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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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OUT OF THE FURNACE (Scott Cooper/USA 2013)


"I got a problem with everybody."

Out Of The Furnace (Auge um Auge) ~ USA 2013
Directed By: Scott Cooper

Als der rechtschaffene Stahlarbeiter Russell Blaze (Christian Bale) eines Abends leicht alkoholisiert in einen schweren Unfall verwickelt wird, hat dies schlimme Folgen für ihn: Er kommt wegen fahrlässiger Tötung ins Gefängnis. Während seines Knastaufenthalts trennt sich seine geliebte Freundin Lina (Zoe Saldana) von ihm und kommt mit dem örtlichen Sheriff (Forest Whitaker) zusammen, sein Vater (Bingo O'Malley) stirbt und sein jüngerer Bruder Rodney (Casey Affleck), traumatisierter Irakkriegsveteran, lässt sich hochverschuldet auf illegale Bareknuckle-Fights ein. Rodney gerät dabei an den miesen Hillbilly DeGroat (Woody Harrelson) gerät, was seinen Tod bedeutet. Da sich die Polizei in dieser Situation als unfähig erweist, entschließt sich Russell, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen.

Nach "Crazy Heart" eine weitere, stargespickte Ur-Americana von Scott Cooper um eine nicht minder "landestypische" Fallgeschichte. Dem ungeschriebenen, folkloristischen Gesetz zufolge, dass Country-Musik und legaler Waffenbesitz die Nation zu dem machen, was sie ist, muss es nunmehr also um die Waffe gehen. Um ein Präzisions-Jagdgewehr, um präziser zu sein.
Russell Blaze ist ein Mann, dem das Schicksal übel mitspielt. Einer, der stets das Richtige will und den dann die Ungerechtigkeit ereilt. Seine Strafe für den Unfall nimmt er, wenngleich im Grunde teilschuldig, bereitwillig in Kauf und sitzt sie ab. Er kämpft um seine Ex-Freundin, sieht jedoch ein, dass es keine Chance mehr für sie als Paar gibt. Er weint am Grab des toten Vaters, den er beim Sterben nicht begleiten konnte. Der baldigen Schließung seiner Arbeitsstätte sieht er mehr oder weniger gelassen entgegen. Seinem kriegsgeschädigten Bruder hört er zu und versucht, ihm Vernunft einzubläuen. Russell ist einsam, negiert jedoch tapfer Stillstand und Depression.
Angesichts all dieser auferlegten Bürden kann er angesichts der noch folgenden Ermordung Rodneys nicht anders, als ein einziges Mal zu reagieren, nicht tatenlos da zu stehen und zuzusehen, wie das Leben an ihm vorbeimäandert, ohne ihn aufs Boot zu lassen. Russells Selbstjustiz ist gezielt durchdacht, durchplant, moralisch abgesichert und sogar kirchlich absolutioniert: Harlan DeGroat, ohnehin nichts als wandelnder Menschenmüll, hat angesichts seiner Taten sein weiteres Recht auf unbehelligtes Weitermachen mit dem, was er so tut und wovon garantiert gar nichts menschenwürdig ist, verwirkt. Sheriff Barnes als letzte verbleibende, irdische Instanz hat da keine Schnitte mehr.
"Out Of The Furnace" als Selbstjustiz-Propaganda zu deklarieren, wäre viel zu kurz gedacht. Es geht vielmehr um die Weigerung einer stets im Gleichgewicht befindlichen Persönlichkeit, die ihn umgebenden Schicksalsschläge weiter passiv hinzunehmen. Den anschließenden, möglichen Fall, die gesetzliche Konsequenz, wird er erhobenen Hauptes hinnehmen (wie es für Russell weitergeht, lässt das Ende offen, man sieht ihn in einem letzten kurzen Einspieler ernst blickend und mit geschnittenem Haar an seinem Tisch sitzen - möglicherweise lag dazwischen eine weitere Gefängnisstrafe). Ob Russell das Richtige tut, mag man bestreiten - für sich selbst, daran gibt es keinen Zweifel, tut er das einzig Mögliche.
Einen Film zudem, der sich mit Pearl Jams "Release" eine musikalische Klammer setzt, kann ich am Ende schließlich nur lobpreisen.

8/10

Scott Cooper Rache Pennsylvania Brüder Faustkampf Appalachen Drogen Unfall


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DER PFARRER VON ST. PAULI (Rolf Olsen/BRD 1970)


"Ihr solltet Gott dafür danken, wie jung ihr seid..."

Der Pfarrer von St. Pauli ~ BRD 1970
Directed By: Rolf Olsen

Im Kriege noch U-Boot-KaLeu, hat Konrad Johannsen (Curd Jürgens) gleich danach zum Glauben gefunden und ist seither Pfarrer auf St. Pauli. Huren, Luden und andere Kleinkriminelle besuchen seine Messen und Johannsen ist stolz darauf. Als er sich jedoch in eine Familienkrise rund um den reichen Unternehmer Ostro (Walter Buschhoff) einmischt, dessen Sohn (Klaus Hagen Latwesen) Vater eines unehelichen Kindes wird, ist es mit der Seelsorge auf dem Kiez vorbei. Ostro sorgt über eine grob gesponnene Intrige dafür, dass Johannsen seine Predigten künftig auf einer vornehmlich protestantisch geprägten Nordseeinsel verrichten darf. Seinen guten Leumund muss er sich hier jedoch noch erwerben und auch die Chance, Ostro nachträglich zu überführen, bietet sich...

Noch etwas inbrünstiger als üblich spielt Curd Jürgens zum vorletzten Mal für Rolf Olsen den großen Paulier Patriarchen, ohne dessen umspannenden, moralischen Rückhalt das Hafenviertel tatsächlich längst beim Teufel wäre. Wie gewohnt ist auch Konrad Johannsen ein höchst unkonventioneller Amtsinhaber, der sehr viel standfester auf dem Boden säkularer Tatsachen verkehrt, als es seinen eitlen Oberen lieb ist. So fällt es denen dann auch nicht schwer zu glauben, dass Johannsen abseitige Beziehungen zu einer Prostituierten pflegt. Aber so war das bei Olsen: Wenn hier eines problemlos von Statten ging, dann waren es Einfädelungen und Verläufe gemeiner Ränke. Später soll Johannsen sich dann noch in eine Insulanerin (Barbara Lass) verlieben, die seine Enkeltochter sein könnte - auf Wechselseitigkeit beruhend natürlich - bekommt jedoch im letzten Moment wieder die geistliche Vernunft zu fassen. Und auch der kapitalistische Schweinehund bekommt seine gerechte Strafe - selbst versetzt, auf dass er in die Hölle komme. Auf Pauli kann dann wieder alles seinen gewohnten Gang gehen. Natürlich nur, bis die nächste Schweinerei im Gange ist. Dann schwingt Hochwürden wieder die Fäuste...

7/10

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DAS STUNDENHOTEL VON ST. PAULI (Rolf Olsen/BRD 1970)


"Wenn das 'n doppelter Cognac war, dann nehm' ich noch einen!"

Das Stundenhotel von St. Pauli ~ BRD 1970
Directed By: Rolf Olsen

Eine schlimme Nacht für den schwer übermüdeten Kommissar Canisisius (Curd Jürgens) von der Hamburger Kripo: Erst wird sein Sohn (Manfred Tümmler) bei einer anti-kapitalistischen Demo schwer verletzt und liegt nun unterm Messer; dann geschieht in einem berüchtigten Stundenhotel ein Mord an einem Homosexuellen (Laurence Bien), dessen Aufklärung Canisius' ganze Aufmerksamkeit erfordert. Das Hotel ist zur Tatzeit nämlich reich besucht und der Verdächtigen gibt es nicht eben wenige. Nur gut, dass Canisius mit deutlich mehr Milieu-Empathie vorgeht als sein nervöser Vorgesetzter, Kriminalrat Marschall (Konrad Georg)...

Erfindungsreiches Kolportagekino vom Allerfeinsten mal wieder aus der ewig streitenden Feder des Rolf Olsen, der hiermit bereits sein viertes "St.-Pauli"-Epos vom Stapel ließ und nimmerwüde weiter an der damals unumgänglichen, rauen Hafenromantik des Viertels strickte. Ein besserer Titel wäre "Der Kommissar St. Pauli" gewesen, denn ebenso wie zuvor als "Arzt" und gleich darauf auch noch als "Pfarrer" steht nämlich einmal mehr Curd Jürgens als verständige, aufrechte Moralinstanz mit zugedrücktem uge im Zentrum des Geschehens; ein Mann, dem die ehernen Werte über alles gehen, der jedoch auch weiß, dass er die Jungen trotz tonnenweisem Überschuss an Lebenserfahrung nie zur Vernunft wird bringen können und sich deswegen zähneknirschend mit den Dingen arrangiert. "Vielleicht haben wir Alten wirklich so viel falsch gemacht," konstatiert er in einer frühen Disput-Szene mit dem Sohnemann, "dass ihr ein Recht habt, Kritik zu üben. Aber Aggressivität und berufsmäßiges Rabaukentum, das dulde ich nicht!" Viel besser kann man Olsens ewige, zwanghafte Janusköpfigkeit nicht subsummieren: Erzspießer auf der einen Seite, schmunzelnder Voyeur auf der anderen. Aber eines unterscheidet ihn dann doch noch von Antel, Enz, Hofbauer und Konsorten: Überaus unappetitliche, regelmäßig zugeschaltete Bildergalerien von einer Operation am offenen Herzen hätten auch die nicht gezeigt. Sowas gab's dann doch wieder nur beim Rolf.

7/10

Rolf Olsen Hamburg St. Pauli Kiez Homosexualität Prostitution Sleaze Vater & Sohn


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REQUIEM FOR A DREAM (Darren Aronofsky/USA 2000)


"How come you know more about medicine than a doctor?"

Requiem For A Dream ~ USA 2000
Directed By: Darren Aronofsky

Junkie Harry Goldfarb (Jared Leto) und seine Freundin Marion Silver (Jennifer Connelly) lieben sich. Was sie jedoch noch mehr lieben, ist der nächste Schuss, der nächste Trip. Harrys bestem Kumpel Tyrone (Marlon Wayans) geht es da im Prinzip nicht anders. Harrys verwitwete Mutter Sara (Ellen Burstyn) lebt in ihrer eigenen Seniorenwelt der Einsamkeit, Altersnaivität und des Fernsehens. Als sie einem Werbelockruf bezüglich eines baldigen TV-Auftritts anheim fällt, wittert Sara ihre große Stunde: Es müssen nur ein paar Kilos runter, damit sie wieder in ihr schönes, rotes Kleid passt. Dazu lässt sie sich vom Arzt Appetitzügler und andere Präparate verschreiben, die nichts anderes sind als buntes Amphetamin und Psychopharmaka. Als Sara beginnt, die Dosen zu vertauschen und zu vermischen, verliert sie den Verstand und landet in der Gerontopsychiatrie. Harry, Marion und Tyrone geht es kaum besser: Ganz Brooklyn leidet unter ausbleibendem Heroin-Nachschub. So sehen sich Harry und Tyrone gezwungen, nach Florida zu fahren, um sich dort einzudecken. Doch Harrys linker Arm hat sich entzündet, man sucht sich Hilfe. Der bereits gesuchte Tyrone landet im Gefängnis, Harrys Arm wird amputiert, daheim muss sich Marion für den Stoff prostituieren.

Die zweite Romanadaption nach Hubert Selby Jr., an deren Script er wiederum eifrig mitgefeilt hat. Der diesmal zugrunde liegende erzählte Zeitrahmen beträgt ein Jahr, wobei die Jahreszeiten wie Verfallsstadien zu verstehen sind. Sommer, Herbst, Winter, Frühling und Tod. Noch unbarmherziger und transgressiver als "Last Exit To Brooklyn" geht "Requiem For A Dream" vor, der vier Personen nebst ihrer Suchtanamnese und der Drogenwirkungen in hyperrealistischer Weise skizziert und aufzeigt, welche Untiefen in der Suchtspirale lauern. Ob nun Verstand und Seele zu faulen beginnen oder gleich der physische Körper, ob man sich kriminalisiert oder prostituiert, die Antwort ist immer dieselbe, das endgültige Zerbrechen unausweichlich. Was sowohl "Last Exit To Brooklyn" als auch "Requiem For A Dream" - im besten Sinne - besonders perfid macht, ist der komplette Verzicht auf Erlösung oder auch nur der geringste Hinweis auf Lösungswege. Hier wie dort werden Individuen ihrem teils selbst herbeigeführten, teils milieugeschädigten Schicksal überantwortert und am Ende zerschmettert zurückgelassen. Spezifische Fallstudien, die allerdings von einer solch unbestechlichen Authentizität und vor allem Universalität geprägt sind, dass man sich ihrer intensiven Wirkung nicht entziehen kann. Fast ist "Requiem For A Dream" in dieser Hinsicht ein Horrorfilm, in dem jeder sein persönliches Schreckensbild findet, sei es der sich bewegende Kühlschrank, Saras Elektroschock-Therapie oder Jennifer Connellys Selbstprostitution. Mein Gipfel ist erreicht, als Harry sich einen Schuss in die bereits stark entzündete Wunde setzt. Hier schmelzen selbst meine Pupillen. Am Ende werden all diese Privatkatastrophen - Hoffnungslosigkeit, Amputation, Sedierung - gegeinandermontiert, eine beinahe tödliche Überdosis Schrecknis. Ein Film der Extreme; zugleich Prüfung und Hochgenuss. Vitaler kann Kino kaum sein.

10/10

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LAST EXIT TO BROOKLYN (Uli Edel/D, USA, UK 1989)


"May I take a ride?"

Last Exit To Brooklyn (Letzte Ausfahrt Brooklyn) ~ BRD/USA/UK 1989
Directed By: Uli Edel

Brooklyn, 1952: Während eines langwierigen Fabrikarbeiterstreiks erleben die Menschen eines kleinen Viertels Höhen und Tiefen: Der Familienvater und Gewerkschaftsfunktionär Harry Black (Stephen Lang) beginnt, seine Homosexualität auszuleben und wird dabei mit der emotionalen Kälte und dem Hedonismus der 'Szene' konfrontiert. Als er betrunken und ausgehöhlt bei einem minderjährigen Jungen zudringlich wird, kostet ihn das beinahe das Leben.
Transvestit Georgette (Alexis Arquette) wird von niemandem in der Gegend, einschließlich der eigenen Familie, ernstfenommen, geschweige denn geschätzt und ist unsterblich in den Schläger Vinnie (Peter Dobson) verliebt. Eine alkohol- und drogengeschwängerte Party, bei der auch Harry zu Gast ist, wird ihm zum Verhängnis.
Die Hure Tralala (Jennifer Jason Leigh) lebt davon, zusammen mit der örtlichen Schlägerclique betrunkene Matrosen auszunehmen. Als sie in Manhattan einen kurz vor seiner Abberufung nach Korea stehenden Offizier kennenlernt, erfährt sie eine ihr bislang völlig unbekannte Form von Zuneigung und Schutz.
Für den Arbeiter Joe (Burt Young) bricht eine Welt zusammen, als er erfährt, dass seine Tochter hochschwanger ist - immerhin ist sie unverheiratet. Dem entsprechenden Stecher, Joes Kollegen Tommy (John Costelloe), bleibt nichts anderes übrig als eine überhastete Heirat.

Hubert Selby Jr.s gleichnamiger Roman ist eines der stärksten amerikanischen Prosastücke des verangen Jahrhunderts und in Stil und Wirkmacht bestenfalls mit Burroughs, Thompson oder Kerouac zu vergleichen. Das "Skandalbuch" erschien erstmals 1964 und fokussierte eine zwölf Jahre zuvor stattgefundene, Brooklyner Episode, in der aus einer existenziellen Streik-Unsicherheit heraus ein kleiner Straßenzug überzubrodeln droht vor Gewalt und Angst. Protagonisten sind der ungeoutete Schwule Harry Black, von Stephen Lang brillant interpretiert, dessen Leben eine einzige, große Lüge ist, sowie die ungeliebte Nutte Tralala, die Zärtlichkeit und Aufopferungsbereitschaft bestenfalls vom Hörensagen kennt. Beide erleben sie ihren jeweiligen Super-GAU innerhalb dieser misanthropischen Gemeinde, in der nur überlebt, wer die größte Klappe und das schnellste Messer hat.
Eine Adaption stand 1989 schon länger ins Haus; unter anderem plante Ralph Bakshi bereits eine in den Siebzigern, die dann jedoch gecancelt wurde. Später erwarb Bernd Eichinger die Rechte, dessen Neue Constantin ja bereits damals dafür bekannt war, große, respektive Aufsehen erregende Weltliteratur kinotauglich aufzubereiten; schlag nach unter dem ebenfalls von Edel inszenierten "Christiane F.", "Die unendliche Geschichte" und "Der Name der Rose" sowie natürlich seinem später noch folgenden Ausstoß. So kommt es, dass dieser uramerikanische Film zu großen Teilen in den Münchener Bavaria Studios gedrehtwurde - was ihm glücklicherweise zu keiner Sekunde schadet. Im Gegenteil, die teils eindeutig als Atelierkulisse zu identifizierenden Schauplätze bereichern den Film durch ihre Artifizialität. Wie in "Christiane F." vermag Uli Edel es, eine ebenso berückende wie bedrückende Atmosphäre zu kreieren und Selbys allenthalben erklärtem, grenzenlosen Hass gegen jede Form von körperlicher und psychischer Gewaltanwendung passendes Bildgut zu verleihen. Menschen und Körper werden zerbrochen und am Ende läuft der Kreislauf des Lebens und alles andere dann doch vergleichsweise unbeeindruckt weiter. Der Streik ist vorbei, man hat ausgekatert, ein neuer Montagmorgen in der Fabrik steht an.

9/10

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DALLAS BUYERS CLUB (Jean-Marc Vallée/USA 2013)


"I've been looking for you, lone star."

Dallas Buyers Club ~ USA 2013
Directed By: Jean-Marc Vallée

Es ist 1985 im Herbst, Rock Hudson ist soeben gestorben und Ron Woodrof (Matthew McConaughey), texanischer Rodeoheld, die Coolness in Person, erfährt nach einem Arbeitsunfall, dass er AIDS im Endstadium hat. Ausgerechnet er, der strikt heterosexuelle Macho mit Cowboyhut und Sonnenbrille, soll an der Schwulenseuche leiden und binnen dreißig Tagen sterben? Nachdem seine Freunde sich von ihm abgewandt haben, beginnt Ron, sich ernsthaft mit seiner Situation zu beschäftigen. Das noch im Teststadium befindliche Medikament AZT bringt auf Dauer nicht den gewünschten Effekt, zumal Ron zusätzlich eine Menge Kokain konsumiert. Als er von Dr. Vass (Griffin Dunne), einem in Mexiko praktizierenden Arzt erfährt, der in den USA nicht zugelassene Pharmazeutika an AIDS-Patienten vergibt, deckt er sich dort ein und zieht darüberhinaus in Dallas ein florierendes Geschäft mit lebensverlängernden Medikamenten auf. Sein Partner und bester Freund wird der ebenfalls kranke, transsexuelle Rayon (Jared Leto). Die Geschäfte des so genannten "Dallas Buyers Club" sind dem FDA, die den Medikamentenmarkt staatlich kontrollieren, ein Dorn im Auge: Lediglich AZT soll an ausgewählte Testprobanden abgegeben werden. In der Ärztin Eve Saks (Jennifer Garner) findet Ron jedoch eine weitere Unterstützerin.

Der wahrscheinlich beste und schönste aktuelle Film, den ich bislang in diesem Jahr gesehen habe.
Das wohlfeilste Signal für filmisches Höchstgefallen ist ja häufig, wenn man sich wünscht, dass das gerade betrachtete Werk möglichst nicht enden möge oder sich wahlweise das Bedürfnis einschleicht, es möge noch eine ganze Zeit lang weiter gehen. Wahrscheinlich und ziemlich sicher ist "Dallas Buyers Club" aber auch in der vorliegenden Erzählzeit perfekt. Dieser Ron Woodrof, der Matthew McConaughey fraglos auf der absoluten Höhe seines darstellerischen Könnens zeigt, wächst einem einfach so sehr ans Herz, dass man ihn nicht recht loslassen möchte. Trotz all seiner Fehler ist jener Typ nämlich der Beweis dafür, dass Lernfähigkeit im Extremfall auch unter der härtesten Nussschale verborgen liegt. McConaughey, extrem abgemagert, transportiert eine Authentizität, wie dies vielleicht nur ein echter Texaner vermag: holzköpfig, homophob, misogyn, höchst alkohol- und drogenaffin. Erst seine Krankheit nebst drohendem Tod, der plötzlich anbrechende Countdown, ändern ihn.
Das vielleicht größte Verdienst von Vallées Film liegt in seinem stoischen Verzicht auf Kitsch und Gefühsduseleien. Entgegen aller Befürchtungen ist dies nämlich kein Stück der Marke "tausend Mal gesehen und doch wiedererkannt", sondern ein völlig eigenständiges Werk voller Wahrheit und Aufrichtigkeit, mit einem Höchstmaß an Liebe für seine Figuren und deren mitunter harte Geschicke. Als großes Ja ans (Über-)Leben verzichtet Vallée dankenswerterweise auch auf eine Sterbeszene für Woodrof. Die letzten Sekunden zeigen ihn da, wo sein Herz hängt: im Rodeosattel. Ein Knochengestell als Superheld des Lebens. Erst eine finale Texttafel klärt uns darüber auf, dass der Mann 1992 gestorben ist. Aus den prognostizierten dreißig Tagen sind sieben hart erkämpfte, ausgefüllte Jahre geworden.

10/10

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ZIVOT I SMRT PORNO BANDE (Mladen Djordjevic/SRB 2009)


Zitat entfällt.

Zivot I Smrt Porno Bande (Leben & Tod einer Pornobande) ~ SRB 2009
Directed By: Mladen Djordjevic

Belgrad, 2001: Der sympathische Filmkünstler Marko (Mihajlo Jovanovic) bekommt kein Bein auf die Erde. Seine ambitionierten Vorstöße in den Bereich der Pornographie werden von seinem Produzenten Cane (Srdjan Miletic) als kommerziell untragbar zurückgewiesen. Also versucht er sich mit einigen Freunden aus der drogeninfizierten Undergroundszene an Porno-Cabaret, doch auch dies vergrätzt das Publikum und Cane, dem Marko mittlerweile eine gesalzene Summe Geld schuldet. Als "Pornobande" macht sich die Clique auf in die Provinz, wo man mit sozialkritisch-koitalem Improvisationstheater vor Dörflern und Bauern auftritt, jedoch rasch wiederum aneckt und einen üblen Ruf erwirbt. Alsbald macht Marko die Bekanntschaft des Snuff-Produzenten Franz (n.n.), der ihm willfährige Opfer verschafft, die sich vor der Kamera abschlachten lassen. Die entsprechende Sinnkrise der Gruppe lässt nicht lang auf sich warten, ebensowenig wie Krankheit, Tod und Wahnsinn.

Der damals etwa zeitgleich zu Srdjan Spasojevics "Srpski Film" entstandene, kaum minder skandalös aufgenomme "Zivot I Smrt Porno Bande" schlägt jenen in den meisten Kategorien recht anstandslos. Djordjevics Film ist noch sehr viel eindeutiger als Sozialparabel identifizierbar, trotz seiner teils schwer erträglichen, extrem real anmutenden Bilder von einer großen Zärtlichkeit für seine durchweg zum Sterben verdammten Figuren geprägt und dementsprechend nachhaltig zupackend. Markos Trip durch das serbische Hinterland steht symbolisch für einen Reise in das verfinsterte Herz einer gebrochenen Nation. Man begegnet, in ebendieser Reihenfolge: Missverstandenen, Ausgestoßenen, Kriegstraumatisierten, Strahlenopfern. Das, was die ohnehin vorgeschädigten Freunde an inneren und äußeren Extremen durchmachen müssen, wird, analog zu diesem verkrüppelten Humaninventar, mehr und mehr bizarr; von halluzinogenen Drogentrips über Epiphanien, Suizid und Seuche bis hin zu grün leuchtenden Rindern reicht die Bandbreite ihrer Erlebnisse, man verwandelt sich von ohnehin mental Aussätzigen immer mehr zu einer Art archaischer Gauklertruppe, deren Engagements sich um des schwindenden Selbstrettungsbedürfnis' Willen zunehmend pathologischer ausnehmen. Schuldgefühle, psychischer und physischer Zerfall gewinnen schließlich die vollständige Übermacht; Thanatos übertrumpft Eros - wie Marko es uns gleich zu Beginn ankündigt.
Dabei könnte die Vorarbeit hinreichender gar nicht geleistet worden sein: Der zweite apokalyptische Reiter hat das Land und die Seelen seiner Bewohner längst ausgehöhlt.

9/10

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DISCONNECT (Henry Alex Rubin/USA 2012)


"Everything you do, someone out there can see."

Disconnect ~ USA 2012
Directed By: Henry Alex Rubin

Drei miteinander verknüpfte Geschichten rund um mögliche Internet-Bedrohungen:
Die Sensationsjournalistin Nina Dunham (Andrea Riseborough) stößt auf einen Strip-Chat mit Minderjährigen. Sogleich wittert sie eine profitable Story und macht sich an den jungen Kyle (Max Thieriot) heran, um ein Interview mit ihm zu bekommen. Für Kyle bleibt ihr Kontakt jedoch nicht, wie von Nina zugesichert, folgenlos...
Derek (Alexander Skarsgård) und seine Frau Cindy (Paula Patton) reden seit dem Tod ihres kleines Jungen kaum mehr miteinander. Daher sucht Cindy Trost in einem Betroffenen-Chat. Ihr dortiger Gesprächspartner (Michael Nyqvist) scheint jedoch ein Betrüger zu sein, der sich Zugang zu fremden Rechnern und Bankdaten verschafft, um seine Opfer auszuplündern...
Jason (Colin Ford) und sein Kumpel Frye (Aviad Bernstein), zwei Burschen, die gern fiese Streiche spielen, machen sich einen Jux daraus, mittels eines Fake-Accounts das Vertrauen ihres stillen Mitschüler Ben (Jonah Bobo) zu erschleichen, um ihn dann auf der entsprechenden Community-Seite der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben. Der sensible Ben verkraftet dies jedoch nicht...

Konstruiert und erstellt wie ein typischer, auf mehreren Handlungsebenen angesiedelter und parallel montierter Ensemblefilm, darf man von "Disconnect" letzten Endes keine größeren Überraschungen erwarten. "Grand Canyon", "Short Cuts", "Magnolia", "Crash" und andere melden sich unweigerlich aus den Erinnerungsfalten zurück - diesmal mit warnender Note vor dem großen deus ex machina, dem www nebst all seinen höllenhündischen Begleiterscheinungen.
Ob sich der Titel des Films wie ein wohlmeinend-weiser Ratschlag oder ein paranoider Imparativ lesen soll, mag ein jeder für sich entscheiden; seine mehr oder minder markanten Momente hat auch "Disconnect", und derer sogar einige. Getragen von einer tadellos aufspielenden Besetzung ohne allzu große, verpflichtende Namen kann man sich für die vergleichsweise knappe Laufzeit jedenfalls gut in ihn hineinfallen lassen und seinen hier und da gar bewegenden Weltschmerz-Dramen widmen. Wirkliche Originalität, das müssen sich Rubin und sein Autor Andrew Stern zumindest meinerseits ankreiden lassen, vermag "Disconnect" jedoch nicht zu transportieren.

7/10

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PARIS BLUES (Martin Ritt/USA 1961)


"This romance is doomed."

Paris Blues ~ USA 1961
Directed By: Martin Ritt

Ram Bowen (Paul Newman) und sein Freund Eddie Cook (Sidney Poitier) leben als Jazzmusiker in Paris, wo sie allabendlich in einem kleinen Club spielen. Rams Ambitionen sind damit jedoch nicht erschöpft: Er mochte auch ein erfolgreicher Komponist werden wie seine großen Vorbilder. Als man die US-Touristinnen Lilian (Joanne Woodward) und Connie (Diahann Carroll) kennen lernt, bahnen sich unversehens zwei Romanzen an. Obschon Ram und Eddie von der Energie der Metropole leben und eigentlich nicht fortwollen, lassen sich beide zunächst von ihren Freundinnen überreden, mit in die USA zu kommen und dort mit ihnen zusammen zu leben. Doch nur einer wird am Ende wirklich den Mut aufbringen, zu seinen Plänen zu stehen.

Ein bisschen klischeprägend (und -geprägt) ist Ritts "Paris Blues", der zweite seiner insgesamt sechs Filme mit Paul Newman, ja schon. Spätestens seit "An American In Paris" wusste auch der mittwestliche Durchschnitts-Yankee, dass es in Paris in Europa eine Menge großer, alter Gebäude gibt und mindestens ebenso viele verruchte Spelunken, dass die Leute dort hemmungslos in der Öffentlichkeit herumknutschen, massig Rotwein trinken und rauchen und manche von ihnen gar Härteres konsumieren und dass der dunkelhäutigere Teil der Bevölkerung dort nichtmal halb so schief angeschaut wird wie daheim. Ein Menschenschlag für sich, die Altweltler. Hier hat auch der Jazz sein wahres Zuhause, weshalb auch hier nur ein kreativer Geist wie der Ram Bowens zur Entfaltung gelangen kann. Soviel zur Lebensweisheit von "Paris Blues". Dass dem gegenüber erwartungsgemäß phantastische Musik steht, von Duke Ellington aus dem off und von Satchmo aus dem on, dass Newman und Poitier gewohnt tadellos aufspielen und die Stadtimpressionen schöner kaum sein könnten, macht aus ihm einen sehens- und hörenswerten Film.

8/10

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SLAP SHOT (George Roy Hill/USA 1977)


"I tried to capture the spirit of the thing."

Slap Shot (Schlappschuss) ~ USA 1977
Directed By: George Roy Hill

Die "Charlestown Chiefs", ein Eishockey-Team, repräsentieren wie kaum eine andere Mannschaft das zunehmende Schmuddel-Image ihrer Sportart. Auf dem Feld wird vornehmlich geprügelt und weniger gespielt - exakt das, was die Zuschauer sehen wollen. Als der alternde Trainer und Mitspieler Reggie Dunlop (Paul Newman), dem das Team alles ist, erfährt, dass sie am Saisonende aufgelöst werden soll, unternimmt er alles, um die Chiefs wieder ins Gespräch zu bringen und damit verkaufsattraktiv zu machen.

Der brillante "Slap Shot" gehört in jenes Pantheon großer, bärbeißiger US-Sportfilme der Siebziger, in dem sich auch "The Longest Yard", "Rocky", "The Bad News Bears", "North Dallas Forty" oder der dystopische "Rollerball" tummeln, allesamt ja lakonische Milieustudien, die, mal mehr, mal weniger ernst amerikanische Gewinnerträume wahr werden lassen oder wahlweise karikieren. Auch Hills Film gestattet sich bei aller bitteren Satire ein gutes Ende für die bekloppte Truppe um Reggie Dunlop, allesamt weichgeklopfte, misogyne Proleten, die so ziemlich alles repräsentieren, was dem Semi-Profisport seine schlechte Reputation einfährt: Zwar werden die Chiefs von der fürchterlich hochnäsigen Besitzerin (Kathryn Walker) doch noch verkauft; sämtliche Spieler erhalten jedoch hochdotierte Anschlussverträge. Somit findet auch dieses grandiose Underdog-Drama seinen verdienten Ausgang.

9/10

Kleinstadt George Roy Hill Eishockey Freundschaft Satire





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Funxton

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