mich dann für die totale Ablehnung des Films, den ich mal zu meinen Favoriten gerechnet hatte (und ich hoffe sehr, diese Erfahrung nie wieder machen zu müssen!). Entscheidend war dafür natürlich mein Gefühl, durch diesen Film selbst konditioniert worden zu sein, ich sah darin nicht nur einen Mißbrauch Beethovens, sondern fühlte mich auch selbst als Zuschauer mißbraucht. Nun führte ich bei kino.de jahrelang einen regelrechten Feldzug gegen Uhrwerk Orange, den ich eine Zeitlang so sehr verabscheute, daß ich zu Kubrick insgesamt sehr auf Distanz ging.
Inzwischen sehe ich das wieder entspannter. Ich hoffe, daß die Konditionierung sich inzwischen wieder verflüchtigt hat (immerhin ist es fast neun Jahre her, daß ich den Film gesehen habe), weiß es aber nicht, da ich schon seit Jahren Beethovens Neunte nicht mehr gehört habe (was aber nichts mit Kubrick zu tun hat). Meine Meinung zu Uhrwerk Orange werde ich wohl kaum nochmals ändern, und ich werde ihn mir auch ganz bestimmt nicht noch mal ansehen, aber da ich zu unterschiedlichen Zeitpunkten die verschiedensten Meinungen zu diesem Film hatte, kann ich immerhin fast jede Position nachvollziehen.
Dafür beurteile ich Kubricks übriges Werk gerechter als vor einigen Jahren, über Filme wie 2001 und Barry Lyndon habe ich mich ohnehin niemals negativ geäußert, aber es gab Zeiten, in denen ich schlichtweg keine Lust hatte, sie mir anzusehen. Inzwischen habe ich diese beiden Filme auch wieder gesehen, und auch wieder mit großem Gewinn. Ein Lieblingsregisseur ist Kubrick für mich nicht mehr (und wird es auch nicht mehr werden), sondern er gehört nun zu meinen Haßlieben, doch zumindest einige seiner Filme stehen bei mir wieder (oder vielleicht auch immer noch) hoch im Kurs, aber eben nicht Uhrwerk Orange. Nicht mehr in diesem Leben.


(Haupttext zuerst veröffentlicht bei kino.de im Februar 2004)

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Zeugin der Anklage


Hier noch eine weitere Kritik aus den Zeiten, als ich noch Sam Spade war...


Hinweis: Wer den Film noch nicht kennt, sollte diesen Text lieber nicht lesen!

Hellmuth Karaseks Einschätzung "Witness for the Prosecution ist einer der besten Hitchcock-Filme - nur daß er von Wilder stammt" ist zwar im Grunde genommen total schief, da Wilders Zeugin der Anklage vor allem, aber nicht nur stilistisch doch recht weit vom Hitchcock-Kosmos entfernt ist, aber trotzdem sehr hübsch, da sie der Qualität von Wilders Film durchaus gerecht wird, denn unter den Kriminal- und insbesondere Gerichtsfilmen nimmt Zeugin der Anklage sicher einen der vordersten Plätze ein.
Das ist zum Teil natürlich dem durchaus raffinierten Plot zu verdanken, der auf eine Vorlage Agatha Christies zurückgeht: der herzkranke Anwalt Sir Wilfrid Robarts übernimmt die Verteidigung Leonard Voles, der verdächtigt wird, aus Habgier einen Mord begangen zu haben. Nicht nur zahlreiche Indizien sprechen gegen Vole, sondern zudem wird er auch noch von seiner Frau schwer belastet, doch Sir Wilfrid gelingt es, die Glaubwürdigkeit eben dieser Zeugin aufs gründlichste zu zerstören - um unmittelbar, nachdem er den Prozeß gewonnen hat, erkennen zu müssen, daß er reingelegt worden ist, so wie auch Voles Frau, die sich selbst vor Gericht bloßstellen läßt, um ihren schuldigen Mann zu retten, der aber schon längst seine Augen auf eine andere geworfen hat.
Ein solches Verwirrspiel mit falschen Fährten und einem wirkungsvollen Plottwist am Ende hat fraglos ohnehin schon einen gewissen Reiz, doch zum Meisterstück wird der Film dadurch, was Billy Wilder gemeinsam mit seinen fantastischen Schauspielern aus dieser Vorlage gemacht hat. (Agatha Christie sagte Wilder wohl auch voller Anerkennung, daß er ihr Stück verbessert habe). Da ist zunächst einmal Charles Laughton: ein Ereignis, geradezu eine Naturgewalt als schwerkranker, polterner, misogyner, schlitzoriger und mit allen Wassern gewascherner Anwalt, der trotz seiner Klugheit seiner Intuition folgt und sich so täuschen läßt. Vorzüglich ist auch Tyrone Power, er lange Zeit ehrlich, sympathisch und verzweifelt wirkt, um sich als schließlich als brutal, eiskalt und berechnend herauszustellen. Und dann ist da noch Marlene Dietrich: ihre Rolle ist das vielleicht beste Beispiel dafür, wie Wilder es immer wieder verstanden hat, das Image seiner Stars auszunutzen und es anschließend zu demontieren. Wenn sie erstmals in Erscheinung tritt, scheint sie kalt und unnahbar zu sein, eine femme fatale, aber auch eine unerreichbare Leinwandgöttin. Am Ende stellt sich heraus, daß diese Christine Vole (oder richtiger: Christine Helm) nicht nur eine bedingungslos liebende, zur Selbstaufopferung bereite Frau ist, sondern obendrein noch die Betrogene, die zutiefst verletzt den Mann tötet, den sie gerade erst vor dem Galgen gerettet hat. Wilder hat, wie bereits erwähnt, auch in anderen Filmen Figuren geschaffen, die zunächst dem Image der Stars, von denen sie gespielt werden, zu entsprechen scheinen, um dann auf spannungsreiche Weise andere Facetten sichtbar zu machen, doch in Zeugin der Anklage ist dieses Spiel mit Starmythos und Charakterrolle vielleicht am besten gelungen.
Auch sonst ist alles an dem Film stimmig: er ist temporeich, hat hübsche Einfälle (wie die "Probe" mit dem Monokel) und vorzügliche Dialoge zu bieten, und wenn Sir Wilfrid sich mit seiner Krankenschwester streitet, ergeben sich daraus immer wieder ausgesprochen komische Szenen - Billy Wilder war eben auch einer der besten Komödienregisseure. So tragen das gute Drehbuch, die souveräne Inszenierung und die grandiose Schauspielerriege gleichermaßen dazu bei, dieses spannungsreiche Drama um Schein und Sein zu einem der besten Gerichtsfilme zu machen, den man sich auch immer wieder mit Genuß ansehen kann.

(Zuerst veröffentlicht auf kino.de im Jahr 2009)

kino.de





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