10.09.03:
Sechs Wochen im Leben der Brüder G. (VHS)
Berlin, Wohnhaussiedlung des sozialen Wohnungsbaus, 1974. Die Brüder Rolf (ca. 11 Jahre alt) und Jürgen (ca. 17 jahre alt) leben mehr als sechs Wochen lang mit dem verwesenden Leichnam ihrer Mutter unbehelligt von der sonst recht aufmerksamen Nachbarschaft in einer Wohnung. Rolf, von seinem Bruder oft tagelang allein gelassen mit der toten Mutter, hat Angst. Er hört Geräusche in der Wohnung und glaubt, dass die Mutter, die im Wohnzimmer auf dem Sofa liegt, wie sie von den beiden dort vorgefunden wurde, gar nicht tot ist, gar keinen Suizid begangen hat. Jürgen treibt sich mit seinen Freunden in Berlin herum, stiehlt, nimmt kleine Jobs an, um sich und seinen Bruder druchzubringen. Rolf geht nicht zur Schule, wäscht sich nicht, bettelt in nahe gelegenen Einkaufsläden um Essen und stiehlt Raumduft-Spray, um dem Verwesungsgestank etwas entgegenzusetzen.
Die Brüder wollen so lange wie möglich unbehellig "so weitermachen wie bisher". Niemandem etwas sagen - schon gar nicht der Polizei, denn keiner von beiden will zurück ins Heim. Dort sind sie gewesen als die Mutter vom Jugendamt zu einer Alkohol-Entziehungskur geschickt wurde. Jürgen ist (versehentlich) in einem Heim für kriminelle Jugendliche gelandet, wo er die falschen Kontakte geknüpft hat; Rolf hat sich im Kinderheim in sich selbst zurück gezogen, ist schnell Opfer eines gleichaltrigen Schutzgelderpressers geworden, der ihn schließlich sogar auf den Kinderstrich schicken wollte, um seinen Lohn einzutreiben.
Nach sechs Woche ist das Drama beendet. Der mittlerweile (durch die Bakterien in der Wohnung) schwer erkrankte Jürgen und Rolf werden von der Jugendfürsorge, der Polizei und der Freuerwehr aus der Wohnung geholt. Zwar hat es schon wochenlang im Treppenhaus "süßlich" nach Verwesung gerochen und das Licht im Wohnzimmer (in dem die Leiche der Mutter liegt) ist nie ausgegangen, doch die Nachbarn im Haus haben sich lieber rausgehalten.
Peter Beauvais erzählt die Geschichter der Brüder G. - nach einer Vorlage des Schriftstellers Daniel Christoff - so milieugetreu wie nur möglich. Ohne Wertung und ohne Ästhetisierung bleibt er dicht an seinen Figuren. Keine ausgeklügelten Verfahren, die Rückblenden der Biografien beider Jungs und der Mutter zu inszenieren, kein Soundtrack, kein narrativer Spannungsbogen finden sich im Film. Und dennoch ist "Sechs Wochen im Leben der Brüder G." so nüchtern, so beklemmend und horribel, wie ein Thriller - nein, wie ein Thriller es niemals sein könnte. Denn sein Erzählmodus ist der sozialen Wirklichkeit verpflichtet, die er schonungslos vorführt.
Beauvais und Christoff hatten es sich Anfang der siebziger Jahre zur Aufgabe gemacht, dass, was Haneke über 20 Jahre später als "emotionale Vergletscherung der Gesellschaft" bezeichnen sollte, ins Format des Fernsehspiels zu gießen. Ein Jahr nach den Brüdern G. inszenierten beide mit
Stumme Zeugen ein Fernsehspiel um einen allein erziehenden Vater, der aus Hilflosigkeit und Ohnmacht seine kleine Tochter erstickt, weil diese nicht mehr aufhöhren will zu weinen. Die Nachbarn, die sich schon immer über das Gebrüll des Kindes echauffiert haben, genießen die trügerische Ruhe nun - auch wenn sie ahnen, dass etwas nicht stimmt. Hinterher - bei Befragungen der Polizei - haben sie es jedoch "immer schon gewusst". Der Film entlarvt sie als neugierige Zuschauer und letztlich Mittäter. Auch in "Sechs Wochen" ist der Zuschauer stets hin- und hergerissen zwischen Wut über die Gleichgültigkeit und die Vorurteile der Nachbarn, dem Entsetzen über den Umgang mit den Kindern in den Heimen und schließlich Beklemmung mit der fatalen Situation der beiden Brüder und ihrer toten Mutter. Beauvais hält den Spiegel vor, verdammt dabei jedoch weniger als dass er zu Aufmerksamkeit im doppelten Wortsinne aufruft.
"Sechs Wochen im Leben der Brüder G." steht für ein Hybrid-Genre zwischen journalistisch motiviertem Dokumentarspiel und fiktionaler Sozialtragödie. Wie nur selten sonst findet sich in diesem Hybrid neben dem ästhetischen Anspruch auch die moralische Funktion des Filmemachens, die sie für den Neuen Deutschen Film stets zentral war. Beauvais - der vor allem durch seine werksgetreuen Literaturadaptionen - weniger dem Oberhausener Manifest verschrieben war, lässt sich dennoch widerspruchsfrei zu jener Riege von Filmautoren aus Deutschland zählen, deren Habitus sozial-realistisch ist: Alexander Kluge, (dem frühen) Volker Schloendorff, Rosa von Praunheim oder Hark Bohm.
"Sechs Wochen im Leben der Brüder G." ist ein Zeugnis - nicht nur der siebziger Jahre, sondern vor allem der urbanen Kälte. Fassen lässt sich das, was der Film zeigt nicht. Man kann es nur zur Kenntnis nehmen und dafür danken, dass das Medium Fernsehen hier seine soziale und politische Verantworung erkennt und ausspielt.
maX