

The retina of the mind's eye
#189
Geschrieben 15. Juni 2004, 16:17
#190
Geschrieben 15. Juni 2004, 16:18
Familienromane
Wenn es bei David Cronenberg um das Thema „Familie“ geht, darf man als Zuschauer auf die tiefsten emotionalen Abgründe hoffen. Familie, dass ist in Cronenbergs Universum immer gleichbedeutend mit gewalttätigen Strukturen, Missbrauch, Angst und psychischer Instabilität – also genau das Gegenteil der Familien, die Hollywoods Filmmelodram sonst präsentieren. Cronenbergs Familienfilme sind, trotzdem sie als „Fallgeschichten“ daherkommen, immer „phylogenetisch“ motiviert: Er bebildert in seinen Familienfilmen die im sozialen Konstrukt “Familie“ von je her bestehenden Probleme und Untiefen, verschiebt sie auf die Ebene des Horror, verdichtet sie zu Einzelschicksalen und bringt dies filmisch zur Darstellung.
In „The Brood“ beschreibt Cronenberg eine Mutter, die sui generis Kinder gebiert, die nur für kurze Zeit leben und jeden töten, auf den sich die emotionale Aggression der Mutter richtet. „Scanners“ erzählt die Geschichte zweier ungleicher Brüder, die mit telekinetischen Fähigkeiten ausgestattet sind und als erbitterte Feinde gegeneinander die Selbstvernichtung antreten. Analog handelt „Dead Ringers“ von Gynäkologen-Zwillingsbrüdern, die sich beide in dieselbe Patientin verlieben und sich ihr gegenüber als einer darstellen – was schließlich aller drei Leben zerstört. Mit seinem neuen Film „Spider“ widmet sich Cronenberg nun einem Freud’schen Familienroman reinster Ausprägung: Ein Junge erzählt sich selbst die Geschichte seiner eigenen Herkunft und versucht das Netz aus biografisches Halbwahrheiten aufrecht zu halten um sich dadurch sein eigenes Leid verstehbar zu machen.
Dennis Clegg (von seiner Mutter mit dem Kosenamen „Spider“ belegt) kehrt nach Jahrzehnten in seinen Heimatort zurück. Dort wird er in einem Übergangsheim für ehemalige Insassen einer Psychiatrie untergebracht. Denn Spider leidet unter Schizophrenie. Er eilt ruhelos und sich ständig nach Verfolgern umschauend durch die Straßen, führt Selbstgespräche und ist unfähig Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Er trägt unter seinem Mantel stets vier Oberhemden und als er vermutet, der Gasofen seines Zimmers würde die Luft vergiften, wickelt er sich zusätzlich noch mit Zeitungspapier ein. Wie seinen Augapfel behütet er ein kleines Notizheftchen, in dem er Erinnerungsaufzeichnungen über seine Vergangenheit sammelt. Und um die fehlenden Erinnerungen aufzufrischen und das Notizbuch zu ergänzen – den Familienroman endlich zu einem kohärenten Ende zu bringen – sucht er nun die Stätten seiner Kindheit auf.
Für David Cronenberg ist Film ein Experimentierfeld. Nicht nur bebildert er immer wieder eigene wissenschaftliche und quasi-wissenschaftliche Hypothesen (zum Beispiel hat David Cronenberg mit „Rabid“ 1974, lange bevor der Begriff „Stammzellentherapie“ geprägt war, einen Film über das Verfahren gedreht); Cronenberg setzt die audiovisuellen Möglichkeiten des Films auch selbst experimentell ein. In dieser Hinsicht interessant sind seine Versuche über den Filmraum, zu denen auch Spider gezählt werden kann. Cronenbergs Filme handeln auch immer davon, wie Räume überbrückt werden können: entweder durch die Technik („Videodrome“, „eXistenZ“, „The Fly“) oder durch parapsychologische Fähigkeiten („Dead Zone“, „Scanners“). Das Wesentliche dabei ist, dass Cronenberg disparate Räume einander durchdringen lässt, indem er die Membran dazwischen (oft eine mediale Oberfläche) durchstößt und den Protagonisten selbst zum Medium macht.
In dieser Hinsicht ist auch „Spider“ ein Film über die Überwindung von Raum- und nun auch Zeitgrenzen: Dennis Clegg erinnert sich nicht einfach daran, was er als Junge erlebt hat; nein, er nimmt noch einmal daran Teil, wenn sein Vater seine Mutter betrügt, diese schließlich im Suff erschlägt und mit einer Hure als „Ersatzfrau“ weiterlebt. Dennis steht als Erwachsener Beobachter in den Szenen seiner Kindheit, sieht sich selbst als Kind, spricht die Worte, die er damals gesprochen hat, aus der Erinnerung, wie, um sich zu vergewissern, dass er sich korrekt erinnert. Und dennoch werfen diese scheinbar untrüglichen Bilder Fragen auf: Der erwachsene Spider ist selbst Zeuge solcher Szenen, denen er als Kind gar nicht beigewohnt hat und genau diese Szenen schreibt er in sein Notizheft.
Dass jeder Familienroman, wie die Psychoanalyse ihn beschreibt, ein rein ideelles Konstrukt ist, ein Wunschtraum, der die Kränkung des Ödipusdramas, dessen Zeuge wir zusammen mit Dennis immer wieder werden, verdeutlich Cronenberg schonungslos. Das Lügengebäude Dennis’ bricht mehr und mehr in sich zusammen. Die Szenen seiner Vergangenheit ursupieren seine Gegenwart und der nächste schizophrene Schub verursacht, dass die Menschen seiner Umgebung auf einmal zu den Menschen seiner Vergangenheit werden. Schließlich muss Dennis erkennen, was es mit dem Tod seiner Mutter auf sich hat. Sein Versuch, die Fäden seiner Biografie zu einem perfekten und undurchdringlichen Netz zu knüpfen, scheitert.
Cronenberg erzählt und zeigt diese Geschichte mit unglaublichem Einfühlungsvermögen und – wie man so sagt – psychologischer Tiefe. Diese Tiefe ist jedoch auch einem Projekt filmischer Theoriebildung geschuldet, deren Bestreben es ist, Film selbst als Diskursbeitrag zu formulieren. Auf diese Weise verwebt er die Sujets seiner Filmografie zu einem Projekt über den Menschen, der in der Überschreitung räumlicher und zeitlicher Grenzen die Fragmentierung seiner selbst erleben muss. Gesund und Krank unterscheidet Cronenberg dabei nicht; das sind nur verschiedene Grade auf ein und derselben Skala.
maX
#191
Geschrieben 17. Juni 2004, 05:35
Aus Neu mach Alt
Viel Neues wirft The Ladykillers nicht in die Waagschale. Aber viel Altes. Denn, wenn bei Remakes eines sauer aufstößt, dann ist es der krampfhafte Versuch, den Stoff im Ganzen ganz neu erfinden zu wollen. Das hat Tim Burton mit Planet of the Apes vorgeführt.
In The Ladykillers geht es demgegenüber mehr um die Neuperspektivierung einzelner Motive. Aber der Film will und kann noch mehr: Er inszeniert auch seine Replik an die Filmgeschichte. Er lässt seine 30er-Jahre Südstaaten-Romantik, die standhaft-moralischen Ansichten der alten Lady und nicht zuletzt, den in der Schauerromantik hängengebliebenen, schrulligen Professor auf die Realität des 21. Jahrhunderts prallen. All die gottesfürchtige Gospel-Musik, die rezitierten Poe-Gedichte und selbst die moralischen Skrupel vor dem kaltblütigen Mord wirken wie Anachronismen gegenüber der allgegenwärtigen zynischen Hip-Hop-Kultur, der sexistischen Sprache – ja, und gegenüber dem Sarkasmus, der genau aus dieser Differenz entsteht.
Denn so sehr sich der Professor auch bemühen mag, sein Verbrechern perfekt zu planen und auszuführen (sogar literarische Einfälle aus Poes The Black Cat will er verwenden): Die (Film-)Epoche, in der solch eine Handlung glückt, ist vorbei. Was die Coens aber schon immer ausgezeichnet hat, ist ihr ironsich-verklärter Umgang mit der Nostalgie. Daher gibt es auch hier ein Happy End – quasi als Versöhnung von Original und Remake.
Dass das funktioniert, garantieren vor allem die grandiosen Schauspieler – besonders Tom Hanks. Auch seine Rolle lebt vor allem von reflektierender Rückbesinnung. Ohne seine Karriere im „ernsten Fach“ aus den Augen zu verlieren, knüpft er an seine frühen komödiantischen Filme an. Das Kreuzen dieser beiden Karriere-Stränge ist es, aus dem der Coen-Film reichlich komisches Potenzial zu schöpfen weiß.
maX
#192
Geschrieben 06. Juli 2004, 07:26
„Kidnapping als Gegenstand unternehmerischer Innovation“, untersucht der Wirtschafts- und Kulturwissenschaftler Franz Liebl. Seine These: Das Kidnapping besteht aus zwei gegensätzlichen Komponenten: Einer Angst- und einer Lustkomponente. Die Angstkomponente zeigt sich am deutlichsten ... nämlich darin, dass aus dem Trauma der Entführung im Wortsinne Kapital geschlagen wird. Die Lustkomponente beruht Liebl zufolge vor allem auf dem Faktor des „Micro-Star“-Systems, wonach der Entführte zumindest für eine gewisse Zeit, manchmal aber auch nachhaltig das öffentliche Interesse und die damit verbundene Berühmtheit für sich verbuchen kann.* Was aber, wenn Kidnapping zur Alltäglichkeit wird? Wenn so viele Menschen entführt werden, dass der (prominente) Einzelfall zum statistischen Elemet wird? Wenn das „Marketing-Konzept Kidnapping“ in die Alltäglichkeit diffundiert und der Entführte nur noch einen geringen Anteil an der Kapitalakkumulation des Entführers bedeutet? Dann steht die Entwertung von Leben als solchem und sogar als Kapitalie bevor. Tony Scott bebildert genau diesen Fall in seinem aktuellen Film „Man on Fire“.
Mehr demnächst ... hier nur noch so viel: "Man on Fire" ist sicherlich einer der besten Actionfilme, die ich kenne und dazu eines der fulminantesten Montage-Ereignisse dieses Jahres. Meine dringende Empfehlung für alle, die "optische Filme" mögen!!!
maX
* Es wäre mal zu überlegen, inwieweit das "Stockholm-Syndrom" als psychische Reaktion auf Entführung trotzt seines neurotischen Charakters nicht auch als "Lust-Komponente" gewertet werden müsste.
#194
Geschrieben 30. Juli 2004, 07:41
Ganz toller Gothic-Horrorfilm. Gruselig!!!

Hmm, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich eine Kritik zu dem Film schreiben soll, ohne zu spoilern ... Na, ich versuche es trotzdem mal.
Wird dann hier verlinkt.
maaX
#195
Geschrieben 13. August 2004, 19:32
Der Film ist die reinste Zeitverschwendung - allerdings nicht nur für den Zuschauer, sondern auch für sich selbst. Schon die opening titles werden schier endlos in die Länge gezogen. Dann: ewiges Palaver auf dem Polizeirevier. Dann: unendlich lange schwenks in der Höhle des "Monsters". Und wieder: ewige Dialoge. Endlose Einstellunge etc. Normalerweise ist das kein Kriterium zur Bewertung eines Films für mich, aber hier muss ich wirklich sagen: Ein siebeneinhalb minütiger Kurzfilm hätte dasselbe zeigen und erzählen können.
maX
#196
Geschrieben 13. August 2004, 20:19
Eine Zusammenfassung meines FFF-Besuchs, bei dem ich 26 Filme gesehen habe:
05.08.04
Evil Words: Die Vorher-Nachher-Frage, also, ob zuerst die Verbrechen und dann Roys literarische Beschreibungen oder umgekehrt existierten, die den Psychiater vor allem interessiert, spielt noch mit den Phänomenen konstruktivistischem Wirklichkeitsverständnisses und Übernatürlichem, wird vom Film aber konsequent in dessen zweiter Hälfte denunziert. (mehr)
Memories of Murder: Ich glaube, dass das ein sehr dummer Film ist. Seine Protagonisten charakterisiert er nicht ordentlich und glaubt, der Zuschauer hält es für mysteriös, wenn sein gebeutelter Cop ab und zu mal ambivalent aus der Wäsche guckt. Schöne Beispielszene hierfür ist am Schluss, als er noch mal in die Röhre guckt. Da hätte der Regisseur auch gleich untertiteln können: "Hier nun noch mal eine Szene, die zeigt, wie sinnlos das Leben ist."
Saw: Das Spiel in "Saw" lässt zwar nur ein Spielergebnis zu, aber viele Wege, zu diesem zu gelangen. Entscheidend ist der Tod Adams, der Dr. Gordon und dessen Familie das Leben retten soll. Nicht nur das Drehbuch, auch die Brachialität der Ästhetik steuert ohne Umschweife auf dieses Ziel zu. Das Dilemma wird unausweichlich in dem Maße, wie Informationen von Außen in das Gefängnis gelangen. (mehr)
Mucha Sangre: Der Humor des Films ist völlig humorlos sich selbst gegenüber. Der Witz entsteht einzig und allein aus der angeblichen "Unfassbarkeit der Brutalität" der Helden und Antihelden. Doch das reicht nicht für eine Splatter-Komödie - ja, ist sogar vielmehr der Beleg ihres Scheiterns als reaktionärer und spießiger Film für reaktionäre und spießige Zuschauer. (mehr)
Decoys: Wenn sich im Finale dann das offenbart, was ohnehin schon nach zehn Minuten klar war - nämlich, dass der ewig-verderbliche Charakter des Weibes keine Ausnahmen kennt - dann bleibt einem nur noch, über die unlogischen Kapriolen zu schmunzeln, mit der Kino-Dilett... äh -Debütant Hastings dieses finale Geheimnis 90 Minuten lang zu kaschieren versucht hat. (mehr)
06.08.04
Aro Tolbukhin: In the Mind of a Killer: "Aro Tolbukhin" destruiert die Sehgewohnheiten des Serienmörderfilm-Zuschauers, indem er dessen Erwartungen an das Genre erfüllt, gleichzeitig aber so auffällig "lügt", dass man weiß, dass man es mit einem Fake zu tun hat. Nur der Grund, aus dem "gefaket" wird, bleibt unklar. Alles, was sich über die Jahrzehnte hinweg an Ästhetiken zur Authentisierung im Serienmörder-Genre etabliert hat, denunziert der Film als "Gemachtes". (mehr)
Trespassing: Als Fazit muss leider stehen bleiben, dass dieses äußerst plumpe und uninspirierte Werk in Sachen Plausibilität, Plagiatie und Langweiligkeit wirklich seines Gleichen sucht - oder, wie das Ankündigungsheft des Fantasy Filmfestes schreibt: "[Es] besteht wenig Zweifel, dass wir es mit der Horror-Entdeckung des Jahres zu tun haben." (mehr)
The drowning Ghost: Belangloser Schweden-Slasher mit zwar interessanten Bildern (von Schweden) aber einer höchst uninteressanten Story (vom Slasher). Der Plottwist am Ende erreicht genau das Gegenteil von dem, was er bewirken will. Statt Verstörung wirft er fragen nach der Konstruiertheit der Geschichte auf.
07.08.04
The Ordeal: Fabrice du Weiz dreht "The Ordeal" innerhalb fester Genre-Konventionen. Er knüpft an die Tradition des amerikanischen Backwood-Films an (Deliverence, The Hills have Eyes, Southern Comfort), der die moralische Steinzeit ebenfalls als Bestandteil der Zivilisation und nicht als Bedrohung von außen kennzeichnet. Sind es in den amerikanischen Filmen zumeist die Sümpfe und Wälder der Südstaaten oder die Wüstengegenden im Westen, so wählt "The Ordeal" eine morastige Steppe im winterlichen Belgien, die den Eindruck erweckt, dass man in ihr - inmitten der Zivilisation - tatsächlich verloren gehen könnte. (mehr)
The Last Horror Movie: Aus der abstrakten moralischen Involviertheit als „Zeugen“ einer Medienpräsentation in „Mann beißt Hund“ wird in „The last Horror Movie“ für den Zuschauer eine konkrete Gefahrensituation. Denn bevor die Schlusstitel über den Bildschirm rollen richtet der Killer sich ein letztes Mal an den Zuschauer: „Sie wissen wie ich aussehe und was ich getan habe. Sie sind gefährlich für mich geworden ... und ich bin jetzt gefährlich für Sie! Vielleicht stehe ich ja in diesem Moment an ihrem Fenster und beobachte Sie.“ In dieser Pointe konkretisiert „The last Horror Movie“ seine Agenda als „authentisch“ (im Sinne von „Gewalt habend“) und wird damit zu einem Meilenstein innerhalb der Geschichte des Serienmörderfilms. (mehr)
Hellboy:

Dead and Breakfast: "Dead and Breakfast" operiert ganz offensichtlich mit dem Kultstatus, den er aus seinen grotesken Zerstückelungsorgien zu bilden versucht. Bei all seinen Spezialeffekt-Eskapaden verliert er zunehmend das Interesse für seine Story. Konnte sich Herschell Gordon Lewis seinerzeit noch erlauben, einen eindimensionalen Plot als Aufhänger für seine Splatter-Szenen zu erzählen, so fällt dies bei "Dead and Breakfast" äußerst unangenehm ins Gewicht. Es gibt eben keinen Neuigkeitswert mehr in Sachen Spezialeffekte. (mehr)
08.08.04
Nothing: Natali beweist in "Nothing", dass er über humoristisches Potenzial verfügt, dass man ihm - angesichts seiner sehr ernsten vorausgegangenen Filmstoffe kaum zugetraut hätte. Damit entlädt er die Experimentalsituation natürlich zusehends ihrer Brisanz. Mit "Cube" verbindet "Nothing" einzig das Phänomen des Gedankenspiels. An Einfällen mangelt es Natali jedoch nie. Im Gegensatz zu "Cypher" erkennt man bald, dass Natali seine Ideen eben nicht aus komplexen Situationen und Plots entwickelt, sondern eben aus der totalen Reduktion. (mehr)
The Green Butchers: "The Green Butchers" ist ein a-moralischer Film, weil er sein Sujet zu keiner Zeit als das nimmt, was es ist - nämlich die extreme Tabuverletzung (Kannibalismus) verknüpft mit Rechtsbruch (Mord). Er ist auf der Metaebene dennoch ein sehr moralischer Film, weil recht bald klar wird, dass das Abgebildete für etwas anderes stehen kann - nämlich eine marktwirtschaftliche Parabel. Und als solche ist er hochgradig kritisch. (mehr)
The Alzheimer Case: Das Vergessen des Killers wird zum Vergessen des Falles selbst. Die Tatsache, dass er sich nach und nach an immer weniger der brisanten Informationen über den Kindersexring erinnern kann, lässt sich leicht als Bild für die "Verschleppung" von Prozessen und das mysteriöse Verschwinden von Daten und Akten, wie es auch im Fall Dutruox immer wieder passiert sein soll, interpretieren. (mehr)
Madhouse: Dummer und klischeehafter Slasherfilm, der in einem Irrenhaus spielt, von dem offenbar jedes ein Verlies besitzt, in dem ein offener Kamin brennt und extrem gefährliche Irre (strickende Großmütter und Totalamputierte Rollstuhlsitzer) von der Gesellschaft ferngehalten werden. Der dreißte Plottwist ist an den Haaren herbeigezogen und macht den Film nur noch schlechter.
09.08.04
Shaolin Temple:


White Skin: Das Succubus-Motiv als Metapher eröffnet in "White Skin" eine Gender-Perspektive, die recht progressiv ausformuliert wird. Die Familie Claires ist hier keineswegs als eine "Horde phallischer Weiber" mit spitzen Vampirzähnen gezeichnet, sondern im Gegenteil als äußerst autonom in ihrem Selbstverständnis und ihrem Umgang mit den Männern. Dass sie von den Männern nicht loskommen können, ist ihr größtes Problem und so versuchen die Frauen die körperliche Transformation ihrer Rasse durch einen Inzestplan künstlich zu beschleunigen. Aber auch dazu fehlt ihnen wieder ein Mann - nämlich ein männlicher Nachkomme. (mehr)
Labyrinths: "Labyrinths" nimmt sich also viel vor. Neben dem recht ordentlich ausdifferenzierten mythischen Tatmotiv und der etwas unkritischen und streckenweise vulgärpsychologischen Rahmenhandlung in der Psychiatrie etabliert der Film noch einen Seitenstrang über die Polizei- und Profiler-Arbeit, die schließlich zur Ergreifung Claudes führt. Diese drei Narrationen zusammenzuführen bedarf es großer erzählerischer Geschicktheit, die "Labyrinths" auf der Bildebene auch voll gelingt. Leider verliert der Film aber gerade durch den schon fast verkrampften Versuch allem in der Pointe einen gemeinsamen Sinn zu verleihen. (mehr)
The Machinist: Der Intensität und Präsenz, mit der Christian Bale den magersüchtigen Trevor spielt, vermag man sich nicht zu entziehen. Mit unglaublicher Einfühlsamkeit und Ruhe verleiht er der Figur, die am psychischen und physischen Abgrund steht, Konturen. Dieser Figur verdanken auch alle anderen Pro- und Antagonisten des Films ihre Energie - und das durchaus im doppelten Sinne. (mehr)
10.08.04
High Tension: "High Tension" bereitet die Auflösung seiner Identitätsverwirrung auf intelligente Weise vor. Von Beginn an dominieren Nah- und Großeinstellungen den Film. Nur selten bekommt man vom Kamerabild etwas aus der Umgebung der Protagonisten zu Gesicht. Der Kamerablick klebt förmlich am Objekt und dekontextualisiert dieses dadurch zusehends. (mehr)
Old Boy: Wie man aus so einer eigentlich interessanten Erzählung solch einen kitschüberladenen und peinlich-emotionalen Unsinn machen kann ... versteht man wohl nur als koreanischer Filmemacher.

The Butterfly Effect: Die Story dreht sich um die Geschichte von drei Freunden und einer Liebe Evans. In je verschiedenen Situationen durchleben alle Beteiligten schlimme Ereignisse: Vom Kindesmissbrauch über eine Mordzeugenschaft bis hin zum ersten Verbrechen. Evan beeinflusst diese Ereignisse, welche dann die angesprochenen Folgen nach sich ziehen. Interessant ist daran einzig, dass die Vorgehensweise Evans Strukturanalogien zum Film als erzählendem Kunstwerk besitzt. (mehr)
Mayhem: Der Film gewinnt nie genug Distanz zu seinen Behauptungen und Figuren, um sie tatsächlich als "archetypisch" bloßstellen zu können. Zudem schlägt die Erzählung derartige Kapriolen, dass man förmlich in jeder Sequenz spürt, wie sehr der Film damit beschäftigt ist, narrative Brücken zum Vorhergegangenen zu behaupten, um nicht zu zerbrechen. (mehr)
11.08.04
The Hillside Strangler: Parello macht einen Schritt zurück hinter den eigenen Anspruch und den "modus operandi" seiner Serienmörder-Filmografie, die mit "Ed Gein" etwas wirklich Originelles zutage gefördert hat. Seltsam "hohl" kommt einem "The Hillside Strangler" im Vergleich zu dem Mythen-kritischen Ed-Gein-Film vor. Weder der ruhige und bedächtige Rhythmus, der "Ed Gein" auszeichnet, noch dessen psychologische Tiefe finden sich in "The Hillside Strangler" wieder. (mehr)
Open Water: "Open Water" leidet vor allem an der Einfallslosigkeit des Drehbuchs, das laut Vorspann "based on true events" ist. Das Leben schreibt eben nicht immer die spannendsten Geschichten, weswegen gerade die von Susan, Daniel und dem Meer dringend einer Dramatisierung - gern auch zu Lasten der Authentizität - bedurft hätte. Und, was "wirklich" auf dem Meer geschehen ist, muss ja ohnehin Spekulation bleiben. (mehr)
maX
#197
Geschrieben 23. August 2004, 07:36
Jack the Ripper trifft auf H. G. Welsch und stiehlt dessen Zeitmaschine, um damit in eine amoralische Zukuft fliehen und dort weitermorden zu können.
Das klingt zunächst einmal wie Trash. Doch hat der Film - neben seinen netten Schauspielern (außer Mary Steenburgen, die offenbar völlig talentlos ist) - auch einige interessante Implikationen über den Ripper-Fall zu bieten.
Nicht nur unterstreicht er die durch die Art der Morde recht bald aufgekommene Hypothese, der Ripper sei Arzt gewesen. Auch metaphorisiert er die Ripper-Figur als kulturelles Stereotyp. Die Zeitreise in die Zukunft ist nämlich gleichzeitig eine Reise in ein utopisches Konzept. Während Wells vom sozialistischen Bruderstaat "Utopia" träumt, in dem totaler Frieden herrsccht und "freie Liebe" eine Selbstverständlichkeit ist (über das Thema schrieb Wells ja tatsächlich einige Texte), scheint die bereiste Zukunft von 1979 doch eher dem Konzept des Rippers zu entsprechen: Gewalt allenorts und freie Liebe äußert sich vor allem in der offenen Vulgarität emanzipierter Frauen, die sogar Wells erröten lässt (und sich dann doch wieder nur als "feminine Masche" herausstellt).
Das "Prinzip Ripper", das der Film also als soziale Dystopie zeichnet, ist eine verpackte Kulturkritik an den 1970er Jahren, in denen der Film entstand - "jede Zeit hat ihre Ripper", könnte das Motto sein.
Darüber hinaus bietet "Time after Time" aber auch noch die Möglichkeit, das Vorgehen des Profilers, über das ich im Zusammenhang mit dem Ripper-Morden ja in der 3. F.LM geschrieben habe, neu zu aspektieren: Nicht nur deutet der Film die Arbeit des Profilers als "Gedankenlesen" an (Wells spielt gegen den Ripper schach. Letzerer besiegt den Erfinder, weil er dessen Gedanken "lesen" kann). Die Zeitreise in die Zukunft ist so eine Art "empirisches Belegen von Indizien und Hinweisen". Wells reist mit seiner geliebten in einer Szene 7 Tage ich die Zukunft und findet dort eine Zeitung, die die Ermordung der Geliebten durch den Ripper titelt. Dieses Wissen um die Zukunft nutzt er, um nach seiner Rückreise die eigenen Theorien über den Verbleib des Rippers und dessen nächste Opfer zu korrigieren.
Auf der Meta-Ebene der Erzählung greift dieses Schema ein zweites Mal: Das Motiv der Zeitreise ist nur aus der Perspektive von Kausalitätsdenken möglich. Die Sepkulationen über "Utopia", die Wells anstellt, sind für ihn "Folgerichtigkeiten" aus der viktorianischen Gesellschaft. Deren Parameter hat er allerdings unvollständig kombiniert und permutiert, so dass seine Annahmen zu einer ganz anderen Gesellschaft führen. Dsselbe Kausalitätsdenken bestimmt die Arbeit des Profilers. Dieser hat ebenfalls aus gegebenen Spuren Hypothesen über die Zukunft des Falls und die Vergangenheit des Täters anzustellen. In einem quasi-hermeneutischen Prozess muss er seine Hypothese durch jedes neue Fundstück, jede Aussage und jedes Indiz neu bewerten und gegebenenfalls umstellen. Auch der Profiler geht von einer Notwendigkeit und Stringenz der Tatsachen im zeitlichen Ablauf aus.
Dieses Prinzip wird natürlich von den Tätern (in den Filmen) antizipiert. In "Kalifornia", "Henry - Portrait of a Serial Killer" und zuletzt in "Last Horror Movie" philosophieren die Täter darüber, wie man keinen "modus operandi" entwickelt, der den Profiler auf die richtige Spur führen könnte. Der Versuch, nicht kohärent zu morden - sich also kalkulierbaren Kausalitäten zu entziehren - wird selbst zum "modus operandi, welcher dann nicht nur die Deduktionsleistung des "klassischen Detektivs" (zum der auch die des Profilers zählen muss) konterkariert, sondern genau in jene Zukunft weist, in der der Ripper aus "Time after Time" sich so wohl fühlt: In der jedes soziale Handeln unkontrollierbar und unkaklkulierbar wird und quasi jeder ohne jeden Anlass zum Mörder werden kann. Das widerspricht natürlich jedem Konzept rationalistischer Psychologie und Gesellschaftstheorie.
maX
#198
Geschrieben 25. August 2004, 08:59
Der Dahmer-Stoff scheint nicht zum Reißerischen zu verleitern. "The Secret Life" hat's vorgemacht, "Dahmer" ist dem gefolgt: Statt der Grausamkeit, mit der Dahmer zwischen 1978 und 1991 seinen 17 männlichen Opfern begegnet ist, folgen die Filme mehr der Psychopathologisierung des Täters, die dieser während des Gerichtsprozesses selbst vorgenommen hat. Stets hat er darauf insistiert, nicht aus Hass, sondern im Gegenteil sogar, aus Liebe getötet zu haben. Nicht mehr allein gelassen wollte er werden und die Entbehrungen und Kränkungen seiner Kindheit verwinden.
"The Secret Life" ist in der Darstellung dieser Psychopathologiesierung sogar noch deutlicher als "Dahmer". Konstant kommentiert der Täter seine Taten aus dem Off, interpretiert sein Verhalten, entschuldigt sich sogar dafür. Der Film leistet dem Vorschub, indem er zahlreiche "Ausschnitte" aus Dahmers Kindheit in verklärend weichgezeichneten Zeitlupen-Sequenzen einfügt. Die Dokumentarisierung in Form von Bildunterschriften und Texteinblendungen mag dieser "Introspektion" nur wenig entgegenzuwirken.
Interessant ist auch hier wieder, dass der Film eigentlich mit offenen Karten spielt: Anfangs wird in Schrifttafeln zugegeben, dass das Folgende lediglich eine Inszenierung dessen sein, "wie es sich zugetragen haben könnte". Dabei ergießt der Film sich nicht nur in Spekulationen, sondern übergeht sogar jene Fakten, die als gesichert gelten: So hat Dahmer etwa zugegeben, duch den Film "Der Exorzist" auf seinen ersten Mord gebracht worden zu sein - am Anfang des Films sagt der "Film-Dahmer" jedoch aus dem Off: "Die vielen Methoden, wie ich irgendwelche Menschen zerlegte, bezog ich nicht aus irgendwelchen Filmen (...)".
"The secret Life" treibt dieses Prinzip der Neuinterpretation und Auslassung auf die Spitze. Er lässt Stationen in Dahmers Leben entweder völlig aus (etwa die einjährige Gefängnisstrafe wegen sexueller Belästigung eines Minderjährigen - sie wird nur aus den Gesprächen mit der Bewährungshelferin ersichtlich) oder erwähnt sie im Off-Kommentar (die Entlassung aus dem Militärdienst wegen Alkoholismus'). Der Film strukturiert die Biografie Dahmers neu unter dem Aspekt - so scheint es - der inhärenten Verzweiflung. Selbst die Morde sind mit trauriger Pop-Musik unterlegt. "The Secret Life" ist - genau wie "Dahmer" ein ruhiger Film - fast poetisch nimmt er sich der Biografie des "Kannibalen aus Milwaukee" an (dass Dahmer sich von mindestens einem seiner Opfer "ernährt" hat, um es für immer bei sich zu haben ist auch eine Tatsache, die der Film verschweigt).
"The secret Life" ist gerade in der mimetischen aber dennoch interpretierenden Art, mit der er sich seinem Täter nähert, seiner Zeit voraus. Ähnlich wie "Deranged" oder "Henry - Portrait of a Serial Killer" gehört der Film zu den frühen Werken hyperrealisitscher Serienmörderfilme, die erst ab "Ed Gein" Konkunktur bekommen sollten. Das Zusatzmaterial der DVD unterstreicht die Bemühungen des Plots auf beste Weise: Gerichtspsychologen, die letzten Worte Dahmers, eine Aussage eines überlebenden Zeugen.
maX
#199
Geschrieben 27. August 2004, 16:36
Netter Film, schöne Bilder, hübsche Hauptdarstellerin, fiese Angelhaken, arme Fische (


maX
#200
Geschrieben 01. September 2004, 10:34
Vorrede: Die Organisation des Denkens - Organmetaphern in der Geistesgeschichte und Cronenbergs Scanners
Im Werk David Cronenbergs ist die Organmetapher omnipräsent. Wie Riepe schreibt, ist das „wörtlich nehmen von Metaphern“ ein Problem psychotischer Natur. Ich will mich diesem Verständnis nicht anschließen und es als genuin „filmisches Denken“ verstehen.
In Videodrome (1982) hatte sich bereits angedeutet, wie Cronenberg McLuhan liest. Er nimmt die Organmetapher des Landsmannes ganz wörtlich und seinem Protagonisten Max Renn verwächst eine Waffe mit der Hand („handgun“). Später gerät auch die andere Hand zur Waffe („hand grenate“). Infiziert mit dieser Wörtlichkeit hat ihn das Videodrome-Signal, das die Transgression des elektrischen Impulses in das körperliche Symptom leistet. Der Erfinder, Professor Brian O’Blivion, ist das erste Opfer seiner Erfindung geworden. Das Signal hat einen Gehirntumor bei ihm ausgelöst, den er jedoch anders verstanden wissen will: „I believe that the growth in my mead – this head – this one right here. I think that is not really a tumor [...] but that it is in fact a new organ ... a new part of the brain.“ Wie O’Blivion, der diese Mitteilung nur noch per Videoaufzeichnung (deshalb die Deixis „this head – this one right here“?) übermitteln kann, geht auch Max später vollständig im Medium auf, verschmilzt mit ihm: „I am the video word made flesh.“ Noch gegenständlicher lässt sich Sprache als Organ nicht mitteilen.
Der zwei Jahre zuvor entstandene Film Scanners ist Cronenbergs erster Kontakt mit der mediatisierten Organmetapher. Thema des Films ist die Telepathie. Ein schwieriges Thema, wie Cronenberg zugibt: „The problem with movies about telepathy has always been how to make it physical. And I do mean physical, since for me it’s never enough just to make something visual.“ Anders gesagt: „How to make the video word flesh?“
Filmisch gelingt diese Antwort in Scanners in der Tat nur recht unbefriedigend: Dass telepathischer Kontakt zwischen zwei Menschen besteht, ist zu hören an seltsamen Stimm-Geraune im Soundtrack und körperlichen Symptomen der Verbunden (vom starren Blick über Zittern bis hin zum epileptisch-konvulsivischem Zucken). Erst mit der optischen Illusion der „Auflösung von Raum und Zeit“ (McLuhan) gelingt es Cronenberg vom Affekt der Darstellerkörper zum Effekt im Film überzugehen.
In Scanners belässt er es vorerst beim diskursiven Annähern an das Phänomen der Telepathie, versieht es aber mit den medientheoretischen Implikationen McLuhans. Nicht nur gibt es ganz profan eine Scanner-Untergrund-Organ-isationen mit einem tyrannischen Oberscanner als Kopf (Daryll Revok, der in der Mehrzahl der Einstellungen des Films tatsächlich nur als Head-Shot zu sehen ist). Auch führt Scanners eine Reihe von Szenen vor, die die Netz-Gedanken McLuhans mehr oder weniger direkt abbilden.
Die Scanner bilden ein „unfreiwilliges Netzwerk“ mit den Menschen ihrer Umgebung. Auf sie dringen die Stimmen und Gedanken ihrer Umwelt ohne Filter ein. Sie sind krank, missgebildet, oder wie Wissenschaftler Ruth es definiert: „Scannen, das ist eine Störung der Synapsen, die man Telepathie nennt.“ Erst durch das Verabreichen der Droge Ephemerol (ephemer = flüchtig, nur einen Tag überlebend) verschwinden die Stimmen für kurze Zeit und der geplagte Scanner fühlt sich „kristallklar“ (Cameron Vale). Ganz so, als wären die arme die Antennen zum Empfang der telepathischen Gedankenwellen, wird die Ephemerol-Spritze stets in die Hand verabreicht. Erst nachdem der Scanner sie bekommen hat, kann er vom unkoordinierten Sende- und Empfangsgerät auf bestimmte Wellen eingestellt werden. Zwei Vorführungen, die zeigen, zu was der Scanner dann in der Lage ist, eröffnen den Film.
Doch, so Ruht, „Telepathie besteht nicht nur aus Gedankenlesen. Es ist die direkte Verbindung zweier Nervensysteme, die räumlich voneinander getrennt sind.“ Diese Definition ähnelt nicht grundlos dem Verständnis von Telekommunikation. In Scanners wird auf diese Weise nicht nur tele-kommuniziert sondern eben auch tele-pathologisiert: „Scanners – Their thoughts can kill! “, so die Werbezeile des Verleihers. In dem Moment, wo die Scanner durch das Ephemerol „kristallklar“ geworden sind, werden sie zur Waffe. Ruths Organisation „Consec“ versucht aller 237 Scanner habhaft zu werden, um eine Armee gegen den Wahnsinnigen Scanner Revok zu koordinieren. Revok selbst – Inhaber der Organisation „Bicarbone Amalgamate“ – ebenfalls eine als Chemiefirma getarnte Untergrundorganisation – versucht alle Scanner, die sich ihm nicht anschließen wollen, zu töten.
Als es zum finalen Konflikt zwischen Vale und Revok kommt, überschlagen sich die Ereignisse: Es kommt heraus, dass der Arzt Ruth Erfinder von Ephemerol ist, der dieses Mittel Schwangeren als Beruhigungsmittel verabreicht hat. Die Kinder wurden daraufhin mit einer telepatischen Missbildung geboren – der Scannerfähigkeit. Seine beiden Söhne haben diese Fähigkeit aufgrund der frühen Verabreichung von Ephemerol besonders stark ausbilden können: Cameron und Daryll.
Kurz vor dem Showdown wird Cronenberg mit seiner technologisierten Organmetapher konsequent. Vale will die Firma Daryll Revoks zerstören, die Unmengen Ephemerol produziert, um dies Schwangeren zu verabreichen und eine neue Scanner-Armee zu gründen. Da ihm der Zugang zum Gebäude verwährt ist, entschließt er sich Kontakt über das Distanzmedium Telefon aufzunehmen und den Computer zu scannen: „Sie haben ein Nervensystem, das einem Computer vergleichbar ist. Damit können Sie ihn scannen, den Computer, als ob er ein Mensch wäre“, gibt Ruth Vale mit auf den Weg. Cronenberg nimmt hier eine Verschaltung des Nerven- und Telefonnetzes vor – ein Internetz zwischen Mensch und Maschine. Die entseelte Maschine per se (der Computer, der in der Science Fiction unzählige Male zum seelenlosen Widersacher des Menschen geworden ist) wird von Cameron Vales Verstand überwältigt – im Wortsinne – und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Die Firma Revoks explodiert (und das Telefon, durch das Vale Kontakt aufgenommen hat, gleich mit).
Ich komme zum Kurzschluss: Dagegen nimmt sich der Showdown des Films fast wieder zurückhaltend aus: Die beiden Brüder stehen sich endlich gegenüber, scannen sich gegenseitig. Antipoden, die sie sind, kommt es zum Kurzschluss. Das „scanning“ versagt in dem Moment, wo es auf sich selbst angewendet wird. Das fleischgewordene Medium lässt sich nicht remedialisieren. Hat die Anfangssequenz das Ergebnis dieses Kurzschlusses schon als Explosion (eines Kopfes) vorgeführt, so zeigt das Ende des Films dies als Implosion (eines Körpers in einen anderen – der Verschmelzung der Brüder).
maX
#201
Geschrieben 07. September 2004, 07:08
Wenn man die Erzählung Philip K. Dicks schon vorher kennt, ist es verblüffend zu sehen, wie schlecht sich so etwas filmisch umzusetzen lassen scheint. In der Erzählung geht es ja ausschließlich um die Fragen nach Indentität und Künslichkeit. Die Atmosphäre auf dem Planeten ist viel "düsterer" und apokalyptischer. Der Film schafft es jedenfalls kaum, das typisch "Dick'sche" Flair zu entfalten. Er wirkt immer wie ein bemühter Fernsehfilm (Dune). Die Zwangsläufigkeit mit der die Erzählung (bei Dick) auf eine Pointe hinausläuft, macht im Film Langweiligkeit Platz ... vielleicht liegt es aber auch nur an meiner Pointen-Sättigung vom FFF.
maX
#202
Geschrieben 07. September 2004, 07:11
Mann, ist der langweilig! Diese endlosen Flüge immer tiefer in die Struktur des Nebels, wo sich hinter jeder geometrisch-kaleidoskopischen Figur immer neue geometrisch-kaleidoskopische Figuren auftun. War sowas Ende der 70er faszinierend? Zum ersten Mal habe ich auf mich während eines Films gefragt: Wann kommt denn endlich die nächste Werbeunterbrechung?

maX
#203
Geschrieben 10. September 2004, 11:39
Welch Mienenspiel! Welch Pathos! Welch Drahtaugenbrauen!
Meine Empfehlung an Howie!
maX
#204
Geschrieben 12. September 2004, 09:38
Serienmörderfilm über einen Serienmörder, der berühmte Fälle immitiert. Im Zentrum steht eine Profilerin, die selbst von einem Mörder attakiert wurde und nun unter Agoraphobie leidet.
Interessant wird diese Konstellation vor allem dadurch, dass die an ihre Wohnung gefesselte Profilerin nur noch medialen Umgang mit der Außenwelt pflegt und von dort auch Informationen (und Drohbriefe) über den Mörder, der auf ihrer Spur ist, bekommt.
Darüber hinaus ist Copycat wohl ein echter Fan-Film: Die einzelnen Fälle, die der Täter nachstellt, sollen offebar zum mitraten anregen. Analog zur Profilerin hat der Zuschauer sein Wissen über die Täter ebenfalls nur aus Medien erworben (und es ist anzunehmen, dass es dem Drebuchautor von Copycat wohl nicht anders ging). Daher werden die Ratespiele in einigen Fällen zu einem Abgleich von Film- und Faktenwissen
maX
#205
Geschrieben 13. September 2004, 13:52
Vor der Werbeunterbrechung




maX
#206
Geschrieben 13. September 2004, 13:55
Eine interessante Collage von ein paar deutschen Biografien rund um den 11.09.2001. Bei einigen von ihnen ändert sich das Leben gravierend - bei anderen kaum. Insgesamt sehr deutsch mit einigen äußerst fragwürdigen und skurrilen Intermezzi (Tanz-Schwangerschaftskurs

maX
#207
Geschrieben 15. September 2004, 21:40
[...]
Die Implosion der Räume setzt Cronenberg 1999 in „eXistenZ” ein weiteres mal filmisch um und doppelcodiert auch hier seine Raum-Theorie: Es geht um die virtuelle Realität der Computerspiele, Riepe zufolge um die Frage nach der „Logik der Simulation” (Riepe, 179) bzw. der „Reflexion darüber was Realität ist” (Riepe, 174) – was in der medialen Hyperrealität dieselbe Frage ist.
Die Anspielungen auf diese Frage finden sich in „eXistenZ” in zahlreichen Szenen. Einmal abgesehen von den Fragen, die die Unterscheidung von Virtualität und Realität bei den Protagonisten aufwerfen, bebildert Cronenberg in „eXistenZ” die „Verwischung der Raumgrenzen” zwischen dem User und der Software. Als Ted Pikul und Allegra Geller das Spiel ausprobieren, das mittels einer Nabelschnur direkt am Rückenmark der Spieler angeschlossen wird, verwischen sofort die Bilder des Raums, in dem sich beide befinden und werden zu Bildern des Spielraums, den die Spieler durchwandern und in dem sie Abenteuer erleben, ohne sich aus dem „realen” Raum fortzubewegen. Auch hier stiftet Cronenberg wieder Verwirrung. Aber dieses Mal nicht durch die Annäherung von Subjekt und Objekt, sondern durch das Spiel mit der prinzipiell unmöglichen Außenperspektive. „eXistenZ” ist ein Schachtelfilm. Hinter jeder Grenze, die Spiel und Realität trennt, zeigt sich eine neue Ebene der Realität, die die vorherige als Spiel desavouiert. Auch „eXistenZ” endet mit einem Schuss und einer Schwarzblende. Er ist in seiner Schlussszene jedoch geschwätziger (und damit weniger subtil) als „Videodrome“. Einer der Protagonisten fragt, kurz bevor er erschossen wird, ob er noch immer im Spiel sei. Er will die Wahrheit nicht glauben (zu Recht!), dass er sich eventuell abermals nur auf einer höheren Stufe – einer virtuellen Realität – befindet, in der sein Tod nicht mehr einfach negative Auswirkungen auf seine Counter hätte, sondern unweigerlich zum „Game over” führen würde.
Die Medien in „eXistenZ” sind nur auf den ersten Blick „Computer” (wenn man die organischen Game-Pods überhaupt so nennen kann). Es sind vielmehr die Körper der Protagonisten selbst, die zum Medium werden. Denn die Game-Pods verschmelzen mit diesen. Das Computerspiel „zeigt” nicht mehr einfach eine virtuelle Spielwelt, sondern es „impft” diese direkt ins Gehirn und zentrale Nervensystem der Spieler. Die Grenze zwischen dem Spiel (als Gerät) und dem Spiel (als Handlung) verwischt, je tiefer die Protagonisten in die Erzählung von „eXistenZ” eindringen. Schließlich ist das Spiel nur noch ein daumengroßes Organ, das vollständig im Körper verschwindet und diesen zum Spielfeld macht. Die „Schnittstellen” sind so genannte „Bioports” – „virtuelle Wunden” (Riepe, 187) – im Rückenmark der Spieler. Löcher, die in den Rücken gestanzt werden, um direkten Zugang zum ZNS zu bekommen. Die totale Evokation vom simulierten Geschehen kann nur erreicht werden, wenn der Rezipient mit dem Medium (dem Game-Pod) verwächst, wenn Körper und Medium eins werden. Das ist kein Subjekt-Objekt-Tausch mehr, sondern deren Verschmelzung. Die Indifferenz von Spielhardware und Spieler führt dann auch zu unguten Transgressionseffekten – Krankheiten werden aus der Spielhandlung in die Realität eingeschleppt – „eine seltsame Osmose” nennt Allegra Geller diese Form der Durchflutung des Realitätsprinzips.
Der Zuschauer, der, anstatt von einem Virtualitätslevel auf das nächst höher- oder tiefer liegende, von einer Rahmenhandlung in die nächst höher liegende oder tiefer liegende Wechselt, kann den Effekt, den die Game-Pods auf ihre Nutzer (Wirte!) haben, nur schwer nachvollziehen. Cronenberg ist mit seiner Raum-Metaphorik in „eXistenZ” an der Grenze des Darstellbaren angelangt und wiederholt nur (die Effekte aus „Dead Zone” und die Erzählung aus „Videodrome). Einzig die „Verwischung” kann er noch bebildern und die verschwörerische Frage aufwerfen, ob denn alles vielleicht virtuell sei.
[...]
mehr ...
Sichtungsfazit: eXistenZ hat mir schon beim ersten Sehen nicht gefallen. Der Eindruck hat sich heute noch einmal besätitgt. Leider. Cronenberg kehrt zu Darstellungsweisen und Motiven zurück, die er längst ad acta gelegt hatte. Zwischen sehr interessante psychologische Dramen wie "Crash" und "Spider" schiebt er einen Film, den er 1982 mit Videodrome schon einmal gedreht hatte.
Der einzige wirkliche Lichtblick ist Gas (Willem Dafoe). Fals alle anderen Charaktere und Darsteller nerven vor allem durch ihr Overacting. Ich wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass ich das alles (vor allem dieses Plakative Vorsichhertragen von Bedeutung und dieses dümmlichen Verschwörungsgeraune) doch als Ironie auffassen soll. Klappt aber irgendwie nicht.
Nach "Naked Lunch" für mich definitiv Cronenbergs schlechtester Film.

maX
#208
Geschrieben 24. September 2004, 17:00
Zugegeben: Gut ist der Film nicht. Zu viel Action, zu wenig Grusel. Aber ein Zeichen der Zeit: Die Zombie-Welle ist (mal wieder) vorbei und die Untoten müssen nun - bevor sie in der Versenkung verschwinden - vom Erzählvorwand zum Erzählhintergrund werden.
Was angenehm an RE2 ist, sind die Darsteller. Die spielen zwar nicht so gut, dass sie auffallen, aber entwickeln sich innerhalb ihrer Möglichkeiten und sehen toff aus.

Ich hoffe, Romero kommt mit seinem 4. Teil der Zombie-Saga nicht zu spät ... wenn keiner mehr Zombies sehen kann/will.
maX
#209
Geschrieben 26. September 2004, 10:23
Nach wie vor: ein genialer und gruseliger Film. Besonderes Highlight sind die shining'esken Hubschrauber-Draufsichten auf das sich im Wald verlierende Auto.

Und dass der Film so vieles in Andeutungen lässt (allein auf der Bild-Ebene, wo man an den Gesichtern der Protagonisten abzulesen gezwungen wird, was ihnen gerade geschieht), zeichnet den Film besonders aus. Dann noch ab und zu einmal ein verkohlter Arm, der von unten ins Bild ragt oder ein abgerissenes Ohr, das noch am Handy hängt, und der Horror ist perfekt.
Wer ihn noch nicht kennt: Meine dringende Empfehlung (auch gerade für abendliche Sichtungen mit Freunden/der Freundin)!
Mehr: meine Filmkritk
maX
#210
Geschrieben 26. September 2004, 10:34
Was mir gerade so auffällt: Eigentlich ist "Dead End" (Sichtung gestern) eine ziemlich gelungene Variante zu Herk Harveys "Carnival of Souls" (1962) ... eine viel bessere und gelungenere als Wes Cravens Remake.
"Carnival of Souls" ist wohl einer der letzten wirklich originellen klassischen Horrorfilme. Ein so zielstrebig und ästhetisch konsequent erzählte Geistergeschichte findet sich selten.
Bemerkenswert ist hier vor allem der Orgel-Soundtrack, der zeitweilig allein die Tonebene bestimmt und "Carnival of Souls" damit fast zu einem Stummfilm macht (in diesen Szenen hat er mich sehr an Dryers "Vampyr" erinnert). Die Kirchenorgel, die leitmotivisch den gesamten Film bestimmt, scheint mir auch die Handlungssphären des Films voneinander zu trennen: Die Protagonistin, die sich als nichtgläubige Kirchenorganistin verdingt, wird in einer Szene des Films so von "Geistern besessen", dass sie ihr "klassisches" Spiel unterbricht und eine äußerst gruselige Improvisation beginnt - woraufhin ihr Arbeitgeber (der Pfarrer) sie aus ihrem Job entlässt. Der eigentliche Grund ihrer Reise in die neue Stadt - nämlich diesen Job in der Kirche anzutreten - wird damit obsolet. Noch mehr als zuvor irrt die Protagonistin durch die Stadt, verfolgt von den Geistern ... und eben von der Orgelmusik.
Mehr Infos: Infos zum Soundtrack | Soundtrack bei Amazon
maX
#211
Geschrieben 27. Januar 2008, 11:11
Hand aufs Herz: Dieses Sequel hätte niemand gebraucht. Nach den beiden King/Romero-Episoden-Horrorfilmen "Creepshow I" und "Creepshow II" haben Clavell und Dudelson geglaubt, das Konzept noch einmal reanimieren zu müssen und einen Film mit 5 Kurzgeschichten nach dem bekannten Muster zusammengestellt. Dass die Geschichten durch gemeinsame Motive ineinander übergreifen und diese Übergriffe teilweise gar nicht so schlecht sind, ist noch das Beste an "Creepshow III". Doch schon bei den völlig willkürlichen Zeichentrick-Scharnieren, die die Stories miteinander verbinden, offenbart sich die Disparatheit des Ganzen. Und dann erst die Weise, in der die Episoden selbst gestaltet und erzählt sind: Man hat teilweise den Eindruck, da wären bloße Konzepte ohne genauen narrativen Umriss in Film ungesetzt worden. Mitten im Handlungsverlauf wird begonnen und - für die Gattung völlig untypisch - antiklimaktisch erzählt und mitten drin wieder abgebrochen, um zur nächsten "unvollständigen" Geschichte überzugehen. Als Ganzes kann man das kaum ertragen, so stümperhaft wirkt es. Das reißen auch die einigermaßen derben Ekel- und Splatter-Szenen nicht wieder raus. Nein, "Creepshow III" kommt mindesten 10 Jahre zu spät und hat genau das nicht, was ihn erfolgreich machen könnte: einen klassischen Horrorgeschichten-Erzähler wie Stephen King und einen versierten Horrorfilmregisseur wie George Romero.
Meine Kritik bei F.LM.
#212
Geschrieben 27. Januar 2008, 12:00
"Acacia" steht mit einem Bein in der tradition des ost-asiatischen Geisterfilms, in welchem Kindergeister immer wieder als Mahnung für begangenes Unrecht der Erwachsenen erscheinen ("Ringu", "Ju-On", ...). Mit dem anderen Bein - und das ist das formalästhetische - fußt Parks Film tief in der Tradition des europäischen und amerikansichen Böse-Kind-Film. Er erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der von einem kinderlosen Paar adoptiert wird, sich jedoch nicht so recht in die Familie integrieren will. Sein einziger wirklicher Freund ist eine blätterlose Akazie, die im Garten des Hauses steht und von der der Junge glaubt, sie sei seine wirkliche, verstorbene Mutter. Als das Adoptivelternpaar ein eigenes Kind bekommt, wird der Junge mehr und mehr ausgegrenzt und läuft schließlich eines Nachts davon.
"Acacia" erzählt nicht nur in einem für das Sujet unglaublich ruhigen Tempo und setzt dabei voll auf seine Darsteller. Der Film besticht durch eine visuelle Erzählweise, wie sie nur selten in derartig konzentrierter Form zu finden sein dürfte: Schwenks, Fahrten, Zooms, Montage, Filter und etliche andere Elemente arbeiten konsequent mit an der Bilderverschwörung, die uns die psychischen Zustände der Protagonisten einerseits, die Unzuverlässigkeit des Erzählens andererseits transportiert. Ein besseres Filmbeispiel als dieses für visuell unzuverlässiges Erzählen im Film könnte ich für meine Übung im kommenden Semester kaum finden.
Meine ausführliche Kritik bei F.LM.
#213
Geschrieben 28. Januar 2008, 20:41
Trotzdem es das alles bei "Blair Witch Project" schon einmal gegeben hat und trotzdem der Vergleich mit den japanischen (und Emmerich'schen) Godzilla-Filmen mehr als nahe liegt, ist "Cloverfield" dennoch ein sagenhaft guter und origineller Film geworden. Das liegt vor allem an der Geste, mit der der Film die in ihm verhandelte Katastrophe als Angebot zur Verarbeitung eines gesellschaftlichen Traumas erzählt. "Cloverfield" bricht die auktoriale Überblicksperspektive der Godzilla-Filme auf ein menschliches Maß herunter, erzählt aus der Subjektive eines Terror-Opfer, das nie weiß, was als nächstes passiert und warum das alles geschieht und schreitet in seiner authentisierenden Ästhetik kompromisslos voran. Wie jeder gute Katastrophenfilm vergisst er bei all den großen Tragödien auch nicht die kleinen und entwickelt eine Geschichte von Liebe und Mut, die den erzählerischen Faden des Films bildet. Diese interne Erzählung wird wie der große Film drumherum ebenso von den Authentisierungen bestimmt, so dass das Schicksal der Protagonisten zumindest mir sehr nahe ging. "Cloverfiled" macht alles richtig, was ein solcher Film richtig machen kann. Er ist ehrlich seinen Zuschauern gegenüber, interessant und konsequent umgesetzt und fesselt bis zum letzten, unglaublichen Augenblick.
#214
Geschrieben 29. Januar 2008, 10:33
Erstaunlich schlecht hat den Stundenten meines Proseminars Fassbinders früher Film gefallen. Zu langsam erzählt, zu eintönig, zu vorhersehbar, aber vor allem zu offensichtlich in seiner gesellschaftlichen Kritik sei er gewesen. Dabei ist er doch vor allem letzteres erst, wenn man die Story als Allegorie zu lesen beginnt, wenn man aus Fox das Proletariat und aus den befreundeten Schnöseln die Bürgerlichen macht. Und selbst dann ist die Lektüre problematisch, weil immer noch ganz ungeklärt bleibt, wieso das Thema Homosexualität so "offensiv normal" verhandelt wird.
Es ist wohl so, wie bei vielen Fassbindern, dass man die Stoffe in einer spezifischen Weise als Provokationen eines Status Quo lesen muss; sicherlich eine etwas undifferenzierte und ziellose Provokation, weil sie sich gegen nichts und niemand Spezielles/n richtet, sondern lediglich den Terror der Heteronormativität anprangert. Insofern lassen sich selbst Western-Anspielungen, wie sie der Titel von "Faustrecht der Freiheit" ja ganz deutlich lanciert, Kriminalgeschichten ("Liebe ist kälter als der Tod") und sogar Melodramen ("Angst essen Seele auf") aus Fassbinders Frühwerk einem gemeinsamen Projekt zuschreiben. Ganz anders als etwa der Film der Nouvelle Vague werden die Genreklischees nicht mehr produktiv, sondern regelrecht destruktiv/destruierend aufgegriffen um das bundesrepublikanische Selbstverständnis und die eigentümliche Geschichtslosigkeit der 1970er Jahre anzugreifen. Der Konflikt, der beim Zuschauer entsteht, ist dann auch ein Resultat aus der Genre-Erwartungshaltung und dieser typisch Fassbinder'schen Enttäuschung derselben.
#215
Geschrieben 03. Februar 2008, 09:15
Wie gut sich Hardcore-Pornografie und anspruchsvoller Spielfilm miteinander verbinden lassen, hat Catherine Breillat ja bereits vorgeführt. Wer sich das Ganze auch noch einmal ansehen will und sich dabei zu amüsieren wünscht, dem empfehle ich Mitchells Meisterwerk “Shortbus”. Ein Film im Stil von “L.A. Crash”, der die Geschichten verschiedener Figuren, deren Leben sich vor allem um Liebe und Sex dreht, aufeinander zu führt, sie einander streifen lässt und als gereiftere Persönlichkeiten wieder voneinander trennt. Ein derartig humoriges, gleichzeitig melodramatisch intensives und erotisches Filmerlebnis habe ich bislang noch nicht gehabt. “Shortbus” operiert auf allen Affektebenen und ist darüber hinaus ein stilreiches Filmkunstwerk! Meine unbedingte Sehempfehlung.
#216
Geschrieben 03. Februar 2008, 10:33
Es wird wohl vielen meines Alters so gehen, dass sie "Die Mars-Chroniken" Anfang der 1980er Jahre im Rahme der 30-minütigen Zweikanalton-Testsendungen Nachmittags im ZDF kennen gelernt haben. Dort war unter anderem immer wieder jene Szene am Frühstückstisch zu sehen, in welcher der von den Toten zurück gekehrte David von seinem Vater nach seiner richtigen Identität befragt wird, hierüber jedoch schweigt und anstelle dessen mit einer vieldeutigen Handbewegung das Gespräch beenden will. Als der Vater nicht locker lässt, steht David auf und verlässt das Haus. Mutter und Vater stehen im Türrahmen und sehen ihm nach. Später wird David zurückkehren und sein Vater ihm versprechen, die Identität des verlorenen Sohnes nicht weiter zu bezweifeln und anstelle dessen das wiedergefundene Familienglück fraglos zu akzeptieren. An viel mehr konnte ich mich auch nicht erinnern, nur daran, dass ich die Serie dann auch einmal vollständig gesehen habe, wobei mir vor allem der Atomkrieg auf der Erde, der vom Mars aus durch ein Teleskop beobachtet wird, als Bild im Kopf haften geblieben ist.
Ich habe mir die "Die Mars Chroniken" vor kurzem auf DVD gekauft und nun ganz angeschaut. Der Dreiteiler, der versucht die episodisch in sich abgeschlossenen Kurzgeschichten Bradburys in einem Langfilm zu vereinen, besticht zunächst durch seine Besetzung, in der ich etlichen "apokryphen" Stars aus anderen Filmen wieder begegnet bin (Roddy McDowell aus "Frightnight", Wolfgang Reichmann aus "Woyzeck", Fritz Weaver aus "Creepshow", ...) und durch die für Andersons Filme spezifische Atmosphäre bitterer Ernsthaftigkeit, die mit dem auffälligen inszenatorischen Trash-Appeal der TV-Produktion konfligiert. Vieles in "Die Mars-Chroniken" wirkt fahrig erzählt, es gibt Ellipsen, die man erst zu einem viel späteren Zeitpunkt als es für die Erzählung gut ist, als solche erkennt. Figurenentwicklungen werden angedeutet aber nicht ausformuliert und der Narrator versieht das Ganze mit einem erzählerischen Überbau, der im Plot kaum nicht zu entdecken ist. Zudem sind die Spezialeffekte keineswegs auf der Höhe der Zeit und streckenweise regelrecht belächelnswert.
Und dennoch "zog" der Dreiteiler, was nicht nur an der verklärenden Kindheitserinnerung liegt, sondern vor allem auch an der zeitgeschichtlichen Relevanz, die schon in Bradburys Vorlage vorhanden war: Die Angst vor dem Atomkrieg und die mit den postcolonial studies aufkommende Erkenntnis, dass Kolonialisierungsprozesse stets Verlierer produzieren. Überdies führt die Serie eindrücklich die Fähigkeit des Menschen vor Augen, sich immer wieder selbst zu belügen, um den Seelenfrieden zu finden. Diese Momente (wie die oben geschilderte Frühstücksszene) gehören zu den stärksten Momenten der "Mars-Chroniken".
#217
Geschrieben 03. Februar 2008, 14:55
Atomic Journeys - Welcome to Ground Zero (USA 1999, Peter Kuran) (DVD)
Nukes in Space - The Rainbow Bombs (USA 1999, Peter Kuran) (DVD)
Drei Dokumentarfilme (einer von 1995, die beiden anderen von 1999) über dasselbe Thema bei cmv veröffentlicht: Atombomben-Tests. Das Material, das bei "Atomic Journeys" und "Nukes in Space" gezeigt wird, war bis kurz vor der Entstehungszeit der Filme noch geheim und von der US-Regierung unter Verschluss gehalten worden.
Alle drei Filme bestechen durch ihre nüchterne Berichterstattung, die die Entwicklung, die militärischen und zivilen Tests von Atomwaffen seit den 1950er Jahren nachzeichnet. "Trinity & Beyond" ist dabei wesentlich mehr von den zeitgeschichtlichen Bezügen geprägt: den kalten Krieg und die Frage der Abschreckungsfunktion der Waffen und ihrer Tests. Die anderen beiden Filme zeigen vor allem die Überlegungen, die vor und nach den Tests angestellt wurden: von physikalischen Beobachtungen in der Atmosphäre bis hin zu dem Traum mit Hilfe von Kernwaffen Landschaftsbau oder Ressourcengewinnung betreiben zu können.
Im Zentrum der Dokus steht natürlich das Bild der Atombombenexplosionen, immer wieder der aufsteigenden Rauchpilze, der Blitze, der schockartigen Druckwellen, die die Landschaft und alles, was sich auf ihr befindet, verformen und zerstören. Stets ist es das Erhabene, das bei diesen Aufnahmen mitschwingt, das die Kleinheit des Betrachters der immensen Größe der Explosion und ihrer Zerstörungskraft entgegen stellt. Die drei Dokus (von denen "Trinity & Beyond" schon länger als deutsche DVD erhältlich ist) enthalten kulturhistorisch und technologiegeschichtlich wichtiges Filmmaterial, das vom Regisseur eingermaßen sorgsam aufbereitet und zusammen gestellt und vom Sprecher (in der Originalfassung William Shatner) unaufgeregt kommentiert wurde. Sehr spannend und vielfältig ist auch das Bonus-Material der DVDs, das - etwa bei "Trinity & Beyond" ein 3D-Feature enthält (nur mit Rot-Grün-Brille zu genießen) oder ähnliche Entwicklungsgeschichten für die UdSSR zeigt.
#218
Geschrieben 06. Februar 2008, 23:01
Eine junge Frau zieht von der Stadt aufs Land, um dort an einem Roman zu arbeiten. Durch ihre autarke und freizügige Lebensweise erregt sie die Aufmerksamkeit von vier Freunden, die sie zunächst „nur“ belästigen und später schließlich mehrfach vergewaltigen. Als die Vergewaltigung beendet ist, wird der labilste der vier dazu auserkoren, die Frau zu erstechen, was er jedoch nicht tut. In der Annahme, das Opfer sei tot kehren die Männer zu ihrem gewohnten Tagesablauf zurück. Die Frau indes schmiedet, nachdem sie ihre Verletzungen auskuriert hat, Rachepläne, die sie auch in die Tat umsetzt: Sie ermordet einen Vergewaltiger nach dem anderen.
Der Plot von “I Spit on your Grave” könnte nur schwerlich simpler sein, schreibt die amerikanische Gender-Theoretikerin Carol Clover und vermutet, dass eines der verstörendsten Elemente des Films genau diese Einfachheit sei. Der Film wurde sowohl von der zeitgenössischen Filmkritik missverstanden als auch vom Münchner Amtsgericht, das den Film 1988 als Gewaltverherrlichung und Gewaltpornografie beschlagnahmt hat. Denn der Film lässt sich, wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, durchaus auch als ein Lehrstück über das Problem der lex talionis, also der Frage nach der ethischen Begründbarkeit von Rache, interpretieren. Dieser Lehrstück-Charakter offenbart sich auch beim genaueren Hinhören. Die Subtilität des Films lässt sich nämlich bis hin zu seiner Verwendung des Tons nachvollziehen: “I Spit on your Grave” kommt vollständig ohne extradiegetischen Soundtrack aus. Was zunächst vielleicht wie der Versuch dokumentarischer Authentisierung wirkt, stellt sich jedoch schnell als Kontrast-Ästhetik dar: Nachdem die Protagonistin ihr zweites Opfer in der Badewanne entmannt hat und es langsam verbluten lässt, legt sie eine Schallplatte mit der Arie „Sola Perduta Abbandonata“ aus der Puccini-Oper Manon Lescaut auf – der Todesarie. Die Rollen sind jedoch verkehrt worden: Während bei Puccini Manon vor Entkräftung stirbt und ihren Liebhaber zu sich ruft, entkräftet sich in “I spit on your Grave” der vermeintliche Liebhaber, gerade weil er die Frau zu sich gerufen hat.
Das Vergewaltigungs- und Vergeltungssujet lässt sich filmgeschichtlich bis zum ersten britischen Tonfilm, Alfred Hitchcocks Blackmail (von 1929), zurückverfolgen. Noch frühere Beispiele für das Motiv der sexuell missbrauchten Frau, die allerdings nicht explizit als Vergewaltigungsopfer dargestellt wird, finden sich zum Beispiel in Die weiße Sklavin von 1911 (ein Film, von dem übrigens Kafka derart stark affziert wurde, dass er im Kino geweit habe). Doch zurück zu Blackmail: hier liegen die (versuchte) Vergewaltigung und die Tötung aus Notwehr zeitlich noch so nah beisammen, dass der Revenge-Teil durchaus auch als Affekthandlung verstanden werden kann. Dies spielt für den weiteren Verlauf der Geschichte jedoch keine Rolle, denn die gezeigte Notwehr wird von einem Erpresser als Mord hingestellt und damit der Protagonistin Selbstjustiz unterstellt. Hier zeigt sich bereits deutlich, dass die Frage der dramaturgischen Kausalität ein wesentliches Faktum in solchen Narrationen darstellt.
In “I Spit on your Grave” ist der Fall klarer: Hier wird die Rache geplant und den Vergewaltigern „kalt serviert“. Das Bemerkenswerte in diesem Film ist die quasi-mathematische Arithmetik, nach der die Rächerin, ja sogar die gesamte Erzählung, verfährt: Der Film ist wie ein episches Drama gestaltet: Konzentration auf wenige (fünf) Figuren, klar strukturierter Handlungsablauf, Einbezug des Zuschauers durch wechselnde Subjektiven und vor allem: Es fehlt die Katharsis.
Die Katharsis, als der „ausgleichende Moment“ ist in den meisten „Rape and Revenge“-Filmen die erfolgreich vollzogene Rache des Opfers an seinen Vergewaltigern. Auch in “I Spit on your Grave” gelingt die Rache auf den ersten Blick und – wie uns der Hergang der Ereignisse glaubhaft machen will – sogar als ausgeglichene Bilanz: Vier Vergewaltigungen ziehen vier Morde nach sich. Diese Gleichung, die sich schon in Szenen zuvor durch Bezahlvorgänge angedeutet hat, ist jedoch kein rein ökonomisches, sondern ein moralphilosophisches Problem, das das Konzept des Retributivismus problematisiert. Denn die Rückzahlungsmetapher, so der Rechtsphilosoph Jean-Claude Wolf:
Zitat
Diese Arithmetik suggeriert auch “I Spit on your Grave” zunächst, indem sein Plot bis in seine zeitlichen Proportionen hin „ausgewogen“ ist: Die ersten 50 Minuten beschäftigen sich mit der Exposition und der Vergewaltigung, also im Sinne der Metapher mit der „Schuldanhäufung“; die zweiten 50 Minuten mit Rachevorbereitung und Rache, also der „Schuldeintreibung“. Doch was fehlt, um den Film als „klassisches Drama“ attribuieren zu können, ist das Finale, die Lösung, die „moralische Absegnung der Bilanz“. Denn am Schluss des Films, nachdem die Heldin über ihre Peiniger gesiegt hat, zeigt “I Spit on your Grave” keineswegs die Rückkehr der Frau in die Gesellschaft, die ihre Tat gutheißen oder verurteilen würde. Nein, vielmehr fährt die Frau mit dem von dem Männer erbeuteten Motorboot ziellos auf dem Fluss umher, in welchem sie ihre letzten Opfer versenkt hat , während die Schlusstitel über das Bild rollen. Von Ausgewogenheit also keine Spur.
Dieses Fehlen der Katharsis wird letztlich auch für die Rezeption des Films zum „Problem“, denn es erzeugt einen Mangel im Zuschauer, welcher der psychischen Situation des Rachsüchtigen entspricht:
Zitat
Der Rezipient, der sich ebenfalls in einer Situation befindet, die nach dramaturgischem Ausgleich sucht, steht dem „irrationalen“ weil (im Wortsinne) unökonomischen Ende des Films ratlos gegenüber. Dieser „Mangel“ ließe sich als passable Schnittstelle für den Anschluss an eine rechtsphilosophische Erörterung nutzen. Allein, “I Spit on your Grave” ist komplett verboten worden.
(Auszug auch meinem heute gehaltenen Vortrag im Hauptseminar “Gewalt und Geschlecht in deutscher und skandinavischer Literatur des Mittelalters und der Neuzeit” - zuvor veröffentlicht in Ästhetik & Kommunikation, Neft 125 (35. Jg), Sommer 2004, S. 39-46.)
Literatur:
- Wolf, Jean-Claude: Verhütung und Vergeltung. Einführung in ethische Strafthreorien. München: Alber 1991.
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