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Ornament & Verbrechen Redux

There is no charge for awesomeness. Or beauty.

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I was a fear victim, but I survived it


Donnie Darko

Das Licht geht im Kinosaal aus und es erscheint ein Verleihtitel, prophetisch für den gesamten Film: Pandora. Wie der Büchse jener Unheilbringerin entspringt eine düstere Geschichte der Kinoleinwand. Jedoch hat diese Geschichte im Gegensatz zur Allbeschenkten keine Hoffnung mitgebracht.

And I find it kind of funny
I find it kind of sad.
The dreams in which I’m dying
Are the best I’ve ever had.

Dieser Traum ist die Geschichte des Teenagers Donnie Darko. Alles sollte in bester Ordnung für Donnie sein. Er lebt mit seiner Familie in einem typischen amerikanischen Vorort, in dem Rasensprenger und Baseballspiele den Tagesablauf strukturieren. Er geht auf eine Highschool, in dem der gute Schüler sich nur mit den ortsüblichen Dumpfbacken rumärgern muß.
Nur eins macht dem schlafwandelnden Donnie Sorgen: Er weiß, dass demnächst die Welt untergehen wird. Er weiß sogar, wann genau dies sein wird, auf die Minute genau. Frank sagt es ihm immer wieder. Frank flüstert ihm auch die Idee ein, dass Donnie alles in der Welt erreichen kann, sowohl zerstören als auch aufbauen, einfach kraft seines Willens. Hat Frank gar seine Pfoten im Spiel, dass Gretchen in Donnies Klasse auftaucht? Eine neue Liebe ist schließlich so ziemlich das letzte, was man kurz vor dem Weltuntergang benötigt, aber solche Schicksalsvolten sähen Dir doch ähnlich, nicht wahr Frank. Wie ich habe Dich noch gar nicht vorgestellt? Oh, tatsächlich. Laß Dich mal anschauen. Du siehst gar nicht so schlecht aus für ein etwa menschengroßes Kaninchen mit einem Totenkopfgesicht und trüben Augen...
Regisseur Richard Kelly entfaltet vor uns stilsicher eine Szenerie, die mit alptraumhafter Unlogik den Zuschauer immer tiefer in das Geschehen zieht. So wie die Versuche der handelnden Personen scheitern, Donnies Realität mit Psychologie, Physik oder gesundem Menschenverstand beizukomen, so werden die Deutungsversuche des Zuschauers, der Geschichte mit Vernunft einen Sinn abzuringen, durch die selbstreferentielle Erzählstruktur zerstört.
Echo and the bunnymen, Joy Division oder Tears For Fears sorgen bei dem Zuschauer für eine emotionale Reise rückwärts auf dem Zeitstrahl, wodurch ein hohes Maß an Identifikation mit Donnie entsteht. Diese Annäherung an die Figur des Donnie wird durch die grandiose Verkörperung Jacob Gyllenhaals erleichtert; diabolische Zerstörungswut und depressive Selbstzerfleischung wechseln sich auf seinem Gesicht ab, dass man meinen könnte, Frank hätte tatsächlich einen Platz in seinem Gehirn gefunden. Unterstützt wird er nicht nur von seiner Schwester Maggie, die auch seine Filmschwester Elizabeth gibt, sondern von einer Reihe bekannter Schauspieler, bei denen mir sogar ausnahmsweise Patrick Swayze als der Psychoguru Jim Cunningham zu gefallen wusste. Aber all eure Schauspielkunst wird der Welt nichts nutzen. Schrei, Casey Becker, Frank wird die Welt nicht für Dich erhalten. Und auch Du, John Carter, wirst mit all Deiner ärztlichen Kunst die Welt nicht von ihrem immanenten Wahnsinn heilen können.

I find it hard to tell you
‘cause I find it hard to take.
When people run in circles
It’s a very very
Mad world.

Die Lichter gehen an, ich stolpere hinaus in die eisige Kälte. Fette Männer blenden mich mit ihren Taschenlampen. Um die Ecke biegt ein Hase, dem ein Auge ausgeschossen wurde. Am Himmel braut sich ein Wirbelsturm zusammen.
Ich habe etwas Wichtiges während der letzten zwei Stunden verloren. Oder ich habe erst jetzt bemerkt, dass es mir abhanden gekommen ist. Ich möchte zurück, zurück zu einem Zeitpunkt vor zwei Stunden. Oder zwei, nein besser zwanzig Jahre zurück. Und hoffen, dass meine Entscheidung richtig war.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 25.09.2002

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Warum lief Frau K. Amok?


Scherbentanz

Unsere Kindheitserlebnisse prägen unser weiteres Leben. Als geschönte Erinnerung stellen sie uns das Paradies in Aussicht, sie verteilen Sym- und Antipathien an die Personen unseres Umfeldes und bereiten den Boden, auf dem die Neurosen blühen. Um unerträgliche familiäre Forderungen zu bewältigen, können wir unsere Bedürfnisse unterdrücken und uns dadurch anpassen, uns der Auseinandersetzung mit der Familie stellen oder die Flucht nach vorne antreten und die Kontakte auf das notwendige Minimum beschränken.
Die letzte Variante hat auch Jesko, die von Jürgen Vogel verkörperte Hauptfigur von Scherbentanz, gewählt, indem er sich von seiner zerrütteten bürgerlichen Sippschaft losgesagt hat, um seinen Traum von einem selbstbestimmten Leben als Modedesigner zu verfolgen. Doch da er an Leukämie erkrankt ist, wird auf der Suche nach einem geeigneten Knochenmarkspender seine verstoßene Mutter Käthe (Margit Carstensen) wieder von Vater und Bruder heimgeholt und Jesko unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf den familiären Landsitz gelockt.
Geschickt entfaltet Romanautor Chris Kraus in seiner Erstlingsregie vor uns eine konfliktträchtige Familiengeschichte. Die Verwirrung der Mutter, die uns erst als Monster erscheint, wird durch verschiedene Rückblenden verständlich. Wir erfahren die Ursachen für ihr Scheitern: die emotionale Ausbeutung der Frauen durch die männlichen Familienmitglieder, der Betrug des Ehemannes als anmaßendes Herrschaftsinstrument über seinen Besitzstand "Weib", die politische Verwurzelung des Industriellenclans in ferner und näherer Vergangenheit. Die daraus resultierende pathologische Verstrickung der Familienmitglieder ist stringent durch Charakter und Biographie der Protagonisten motiviert, auch gefielen mir die gesellschaftskritischen Konnotationen. Zwar kann Kraus noch nicht an die stilistische Dichte, die verletzende Scharfzüngigkeit und das Abstraktionsvermögen des Übervaters Fassbinder heranreichen, aber die Potentiale dieses neu aufgetauchten Filmkünstlers lassen für die Zukunft Gutes erwarten.
Der Star des Films ist natürlich Margit Carstensen, locker spielt sie Vogel & Co. an die Wand. Seit ich sie in Die bitteren Tränen der Petra von Kant gesehen habe, bin ich von ihrer Schauspielkunst überzeugt; in Scherbentanz übertrifft sie sich selbst und braucht sich im Grad ihrer Selbstaufgabe nicht hinter Ellen Burstyns Leistung in Requiem for a dream zu verstecken. Wie sie kameravergessen die Milch blubbern lässt, die Blumen niedermetzelt und die anwesenden Familienmitglieder verstörend mit der Vergangenheit konfrontiert, muss man gesehen haben.
Leider merkt man dem Film aber immer wieder an, dass der Regisseur Schriftsteller ist. Die Handlung ist fein konstruiert, aber Kraus ist leider nicht Herr über seine Bilder. Damit meine ich nicht kleine Fehler, die meinen Filmgenuß störten: wenn 200 Gäste angekündigt sind, dann sollte auch für ebenso viele der Tisch gedeckt sein; eine Krankenschwester sollte schon wissen, wo man den Puls im Notfall fühlt; ein Klavier auf der Terrasse sollte auch nicht nach einer Besenkammer klingen.
Nein, die Kamera läuft leider ununterbrochen Amok und schubst den Betrachter fortwährend aus der Geschichte. Da wird gebebt, was die nach oben offene Richterskala hergibt, ständig hat man das Gefühl, es müssten alle in Matrosenuniformen auftreten, weil man sich auf einem Hochseeschiff im Orkan wähnt. Der Bildausschnitt wird ständig unmotiviert von Objekten verstellt und für eine Kamera mit Schärferegler hat das Geld auch nicht gereicht. Für die nächste Arbeit des Regisseurs wünsche ich ihm ein glücklicheres Händchen bei der Wahl der Kamerafrau. Oder sollte dieses visuelle Desaster gar von ihm als Stilmittel intendiert gewesen sein? In diesem Fall würde ich es doch vorziehen, wenn Chris Kraus in Zukunft wieder das macht, was er kann: detailtreue Geschichten erzählen, die einem die eigenen Kindheitserinnerungen erklären.
Andernfalls bin ich auf seinen nächsten Film gespannt.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 10.11.2002

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Hänsel und Gretel verliefen sich in Gewalt?


Baader

Krieg kann nur mit Krieg beantwortet werden.
Mit diesen Worten beendete die Rote Armee Fraktion 1992 ihre Erklärung, in der sie weitere Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat ausschloß, um den noch inhaftierten RAF-Mitgliedern die Chance auf ein Leben jenseits der Knastmauern zu eröffnen. Abgeschlossen wurde damit von ihrer Seite eine mehr als zwanzigjährige Eskalation der Gewalt; Gewalt, der "Terroristen", wie sie von der Staatsmacht bezeichnet wurden, Politiker, Wirtschaftsbosse und Unbeteiligte zum Opfer fielen. Wolfgang Grams, die in der DDR untergetauchten und die noch einsitzenden RAF-Mitglieder zeigen aber, dass der Kampf für die Staatsmacht noch nicht vorbei ist.

Enteignet Springer!
Erst recht nicht vorbei ist die popkulturelle Aufarbeitung des Phänomens RAF. In den letzten Jahren entstanden mit Die Stille nach dem Schuß, Starbucks Holger Meins, Todesspiel, Black Box BRD oder Baader eine ganze Reihe von Filmen, die ihre Sichtweise der Ereignisse dem geneigten Zuschauer nahe bringen wollen. Doch die anschwellende Flut von Artikeln und Filmen muß jeden, dessen Synapsen noch nicht vom gesellschaftlichen Alzheimer befallen sind, stutzig machen.
Frühere Filme wie Deutschland im Herbst oder Stammheim – Der Prozeß waren noch gefährdet, als Unterstützer des "Sympathisantensumpfes", wie die unbotmäßigen Staatsbürger gerne tituliert wurden, diskriminiert zu werden. Diese Gefahr scheint heute gebannt zu sein, weshalb sich all die ach so mutigen Filmemacher auf dieses wichtige Thema stürzen können.

Schafft zwei, drei, viele Vietnam!
Gemeinsam ist den in letzter Zeit entstandenen Filmen ein Hang zur ahistorischen Darstellung, die die geschichtlichen Ereignisse bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und ihrer politischen Brisanz beraubt.
Diese Tendenz verfolgt auch Baader. Christoph Roth stellt uns die RAF als die Ursuppe der heutigen Poplinken vor, die statt politischer Überzeugungen immer einen frischen Spruch auf den Lippen hatten und deren Anhänger nicht denkende Wesen, sondern Groupies der Band "Terrorgruppe" waren. Quasi die ABBA der APO.
Um diesen Effekt zu erreichen, werden dem Zuschauer Fakten und Fiktionen um die Ohren gehauen, bis ihm Erinnern und Denken vergeht. War Ensslins Vater wirklich Pastor? Wurde Baader bei einem Interview befreit? Warum wurde ein Bombenattentat auf eine amerikanische Armeebasis durchgeführt? Haben sich Baader und der BKA-Chef wirklich getroffen? Wurde die RAF in Jordanien ausgebildet? Und warum hat Andreas Baader Superstar nicht im Showdown gegen hundert Polizisten gewonnen?

Wer das Geld hat, hat die Macht...
Die gern in diesem Zusammenhang gestellte Frage, ob man die Geschichte so zeigen dürfe, ist verfehlt. Von mir aus kann man auch die Aktionen der RAF als Invasion blutsaugender Aliens darstellen, wenn es nur einen Sinn macht. Macht es aber bei Baader eben nicht, jedenfalls nicht vordergründig. Der Film klärt nicht über die Mechanismen der Untergrundbewegung auf, die Psychologie der Protagonisten bleibt undurchschaubar, als Komödie funktioniert der Film schon lange nicht und dass man in den siebzigern hässliche Klamotten anhatte, wusste ich schon vorher.
Was also will uns der Film sagen?

...bis es unterm Auto kracht.
Hier hilft ein Blick über den cineastischen Tellerrand. Am besten hat mal wieder Der Spiegel das Entpolitisieren der RAF unter dem Titel "Das Gehirn des Terrors" vorangetrieben. Das Gehirn von Ulrike Meinhof, das übrigens nur deshalb einer Untersuchung zugängig ist, weil sie in Stammheim vermutlich ermordet worden ist, wurde von Pathologen untersucht und siehe da, ihre Aggressivität während ihrer Untergrundzeit ist einem Hirntumor geschuldet. Für die Toten sind die Pathologen, für die Lebenden die Psychiater zuständig. Wer nicht passt, wir passend gemacht. Und sei es erst posthum im Film.
So bleibt als Gutes nur in Erinnerung, dass Christoph Roth mit Baader wenigstens nicht wie Heinrich Breloer versucht, dem Zuschauer eine Dokumentation vorzugaukeln. Im günstigsten Fall hat er damit erreicht, dass eine jüngere Generation sich mit dem Thema RAF intensiver auseinandersetzt.
Im schlimmsten Fall wählt sie dafür die nächsten Innerlichkeitsdramen Ulrike und Gudrun, die, wie zu hören ist, demnächst durch die ideologische Mangel gedreht werden.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 16.11.2002

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Die Wahrheit über den Tod von Gerts Kelly


Happiness is a Warm Gun

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich vor genau zehn Jahren, am 19. Oktober 1992, getan habe. Vermutlich all die Dinge, mit denen man sein Leben füllt: essen, schlafen, saufen, nachdenken. Eines habe ich aber mit Sicherheit nicht getan: Tränen vergossen wie Petra Kellys Großmutter.
Mit "Oma Birie weint jetzt" machte gewohnt souverän die Bildzeitung allen sekundären Analphabeten den Tod von Petra Kelly und Gert Bastian, zwei exponierten Persönlichkeiten aus den Anfangstagen der Grünen, klar. Da es keinen Abschiedsbrief der friedensbewegten Ökofeministin und des ehemaligen Generalmajors der Bundeswehr gab, eröffnete der Selbstmord Raum für vielerlei Spekulationen. Alice Schwarzer faselte was von der für Frauen tödlichen Liebe der Männer, die verschwörungstheoretisch erprobte Bärbel Bohley durfte genauso ihre Konstruktion "Atommafia aus dem Osten" unters Volk bringen wie die These ventiliert wurde, daß sich die beiden wegen Petra Kellys drohender Dialysepflichtigkeit um die Ecke gebracht hatten. Die deutschen Medien hatten das Leben von Kelly und Bastian auf eine Symbolik von der Schönen und das Biest reduziert und interessierten sich auch nach ihrem Tod nicht für die politische Ebene des zweifachen Selbstmordes.
Zumindest in diesem Punkt stimmt der Film des Schweizers Thomas Imbach mit der öffentlichen Wahrnehmung der Ereignisse überein. Er versucht, die Tat als Ergebnis ihrer Beziehung zu verstehen. Zu diesem Zweck hält er das Geschehen in dem Moment an, als Gert Bastian zwar schon seine Geliebte erschossen hat, aber noch nicht sich selbst. Petra Kelly, die Einschußwunde gut sichtbar am Kopf, darf sich wie in einer modernen Vorhölle oder wie in dem Augenblick, in dem das gesamte Leben noch einmal an einem Sterbenden vorbeizieht, der Ereignisse bewußt werden, die zu dem tödlichen Schuß geführt haben. Der Ort der Auseinandersetzung mit dem vergangenen Leben ist vom Regisseur gut gewählt: ein kaltes Flughafengebäude, Symbol für Ankunft und Abschied, für Transition zwischen Leben und Tod. So irren Linda Olsansky als Petra und Herbert Fritsch als Gert durch die unpersönlichen Räume des Flughafens, Toiletten, Sanitätsraum, Flughafenkapelle, auf der Suche nach ihrer Vergangenheit und dem emotionalen Band, das sie verbindet.
Unterbrochen wird ihre aufeinander fixierte Suche von Begegnungen mit anderen Menschen, von denen die beiden aber merkwürdig distanziert bleiben: Raver in einer Technodisko, Oma Birie, Asylbewerber, die der Abschiebung harren. Wenn Petra Kelly den existenziell bedrohten Asylbewerbern ein aufmunterndes "Man muß doch was tun, man muß sich informieren" entgegenhält oder die beiden wie auf der Suche nach Kornkreiszeichen durch ein Sonnenblumenfeld irren, dann gelingt es Happiness is a warm gun in solchen Momenten, den hilflose Aktionismus einer politischen Elite deutlich zu machen, die sich "einer geistig-moralischen Wende der Politik ins herzergreifende Kuschelige" (Gerhard Henschel) verschrieben hat.
Dennoch empfinde ich dieses experimentelle Essay, daß sich wie Christopher Roths Baader dem Trend zur Fiktionalisierung der neueren Vergangenheit anschließt, als nicht sonderlich geglückt. Zu verwirrend ist die Vielfalt der Stilmittel, zu unstruktiert wirkt die Erzählebene, zu wenig positioniert sich der Filmemacher Imbach in seinem Werk. Da genügt es mir nicht, daß er eigene Antworten auf Fragen, die in Fernsehinterviews der achtziger Jahre gestellt wurden, Kelly und Bastian in den Mund legt.
So bleibt der Eindruck eines Filmes zurück, der visuell eine experimentelle Pose einnnimmt, aber inhaltlich sich der vorherrschenden Interpretation des Ereignisses anschließt. Dies aber erklärt zumindest die guten Kritiken, die der Film von Die Welt bis Neues Deutschland erhielt.


Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 19.10.2002

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Etüde der Lüge


The Importance of Being Earnest

Oscar Wilde litt zeit seines Lebens an den gesellschaftlichen Konventionen, die ihm das England des ausgehenden 19. Jahrhunderts auferlegte. Aufgrund seiner lange Zeit unterdrückten Homosexualität hatte er einen geschärften Blick für die inneren Widersprüche des untergehenden Empires. Mit seinen Werken attackierte er sowohl die sexuellen als auch die klassengesellschaftlichen Spielregeln und entlarvte die Doppelbödigkeit der allseits akzeptierten Standards. Sein letztes, erfolgreiches, selbstironisches Theaterstück The Importance of Being Earnest ist nun verfilmt worden und kommt in die deutschen Kinos mit dem Titel Ernst sein ist alles.
Die Story, die Oscar Wilde so wundervoll konstruiert hat, wurde vom Regisseur Oliver Parker nahezu ungebrochen übernommen. Man könnte sie einfach zusammenfassen. Drei Paare suchen sich und finden nach einigen Verwirrungen zueinander. Dies würde aber der Geschichte nicht gerecht werden. Denn der Anlaß der Verwechslungen, die Schaffung einer zweiten Identität für nichtstandesgemäße Vergnügungen oder, wie Wilde es nennt, das Bunburysieren, ist wie ein feiner Stich mit einer Akupunkturnadel in die gesellschaftliche Selbstgefälligkeit – es tut ein bisschen weh und führt im besten Falle zur Heilung. So entfaltet der Film vor den Augen des Zuschauers ein sich ständig änderndes Vexierbild, in dem man den persönlichen Preis für soziale Achtung und die Bedeutung des richtigen Namens für Menschen des 19. Jahrhunderts erkennen kann.
Dies ist aber zugleich das größte Problem des Filmes, denn ich konnte keinen Bezug zur heutigen Realität herstellen. Sicher erfreuten mich die geschliffenen Dialoge, sicher erheiterte mich Lady Bracknells herablassende Unnahbarkeit, die einer ehemaligen Cancantänzerin besonders gut steht. Dennoch war der Film wie der herbeigewehte Klang eines Spinetts und ließ mich merkwürdig unberührt.
Dies findet seine Entsprechung auch auf der visuellen Ebene des Filmes, zu viel wird dem Vorbild Theater gehuldigt, zu wenig werden die Mittel des Kinos ausgenutzt. Eine der wenigen gelungenen Ausnahmen ist die sich wiederholende Replik auf die kitschigsten Ritterromanzen aller Zeiten, mit denen Gwendolens Aussage "Wir leben im Zeitalter der Ideale." bildlich umgesetzt wird. Die meiste Zeit aber bewegen sich die präsentierten Filmfiguren wie Marionetten aus Lackpapier durch aufdringlich gekünstelte Kulissen. Dieser Eindruck ist vermutlich vom Regisseur gewollt und nicht auf das Unvermögen des Schauspielerensembles zurückzuführen, das Oliver Parker versammelt hat. Besonders hervorzuheben ist Judy Dench als Lady Bracknell (sehr gelungen die Anhörung der potentiellen Heiratskandidaten) und Reese Witherspoon als jugendlich-naive Nichte Cecily. Demgegenüber fielen die Männerrollen deutlich ab. Schon aus dem Grunde, weil sie trotz Maske zu viele Falten für den jugendlichen Liebhaber aufwiesen. Besonders Rupert Everett, der Darling der schwulen Community, erschien mir als Befreier der holden Maid reichlich fehlbesetzt. Man könnte sich höchstens mit einer Widerspiegelung von Schauspiel und Wirklichkeit herausreden, denn auch der von Everett verkörperte Algernon bunburysiert in Gefilden, die sich der Zuschauer selbst ausmalen muss.
Oscar Wilde wollte nach eigenem Bekunden einer der wichtigsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts werden,wurde aber einer der wichtigsten Wegbereiter für die Literatur des 20. Jahrhunderts. Nicht die schlechteste Art und Weise, wie man sein Ziel verfehlen kann. Oliver Parker hat sein Ziel, das Kinopublikum zu unterhalten, weitaus schlechter verfehlt.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 14.09.2002

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Amor und Psyche


Wahnsinnig verliebt

Der erste Spielfilm der französischen Regisseurin Laetitia Colombani beginnt in einem Blumenmeer, das für Angélique wie eine Verheißung auf den siebten Himmel wirken muss. Rosaumflort schwebt sie durchs Leben, denn sie ist verliebt. An ihren Angebeteten namens Loic will sie eine Rose als Zeichen der Zuneigung verschicken. Der ihr zugetane Kardiologe ist zwar noch verheiratet, will sich aber von seiner Ehefrau trennen. Das ewige Glück ist so nah.
Doch schon bald scheint Angélique das Schicksal so vieler Geliebter zu teilen. Die Ehefrau erwartet ein Kind und so besinnt sich der Arzt wohl auf das Glück zurück, das im fruchtbaren Schoße der Familie liegt. Selbst zu der geplanten gemeinsamen Reise erscheint Loic nicht und lässt Angélique allein auf dem Flughafen sitzen. Unglücklich verharrt sie in depressiver Untätigkeit; das ihr anvertraute Haus verfällt in gleichem Maße, wie Angélique das Leben entgleitet. Und als Angélique trotz all der zugefügten Schmach Loic wegen eines Mordverdachtes zu Hilfe eilen will, muß sie mit ansehen, dass seine Ehefrau noch mehr ist als nur seine Verteidigerin. Angéliques Welt bricht nun endgültig zusammen und sie beschließt in ihrer Not, sich das Leben zu nehmen.

*Spoiler an*

Jedoch erweist sich das bisher Gezeigte als Teilwahrheit, nämlich Angéliques Wahrheit. Was sich im ersten Teil des Filmes durch zunehmenden Einbruch kalten Blaus in den rosaroten Himmel angekündigt hat, wird nun Gewissheit. Der Arzt weiß gar nichts von Angéliques Absichten. All die Botschaften, die sie ihm geschickt hat, waren viel zu vage, als dass er auch nur wüsste, wer ihn anhimmelt. Und so stellen Angéliques unbeholfene Versuche, sich ihm zu nähern, nur eine Bedrohung seines Glücks dar. Da die Zukunftsvorstellungen der beiden Hauptfiguren sich unversöhnlich gegenüberstehen, deutet alles auf eine gewaltsame Lösung des Konfliktes hin.

Colombanis Film untersucht exemplarisch das Verhältnis von Verstand und Gefühl. Dazu bedient sie sich einer Symbolik, bei der das Herz die Emotionalität repräsentiert. Dieses auch in der Alltagskultur verwendete Symbol hat sich trotz allen Wissenszuwachses in der Neuzeit herübergerettet aus den naturphilosophischen Schulen der griechischen Antike. (Die antiken Philosophen klassifizierten erstmalig die seelischen Zustände und verknüpften diese mit spezifischen Organfunktionen.) Obwohl mir die Symbolik sehr angemessen für das Thema des Filmes erscheint, erweist sich die Ausführung als mangelhaft. Zwar findet die Regisseurin schöne Bilder für die emotionale Seite. Das Gespräch des Kardiologen(!) mit seinen PatientInnen ist sehr aufschlussreich, die Kamera beäugt die historisch-anatomischen Tafeln in der Arztpraxis und das Symbol des getroffenen Herzens hat zu anschwellender Geräuschkulisse im Kino geführt. Aber Colombani hält sich mit ähnlich gelungenen Einstellungen für die Rationalität des Menschen zurück; diese Seite wirkt auf der visuellen Ebene unterbelichtet.

Worüber ich lange nachdenken musste, ist das Verhältnis von Angélique zu ihrem Vater. Obwohl er in dem ganzen Film nicht zu sehen ist, hat er natürlich Einfluss auf ihre Persönlichkeitsentwicklung genommen. Er war Künstler und hat vermutlich in ihr den Wunsch geweckt hat, ebenfalls Künstlerin zu werden. Viel wichtiger ist aber wohl seine Prägung ihrer Möglichkeiten, sich anderen Menschen zu nähern. Wenn man bedenkt, wann sie damit angefangen hat, sich artifizielle Weggefährten zu basteln, und dann noch an die Rolle des Vaters in Freuds Buch "Totem und Tabu" denkt, hat sie sicher in der Kindheit von ihrem Vater den seelischen Knacks verpasst bekommen, der nun ihre Seele spaltet.

Die Filmästhetik ist für ein Erstlingswerk beachtlich und ich vermute, dass man von der Regisseurin noch einige gute Filme erwarten darf. Sehr schön gestaltet ist das Gegenüberstellen des Schicksals von Angélique und Loic am Ende des Filmes, sein Fortschritt ist ihr Niedergang. Auch gefiel mir die Einstellung mit dem reißenden Fluß, in den sie ihren Koffer wirft. Dennoch gibt es einige Schwächen, die nicht unerwähnt bleiben sollen. Das Zurückspulen der Zeit hätte ich mir weniger einheitsbreiig gewünscht und die im ersten Teil des Filmes gelegten Fährten sind einfach zu explizit. Deshalb sieht man im mittleren Teil Sachen, die man sich eh schon gedacht hat, wodurch der Filmfluß etwas zäh ist. Hier merkt man, dass das Filmkonzept, Rashomon mit Fight Club zu mischen, nicht ganz aufgeht.

Dennoch bleibt À la folie...pas du tout ein reizvoller Versuch, das Wesen der Liebe zu erforschen. Liebe ist auch als Psychose begreifbar. Aber wer möchte schon mit dieser Realität leben.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 9.9.2002

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Paris, Afrika


Verrückt nach Paris

Wenn man sich über das momentane Elend des deutschen Filmes informieren will, hat man es nicht besonders schwer. Ein Abend mit dem Programm der Werbeabspielstationen namens RTL, SAT1 oder Pro7 genügt meistens vollkommen. Man kann allerdings auch im Kino seine Zeit verplempern und sich zum Beispiel Verrückt nach Paris anschauen.
Dabei werden zu Beginn in einem sehr angenehmen quasidokumentarischen Stil Hilde, Karl und Philip vorgestellt, die in einem Behindertenwohnheim leben und in einer daran angeschlossenen Werkstatt Holzenten basteln. Doch liegen Liebeskummer, Streß mit dem Betreuer und Ärger mit anderen Mitbewohnern auf der Lauer. Und so nutzen die drei eine verpasste Gruppenreise als Chance, um nach Afrika auszubüchsen. Immerhin kommen sie bis Paris, wo sie ihr Betreuer einholt.
Dieser Film hätte ein charmantes Roadmovie werden können, ist jedoch eine einzige Pein. Weil es ja um eine gute Sache geht, kann man ruhig gleich alle Probleme der Welt mit reinpacken. Es findet keine Wichtung der Themen statt, Liebeskummer und strukturelle Probleme der Behindertenbetreuung werden in einem Atemzug abgehandelt. Die Dramaturgie ist holzschnittartig; die Konflikte werden nicht aufgebaut, sondern en passsant zwischen zwei Szenen gelöst. Die Leute sind, bis auf ein paar randalierende Jugendliche, alle so unglaublich nett zu den Behinderten, als ob man eine komprimierte Jahresstaffel der Lindenstraße sehen würde. Die Schauspieler (wobei mir Paula Kleine als Hilde und Frank Götsch als Karl noch positiv aufgefallen sind) stehen ständig etwas unmotiviert in der Gegend rum und man hört förmlich die Regisseure "Und Action!" rufen. Das alles wird auf der Tonspur vom Kammerorchester Bremen zugekleistert, wobei man die Wahl zwischen süßlichem Musikbrei, was eine positive Entwicklung anzeigen soll, und Streichergequieke hat, das etwas Erschröckliches ankündigt.
Was aber wirklich abnervt, ist die Tatsache, dass der Film zwar vorgibt, sich den Behinderten in guter Absicht zu nähern, aber sie häufig genug trotz alledem vorführt. Hilde ist clever genug, für Paris drei Schlafplätze zu organisieren, den Unterschied zwischen einem Pariser Hinterhof und Afrika kann sie aber nicht erkennen? Müssen behinderte Schauspieler für das Theaterstück, das in dem Heim aufgeführt wird, auf so dümmlich geschminkt sein, um glaubhaft ein Märchen darstellen zu können? Den Gipfel der Unmöglichkeit finde ich allerdings den Titel des Films. Für einen billigen Wortwitz wird den Behinderten eine Psychose angehängt, was durch nichts im weiteren Verlauf des Filmes gerechtfertigt ist.
Behindert ist man nicht, behindert wird man. Manchmal eben auch durch ein Zuviel des guten Willens. Rainer Werner, ich wünschte, ich könnte an Reinkarnation glauben!

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 9.9.2002

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Stan und Oli, revisited


Four rooms

Ein Hotelpage erlebt durch seinen Beruf allerhand skurrile Geschichten mit den Gästen, muß aber aus Gründen der Diskretion möglichst wenig darüber in die Öffentlichkeit tragen, besonders wenn es sich um ein Hotel handelt, in dem viele Schauspieler und andere Künstler absteigen. Steht allerdings seine Pensionierung ins Haus und der frische Hotelpage muß auf die kommenden Aufgaben vorbereitet werden, dann ist es schon mal erlaubt, ihm mehr als nur die abgeranzte Mütze zukommen zu lassen. Und so beginnt das Martyrium des neuen Pagen (Tim Roth) ganz unspektakulär mit einem Verweis auf jene Zeiten, in denen Filmstars noch die fehlende Stimme durch wildes Gesichtszucken wettmachen mussten.

Für jeden Gast muß der Page präsent sein und ist somit prädestiniert, das verbindende Element für vier aufeinanderfolgende Geschichten zu sein, die in vier Hotelzimmern während einer Silvesternacht spielen. In der Hochzeitssuite wollen moderne Hexen ihre angebetete Göttin Diana vom Tod zum Leben befördern. In einem anderen Raum geben sich zwei Eheleute einen ritualisierten Treueschwur ab, für den sie allerdings die Hilfe einer dritten Person benötigen. Ein weiteres Zimmer wird von einem Macho und seinem familiären Anhang bewohnt; um Silvester mit seiner Frau feiern zu können, muß aber ein Babysitter für die zwei kleinen Bälger organisiert werden. Und im Penthouse wohnt ein hipper und erfolgreicher Jungregisseur, der mit seinen Kumpanen nach reichlichem Gelage (für die Gesundheitsapostel unter uns: es ist Silvester und außerdem ist das Leben an sich Grund genug zum Saufen) eine Filmwette mit möglicherweise fatalem Ausgang nachstellt.

Ohne Zweifel war es eine gute Idee die unterschiedlichen Geschichten von verschiedenen Regisseur inszenieren zu lassen. Dies wird besonders nach dem ersten Teil deutlich. Er wurde von Allison Anders inszeniert, der den schwächsten Teil des Quartetts zustande gebracht hat und sich neuerdings mit der Serie Sex and the city auch nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert hat. Die Hexen sollen wohl Frauenarchetypen darstellen (oh nein, ich werde nicht noch mal den Streit zu 8 Frauen reaktivieren), wirken aber bei all den Klischees doch etwas fade und uninteressant. Besser gefiel da schon die Episode von Alexandre Rockwell, der mit „In the soup“ schon einen gelungenen Independentfilm über die Schwierigkeiten des Künstlerdaseins abgeliefert hatte. Geschickt baut er die neurotische Beziehung der Eheleute auf und die missglückte Flucht des Pagen ist wirklich ein Höhepunkt des Films. Absolut perfekt inszenierte Robert Rodriguez seinen Teil. Alle Elemente seiner Geschichte werden motiviert eingeführt und dann zu so einem herrlich überdrehten Ende arrangiert, dass der Latinomacker Antonio Banderas buchstäblich seine Frau fallen lässt. Demgegenüber wirkt der Teil von Quentin Tarantino zäh und langatmig, die Geschichte kommt wegen des vielen Gelabers nicht so richtig in Gang. Sie wirkt wie ein schlecht erzählter Witz, den man eigentlich lustig findet, aber über den man aufgrund der Erzählweise dann doch nicht so richtig lachen kann.

Und das, obwohl Tim Roth auch in Tarantinos Episode eine clowneske Darstellung des Hotelpagen abliefert. Da er in allen Episoden eine tragende Rolle spielt, liegt die darstellerische Hauptlast auf seinen Schultern. Er ist der Verantwortung absolut gewachsen und gibt so einen zappligen, quirligen, hysterisch überdrehten Charakter ab, wie ich ihn noch nicht von Tim Roth gesehen habe. Eher hätte man so eine Darstellung von Jim Carrey erwartet. Allerdings wird Tim Roth auch von einem hochkarätigen Ensemble unterstützt. Allen voran Antonio Banderas als Obermacho, der sich den Beginn des neuen Jahres irgendwie erfolgreicher vorgestellt hatte. Bruce Willis spielt wieder mit Quentin Tarantino zusammen, wird aber leider nicht so schön gegen sein Klischee wie in Pulp fiction gehetzt. Und Salma Hayek überzeugt sowieso in nahezu jedem Film, erst recht in dieser schwungvollen Rolle, bekleidet mit einem Tigerfell.

Rosarot wie ein Panther schleicht sich der Zeichentrickvorspann an und gibt einen kleinen Vorgeschmack auf den kommenden Spaß. Dennoch ist das Stichwort, worum es in diesem Film geht, schon vorher in dem Gespräch zwischen dem alten und neuen Hotelpagen gefallen: Stummfilm.
Die einzelnen Episoden werden mit Schrifttafeln angekündigt, wie man sie als Dialogtafeln aus der Stummfilmära kennt. Konsequenterweise gestikulieren und grimassieren die Figuren sich so wild und überspannt durch den Film, dass man denken könnte, die Tonspur müsste noch erfunden werden. Die Personen werden in die absurdesten Situationen gebracht, die durch herben Humor aufgelöst werden. Wie bei den Vorbildern Charlie Chaplin oder Stan Laurel und Oliver Hardy wird das Witzpotential häufig aus dem auf lustig gewendeten Elend des Pagen gezogen. Insofern ist das von Tarantino konzipierte Ende eigentlich eine schöne Idee. Der Page wird für die Schmach seines Dienstbotendaseins belohnt und auf der filmischen Ebene wird die Idee des vertonten Stummfilmes erst lange verleugnet, um dann innerhalb der letzten Minute und während des Abspanns die Auflösung in einer extrem komprimierten Slapstickeinlage zu erfahren. Aber leider wirkt es nicht so gut, wie es sich anhört, der Spannungsbogen dieser Kopfgeburt stimmt einfach nicht. Nicht in dieser Episode, nicht in dem ganzen Film.

Zuerst veröffentlicht am 1.9.2002 auf kino.de

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Die Ökonomie der Körper


Hable con ella

"Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?"*

Es ist 1920. Der Jurist Binding und der Psychiater Hoche stellen diese Frage und wer solche Fragen stellt, will seine Antworten unters Volk bringen. Ihre Antwort lautet ja, denn die "Blödsinnigen" und "geistig Toten", wie sie sie nennen, würden eine wirtschaftliche und moralische Belastung des Volkskörpers darstellen.
Hoche und Binding gaben mit ihrem Buch den geistigen Hintergrund ab für die Vernichtungsaktion T4. Zum Opfer fielen diesem Töten mehr als 200 000 geistig Kranke und Behinderte, in der Nomenklatur der Täter auch "leere Menschenhülsen" genannt.

Es ist 2002. Zwei Männer, der Journalist Marco und der Krankenpfleger Benigno, kommen aus dem Krankenhaus, in welchem die Tänzerin Alicia im Koma liegt. Benigno eröffnet Marco, daß er Alicia heiraten möchte. Marco, dessen Freundin Lucia ebenfalls im Koma liegt, entgegnet voller Wut: „Man redet doch auch mit Pflanzen, aber deshalb heiratet man doch keine.“
Eine Szene aus dem Film Hable con ella - Sprich mit ihr, komponiert von Pedro Almodovar, der sich in letzter Zeit angenehm vom Stil seiner Filme am Rande des Nervenzusammenbruchs entfernt hat. Mit seinem neuesten, intellektuell und emotional stimmigen Werk entgegnet Almodovar mit achtzigjährigem Abstand den von Binding und Hoche veröffentlichten Behauptungen.

"Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben."

Die Vermutung, ob komatöse Patienten einen Lebenswillen haben, kann man weder bejahen noch verneinen. Durch die Konstruktion der Geschichten um Alicia und Lucia legt Almodovar nahe, daß auch Menschen mit nichterkennbarer rationaler Äußerung einen Willen zu leben haben. Lucia, mit der Marco nicht sprechen, ja sie noch nicht mal anfassen kann, stirbt im Laufe der Handlung, während Alicia, der Benigno alle seine Erlebnisse berichtet und ihr ein Bild mit einer Widmung von Pina Bausch zeigt, am Ende aus dem Koma erwacht. Sicher ist sich natürlich auch Almodovar nicht, es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem mitmenschlichen Kontakt und dem Verlauf des Komas, dennoch schlägt sich Almodovar im Zweifelsfalle auf die humanistische Position.

"Ihr Leben ist absolut zwecklos,... ."

Diese Behauptung entspringt einer ökonomischen Rationalität, die den Menschen nur als Erzeuger eines wirtschaftlichen Gewinnes wahrnimmt und nicht gewinnbringende Menschen als Unkosten betrachtet. Der Volksmund hat diese Logik in dem Spruch „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ verarbeitet Almodovar betont dagegen die Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen, der er ein größeres Gewicht als dem ökonomischen Aspekt verleiht. Benigno lebt nach dem Tod der Mutter allein und einsam. Das Koma von Alicia verändert sein Leben. Er geht in Tanzaufführungen, um Alicia danach darüber zu berichten. Er hat einen geliebten Menschen, dem er seine Wünsche und Sorgen berichten kann. Vielleicht hat er sogar das einzige Mal in seinem Leben Sex. Obwohl man das nicht so genau weiß, weil diese Szene eine grandiose Allegorie ist, in der ein Stummfilm und eine Lavalampe mehr Sexualität transportieren als aller Fleischsport der Pornoindustrie zusammen. Auf jeden Fall erfährt Benigno eine unglaubliche Bereicherung in seinem Leben durch die Pflege von Alicia.

"Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke,... ."

Um Bereitschaft zum Töten zu erreichen, muß man die realen Personen entmenschlichen. Häufig werden Vergleiche mit Pflanzen oder Tieren gezogen, der Körper wird als unbewußter Zellhaufen dargestellt. So begegnet uns auch Alicia in ihrer ersten Szene, als Benigno ihr von seinem Besuch in Pina Bauschs Tanzstück „Cafe Müller“ berichtet. Doch Almodovar zeigt die Vergangenheit der komatösen Frauen und, in Alicias Fall, die Zukunft. Er hebt dadurch die Abstraktion der bewußtlosen Körper auf, die ungeachtet ihres jetzigen Zustandes Menschen waren mit Angehörigen, Freunden, Bekannten. Und in deren Leben reißt der Tod sehr wohl eine Lücke.

Es ist 2002. Marco zieht am Ende des Filmes in Benignos Wohnung, lernt Alicia kennen und nimmt so den Platz des toten Benigno ein. Ein Hoffnungsschimmer, daß sich seine Meinung über die „human vegetables“ geändert hat. Ein Hoffnungsschimmer in Zeiten der zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens und des weltweiten Vorstoßes der Befürworter aktiver Sterbehilfe.

P.S.: Einziger Schwachpunkt des Filmes ist das bisweilen fehlende Vertrauen in die Fähigkeit des Zuschauers, der nichtlinearen Handlung folgen zu können. So werden Personen und Zeitabfolgen durch Untertitel überdeterminiert, was den Filmfluß etwas behindert hat.

*die kursiven Stellen sind der Schrift von Binding und Hoche„Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ entnommen

Zuerst gepostet auf kino.de am 17.8.2002


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Die heilige Johanna der Einkaufszentren


Hundstage

Wie viele Namen kennt die Menschheit für den Teufel? Man nennt ihn Luzifer, Beelzebub und Fürst der Finsternis. Nun hat der Leibhaftige sich in seiner modernsten Verkleidung gezeigt, sein diabolischer Name: Ulrich Seidl.
Jahrelang hat er in Österreich, als normaler Mensch getarnt, darüber gegrübelt, wie man wohl die menschlichen Seelen am effektivsten quälen kann. Krieg? Wird schon allerorten mit modernster Technik geführt. Pest? Wird schon in den Biowaffenlaboren der Militärs hergestellt. Hungersnot? Wird schon im Trikont durch das Wirtschaftssystem verursacht. Da schoss es ihm durch den gehörnten Kopf: Die Menschen erledigen bereits alle meine Aufgaben. Ah, dachte er, wenn ich ihnen zeige, wie furchtbar sie sich verhalten, dann werden sie innehalten in ihrem Tun und ich werde wieder als Herrscher des Schreckens meinen Thron besteigen können. Und so drehte er einen Dokumentarfilm, denn dieser konstruierten Echtheit glauben die meisten Menschen. Doch sein Film Der Ball über die Fröhlichkeitsrituale des Bürgertums zeigte nur eine Wirkung - Seidl wurde aus der Filmakademie ausgeschlossen. Da er aber aus dem Lande Bernhards und Jelineks kommend die Sturheit seiner Umwelt kannte, folgten weitere Filme wie Tierische Liebe, in dem die Porträtierten ihre Einsamkeit hinter seltsamen Ritualen zu verbergen suchten.
Aber auch das alles veränderte die Menschen nicht. Vielleicht, dachte sich der Teufel, erreiche ich nicht genug Menschen mit meinen Filmen. Er hatte von einem Ort namens Hollywood gehört, der mit seinen Fiktionen Millionen Menschen gerührt haben sollte. Und so kombinierte der Teufel die Glaubwürdigkeit des Dokumentarischen mit dem Unterhaltsamen des Erfundenen in seinem Film Hundstage.
Sicherlich ist diese Verknüpfung keine einmalige Leistung; beim letztjährigen Fantasyfilmfestival lief mit Series 7 - The Contenders ein Film über reality shows, der dieses Fernsehformat so perfekt imitierte, daß den Zuschauern der inszenierten Menschenjagd ganz übel wurde. Auch drehte halb Neuseeland durch, als Peter Jacson mit Forgotten Silver eine gefälschte Dokumentation ins Fernsehen brachte, um alle glauben zu machen, in Neuseeland sei der erste Spielfilm in Farbe entstanden.
Aber Satan ist noch gerissener als die anderen Subteufelchen. Er verwirrt die Zuschauer, auf daß sie nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können, indem er professionelle Schauspieler und Laiendarsteller kunstvoll mischte. Und er schickte seine Boten in eine Welt, die angefüllt ist mit qualvoller Hitze und Unfähigkeit. Der Unfähigkeit zu kommunizieren. Der Unfähigkeit, Ängste zu zeigen. Der Unfähigkeit, Lust zu empfinden. Die Ohnmacht darob entlädt sich, angestachelt durch die Glut des Sommers, an den Schwächsten in der Hackordnung. Und wir Zuschauer sind gezwungen, unsere innere in der gezeigten Welt wiederzuerkennen.
Ulrich Seidl muß der Teufel sein. Nur der Teufel selber kann so gut die Hölle in den Seelen der Menschen kennen.

P.S.: Sicher fragen die Christen unter Euch bange, ob denn am Ende wohl Gott über den Teufel siegen wird. Aber sicher, meine Schäfchen, die Top Ten der Werbejingles füllen wie seit Jahrhunderten seine Sprüche.

Zuerst gepostet auf kino.de am 17.08.2002

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