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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0





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JAGTEN (Thomas Vinterberg/DK 2012)



Zitat entfällt.

Jagten (Die Jagd) ~ DK 2012
Directed By: Thomas Vinterberg

Der vormalige Lehrer Lucas (Mads Mikkelsen) arbeitet nunmehr als Erzieher im Kindergarten seines Heimatstädtchens, ist dort bei seinem großen Freundeskreis und auch bei den Kindern überaus beliebt. Seit seiner Scheidung lebt er allein mit seiner Hündin Fanny, mit dem kommenden Aufenthaltsrecht für seinen bei Lucas' geschiedener Frau lebenden Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) und der keimenden Beziehung zu seiner Kollegin Nadja (Alexandra Rapaport) jedoch scheint es bergauf zu gehen. Da kommt es zur Katastrophe: Weil die von ihm wegen einer pädagogisch notwendigen Klarstellung enttäuschte kleine Klara (Annika Wedderkopp), zudem die Tochter von Lucas' bestem Freund Theo (Thomas Bo Larsen), ein unbedachtes Gerücht in die Welt setzt, demzufolge ihr Lucas seinen errigiertes Penis gezeigt und möglicherweise noch mehr Unaussprechliches mit ihr angestellt haben soll, wird Lucas sukzessive zur persona non grata in seinem Heimatort. Bis auf seinen alten Freund Bruun (Lars Ranthe) stellt sich ausnahmslos jeder gegen ihn, eine immer brutaler werdende Hatz auf Lucas' Person entbrennt. Erst Wochen später kommt Theo wieder zur Besinnung und erwägt die Möglichkeit, dass Lucas' Unschuldsbeteuerungen möglicherweise doch wahr sein könnten.

Ein zutiefst involvierender und mitreißender Film, der für in pädagogischen Berufsständen tätige Männer wie mich selbst und im Prinzip auch jede Person, die mit uns primär und/oder sekundär zu tun hat, eine wertvolle perspektivische Ausweitung darstellt.
Üblicherweise, wenn es in Kino und Fernsehen um eine dramaturgische Aufbereitung der Themen 'Pädophilie' und 'sexueller Missbrauch' geht, wird das Ganze in einen kriminalistischen Spannungskontext gesetzt und wahlweise zu einer Rachegeschichte oder, bei etwas komplexerer Diegese, zu einer Pseudokontroverse aufgebläht, ob der oder die Täter denn doch bloß zu kastrieren oder besser gleich zu exekutieren sein sollten. Ist dann doch einmal jemand zu Unschuld verdächtigt worden, steckt dahinter meist eine unglücklich verliebte oder enttäuschte pubertierende Giftgöre, die dem Verzweifelten ans Leder will. Der gedankliche Ansatz jedoch, dass die Schuld für eine diesbezügliche Eskalation nicht beim vermeintlichen Täter und nicht beim vermeintlichen Opfer zu suchen ist, sondern einzig und allein bei einer sich oberflächlich nur allzu bereitwillig liberal gebenden, tatsächlich jedoch leicht beeinfluss- und infizierbaren sozialen Mikrokosmos, im vorliegenden Falle einer Kleinstadtbevölkerung, die in akuter Angst um ihr Wertvollstes zu einem reißenden, reflexionsunfähigem Mob mutiert, offenbart ein relativ unbeackertes Erzählareal. Was "Jagten" auch brillant dastehen lässt, ist Vinterbergs ideologische Neutralität. Klara, die bezüglich Lucas eine gemeine Lüge öffentlich macht, deren Tragweite ihr als vier- oder fünfjähriges Mädchen berhaupt nicht bewusst ist, wird ebenso zum Opfer wie der mutmaßliche Kinderschänder: Die sie befragenden Erwachsenen suggerieren, oktroyieren, indoktrinieren, bis sie aus dem zunehmend verwirrten Kind endlich das herausgekitzelt haben, was sie hören wollen; "Ein alleinstehender Mann als Erzieher, das kam mir immer schon seltsam vor", ist die allgemeine, erste Reaktion darauf. Und so zieht der einmal versenkte Klotz immer größere Kreise, bis Lucas' Ruf nicht nur unrettbar geschädigt ist, sondern seine Privatsphäre aufs Ekelhafteste verletzt wird.
Angesichts dessen, was ihm widerfährt, würde ich im auf mich projizierten Falle niemals so passiv bleiben, doch auch darin liegt eine der Stärken von Vinterbergs wichtigem Werk.
Die Figur des Lucas ist für mich dank meiner eigenen Lebensrealität eine der unmittelbarsten Identifikationsfiguren, die ich jemals im Film vorgefunden habe - umso albtraumhafter das ihm widerfahrende Szenario.

9/10

Thomas Vinterberg Dänemark Lehrer Kindergarten Sexueller Missbrauch Pädophilie



Vollste Zustimmung. Im Grunde ein Horrorfilm. Schade nur, dass du Mads' Leistung unterschlägst. ;)
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Hast du ja jetzt nachgeholt.
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Zitat

bei einer sich oberflächlich nur allzu gern liberal gebenden, tatsächlich jedoch leicht beeinfluss- und infizierbaren Kleinstadtbevölkerung
Warum meinst du, daß solche Hetze nur in einer Kleinstadt möglich ist? siehe die rassistischen Proteste in Berlin (und woanders in Europa)! Nicht weil die Opfer irgendwie verdächtig wären, bloße Hautfarbe sorgt für Hasstiraden und Gewalt in Deutschland. In Reichen-Vierteln werden sowieso keine Flüchtlingsheime eingerichtet, wahrscheinlich sind die Reichen zu liberal ;)

Hast du jemals halbe Punkte vergeben? Ich habe nie gesehen, daß du einen Film mit 9,5 Punkten bewertet hast.
Zum Film: Bis jetzt der beste Film in diesem Jahr.
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Keitel sagte am 25. August 2013, 18:12:

Warum meinst du, daß solche Hetze nur in einer Kleinstadt möglich ist?
Das meine (geschweige denn behaupte) ich natürlich nicht, der Film jedoch zielt inhaltlich just auf dieses Milieu ab. Außerdem gilt angesichts deines Einwandes zu bedenken, dass Dänemark nochmal eine von Deutschland durchaus differierende demographische Struktur aufweist.

Keitel sagte am 25. August 2013, 18:12:

siehe die rassistischen Proteste in Berlin (und woanders in Europa)! Nicht weil die Opfer irgendwie verdächtig wären, bloße Hautfarbe sorgt für Hasstiraden und Gewalt in Deutschland. In Reichen-Vierteln werden sowieso keine Flüchtlingsheime eingerichtet, wahrscheinlich sind die Reichen zu liberal ;)
Hier wiegst du aber Birnen gegen Kartoffeln auf. "Jagten" befasst sich schließlich explizit mit der öffentlichen Reaktion wider aktive Pädophilie und damit mit einem in sozialpsychologischer Hinsicht grundsätzlich anderen Phänomen als Fremdenhass und Rassismus.

Keitel sagte am 25. August 2013, 18:12:

Hast du jemals halbe Punkte vergeben? Ich habe nie gesehen, daß du einen Film mit 9,5 Punkten bewertet hast.
Nein. Warum sollte ich auch? Ich nutze dasselbe Zehn-Punkte-Raster wie die imdb. Wenn mir an Zwischenwertungen gelegen wäre, bemühte ich eben ein Zwanzig- oder Hundert-Punkte-System. Dezimalabstufungen erachte ich für mich als unsinnig und albern.
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