Religiöser Aspekt
Ein weiterer Aspekt, der im Sf-Film behandelt wird, ist die Frage nach der
Apokalypse, der Endzeiterwartung. Die Erwartung der Apokalypse als unabwendbares
endgültiges Ende ist ein uraltes Phänomen. Ihrer Bedeutung nach
sind Apokalypsen
„erste Ansätze zu einer umfassenden religiös-spekulativen Erfassung der
menschlichen Erfahrungsbereiche ‚Welt und Geschichte‘ (J. Maier).“53
Die Menschen reagieren in zweifacher Weise. Einerseits lösen sie sich radikal
von der bestehenden Gesellschaft, andererseits nehmen sie die Nachricht ohne
weitere Erregung hin.54
Im Sf-Film ist der Mythos der Welt- und Menschheitsbefreiung durch den
Helden, den Erlöser häufig thematisiert. In End of Days - Nacht ohne Morgen
(USA, 1999), das mit dem Jahrtausendwechselmythos spielt, kann einzig Jericho
Cane (Arnold Schwarzenegger) die Menschheit vor der Weltherrschaft des
Bösen retten. Ein weiteres Beispiel ist Armageddon - Das jüngste Gericht (USA
1998). Die Zerstörung der Erde durch Meteoriteneinschlag wird durch den
Opfertod von Harry Stamper (Bruce Willis) verhindert.
Ein allmächtiger Schöpfergott als übernatürliche Instanz wird im Sf meist als
Beschränkung erfahren. Dennoch hat Sf selten einen explizit materialistischen
Ansatz. Deswegen gibt es auch weiterhin „Götter“: der zukünftige Mensch als
Gott, das pantheistische Weltall oder „künstliche Gottheiten“ wie Computer.
Erlösung - Freiheit auf religiöser Ebene
Die Wachowskis bekennen sich explizit zur religiösen Dimension in der
Matrix.120 Das Freiheitsmotiv in der Matrix wird über den gesellschaftlich-politischen
und den philosophisch-metaphysischen Bereich in den der Religiosität
erweitert. In der Religion wird Befreiung als Erlösung begriffen. Zwei verschiedene
Traditionslinien werden im Film auf recht unbekümmerte und nicht immer
verträgliche Weise vermischt: der Buddhismus und das Christentum.
Buddhistische Motive in der Matrix„
Der Buddhismus ist im Kern eine Erlösungslehre. Das Verlangen nach Erlösung
erwächst aus dem hoffnungslos unbefriedigendem Wesen der Welt, in der wir uns
befinden. Buddhisten haben eine außerordentlich düstere Auffassung von den
Bedingungen, unter denen wir unglücklicherweise leben.“121
Der Grund für unsere Erlösungsbedürftigkeit liegt in unserem Unwissen. Wegen
der Unwissenheit halten wir unser empirisches Selbst für real und verstricken
uns in unsere eigenen Wünsche und Begierden nach sinnlicher Befriedigung,
122Das Orakel sagt zu Neo: _ Temet nosce! Erkenne dich selbst (E 22c).
123Die Kamerafahrt in die Ziffern des Matrixcodes (E 1.2c) erinnern an die konzentrischen
Kreise in einem _ Mandala.
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Macht und Ansehen, aber auch in unsere Ängste und Sorgen. All dies bringt
letztendlich nur Leiden und eine Kette der Wiedergeburten hervor. Die Erlösung
können wir erreichen, indem wir unsere Anhänglichkeit an diese nur vermeintliche
Welt der Sinne ablegen und ihre Nichtigkeit (= Leere) erkennen. Damit
befreien wir unseren Geist und können unser wahres Selbst, unsere Buddhanatur
erkennen.122 Der Weg dahin wird durch die meditative Versenkung eröffnet,
die eine unmittelbare intuitive Anschauung der Realität ermöglichen soll. Jeder
und jede hat für sich allein diesen Weg der Erlösung zu gehen.
Schon diese kurzgefasste Darstellung von Grundgedanken des Buddhismus lässt
die Parallelen zu Matrix deutlich hervortreten. Es sind nicht nur die kleinen
Anspielungen123 (wie etwa die Idee der Wiedergeburt beim Besuch des Orakels),
sondern auch die großen Motive, die der buddhistischen Vorstellungswelt entnommen
sind. Auch in der Matrix verhindert die Unwissenheit der Menschen die
Befreiung und Erlösung. Die Menschen hängen sogar an ihrer Unwissenheit. An
zentraler Stelle, beim Verrat seiner Freunde, sagt Cypher „Unwissenheit ist ein
Segen“ (E 19.2). Er will in völlige Ahnungslosigkeit zurück versetzt werden und
dann unwissend Sinnesfreuden, Reichtum und sozialen Aufstieg genießen. In
völliger Verkehrung der Tatsachen behauptet er, die Matrix sei real (E 25.6).
Neo hingegen stellt sich der Irrealität der Matrix und fragt sich, was es bedeutet,
dass all seinen Erinnerungen an das Leben in der Matrix in Wirklichkeit nichts
entspricht. Trinity antwortet ihm auf diese Frage:
„Es bedeutet, dass die Matrix dir nicht sagen kann, wer Du bist.“ (E 21.3)
Das Selbst in der Matrix ist eine Fiktion, es existiert eigentlich gar nicht. Die
Matrix ist ein Traum, aus dem man erst erwachen muss. Die erste Aufforderung
an Neo auf dem Computerbildschirm heißt „Wach auf!“ (E 3.2e). Buddha heißt
übersetzt „erwacht“ oder auch „erleuchtet“. Auf der Suche nach seiner wahren
Identität muss Neo nicht nur seine Wünsche und Ängste fallenlassen, sondern
auch das diskursive Denken und Urteilen hinter sich lassen. Bei seinem Sprungtraining
ermahnt ihn Morpheus:
124Nach den Wachowskis ist dies einer ihrer beiden Lieblingssätze im ganzen Film. Vgl.
Chat Session: 1999.
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„Du musst Furcht und Zweifel fallenlassen. Befreie Deinen Geist!“ (E 16.3)
Doch Neo muss diesen Weg allein gehen und scheitert zunächst. Obwohl er sich
selbst „Befrei deinen Geist!“ einhämmert, überwindet er seine Angst nicht und
stürzt prompt ab (E 16.3).
Im Kampftraining versucht Morpheus ihm klarzumachen, dass es nicht sein gar
nicht existierender Körper sei kann, der seine Kampfkraft schwächt, sondern die
innere Gebrochenheit seines Geistes:
„Hör auf zu versuchen, mich zu treffen, triff mich!“ (E 15.3e)
Die deutlichste Anspielung auf die buddhistische Geisteswelt findet sich bei der
Begegnung mit dem kleinen Jungen, der durch bloße Gedankenkraft Löffel
verbiegt. Der Junge ist gekleidet wie ein buddhistischer Mönch und sitzt im
Lotussitz. Der Junge erklärt:
„Versuch nicht den Löffel zu verbiegen. Das ist unmöglich. Statt dessen erfasse
die Wahrheit: Es gibt keinen Löffel.“124 (E 21.6.
Als der entscheidende Kampf zur Befreiung Morpheus beginnt, sagt Neo leise zu
sich selbst: „Es gibt keinen Löffel.“ (E 30.2b) Auf dem Höhepunkt dieses Kampfes,
als Neo zum ersten Mal vor dem Agenten Smith nicht davonläuft, sondern
ihm Auge in Auge gegenübersteht, sagt er zu ihm: „Du bist leer.“ (E 33.3b) Die
Anspielung auf den buddhistischen Begriff der Leere ist nicht zu übersehen. Als
Neo schließlich die Matrix unverhüllt erkennt und dann den Agenten Smith
vernichtet, befindet er sich in einem Zustand meditativer Versenkung mit geschlossenen
Augen. Seinem tiefem Atemzug folgend dehnt und kontrahiert sich
die Welt um ihn herum.
Christliche Motive in der
Matrix
In der christliche Lehre von der Erlösung steht nicht das Wissen, sondern der
Glaube und das Vertrauen im Zentrum. Die Erlösung kann der Mensch nicht aus
eigener Kraft erreichen. Es bedarf eines Mittlers und ist deshalb ein dialogisches
Geschehen. Der Weg dorthin geht über das Opfer und den Tod, aber letztlich
triumphiert die Liebe über den Tod. Die Beziehungen zwischen den Hauptpersonen
sind bestimmt von diesen christlichen Motiven.
Morpheus ist eine Gestalt wie Johannes der Täufer. Er bezieht seine Kraft aus
dem festen Glauben an die Wiederkunft einer Messiasgestalt, dem Auserwählten,
welche die Befreiung der Menschheit einläuten soll. Er glaubt, dass Neo der
Auserwählte ist und ist bereit, sich für ihn zu opfern. Neo selbst vermag zunächst
nicht an seine Erwählung zu glauben. Mehr noch als der Respekt vor Morpheus
ist es die Zuneigung zu Trinity, die ihn in die Gruppe der Rebellen hineinzieht.
Beim ersten konspirativen Kontakt im Auto unter der Brücke, möchte er sich
schon wieder absetzen, als Trinity ihn bittet: „Vertrau mir!“ (E 7.3) Dieses
Vertrauen ist der Anfang einer Beziehung zwischen den Beiden. Durch diese
Beziehung gelingt es Neo letztlich, seine wahre Identität zu finden.
Die Anspielungen auf Neo als Christusfigur sind überall greifbar. Nicht nur der
große eschatologische Gedanke der Wiederkunft des Retters (E 13) macht dies
deutlich, sondern auch kleine Begebenheiten. So sagt ihm schon Choi, der junge
Mann, der bei ihm illegale Software einkauft: „Du bist mein persönlicher Jesus
Christus“. Die Typenbezeichnung der _ Nebukadnezar ist eine direkte Anspielung
auf einen Vers im Markusevangelium, in dem beschrieben wird, wie die
von Dämonen Besessenen Jesus als Sohn Gottes erkennen. Neo ist aber aus
eigener Kraft nicht in der Lage, die Rolle des Erlösers auszufüllen.
Die Entwicklung Neos als Erlösergestalt kann durch drei Szenen in Stufen
eingeteilt werden. In jeder dieser Szenen wird die Aufforderung „Steh auf!“
ausgesprochen. Beim Übergang zur ersten Stufe ist Neo noch in der Matrix
gefangen. Er bedarf der Hilfe Morpheus‘. Dieser befreit ihn aus der Matrix. Noch
bevor sie sich persönlich treffen, lautet die erste Anweisung von Morpheus an
Neo: „Steh auf und siehe selbst.“ (E 5.4) Das ist der Beginn der Selbstfindung
Neos. Aber es ist noch ein weiter Weg bis zur Übernahme seiner Rolle als Retter
der Menschheit. Das Orakel sagt ihm, dass er anscheinend noch auf etwas warte
(E 22.d). Außerdem wird ihm prophezeit, dass er eine Entscheidung treffen
müsse zwischen seinem und Morpheus‘ Leben. Nachdem sich dann Morpheus
für ihn gefangennehmen lässt und dem Tod ins Auge schaut, reift in Neo der
Entschluss, gemäß der Weissagung sein eigenes Leben zu opfern, um Morpheus
zu retten. Es ist diese Bereitschaft zum Opfer, die Neo auf die nächste Stufe
seiner Selbstfindung führt. Opfern kann er sich aber nur, weil er seine wahre
Identität noch nicht erkannt hat und daher durch die gefährliche Rückkehr in die
Matrix bereit ist, seinen Tod auf sich zu nehmen. Ausdruck dieser neuen Stufe
auf seinem Weg ist, dass nun er es ist, der dem gefesselten Morpheus zuruft:
„Steh auf!“ (E 31.4a), so dass dieser seine Fesseln zerreißt und aus den Händen
der Agenten befreit werden kann. Als dann auch Trinity in Lebensgefahr gerät,
wächst Neo über sich hinaus und rettet sie durch eine übermenschliche Tat. In
diesem Moment erkennt der Operator (Tank), dass Neo der Auserwählte ist
(E 32.2).
Neo selbst hat diesen Schritt aber noch nicht vollzogen. Erst als Trinity ihm ihre
Liebe offenbaren will, sie aber durch den Angriff des Agenten Smith gestört
werden, beginnt er an sich zu glauben und stellt sich dem vermeintlich aussichtslosen
Kampf. Er unterliegt in der Auseinandersetzung und Smith schießt ihn aus
nächster Nähe nieder. Neos Herz schlägt nicht mehr und die Agenten konstatieren
seinen Tod. Erst jetzt kann Trinity dem regungslosen Neo ihre Liebe
gestehen. Das Orakel hatte ihr prophezeit, dass der Mann, den sie liebt, der
Auserwählte sei. Die Liebe besiegt den Tod. Neos Herz beginnt wieder zu
schlagen. Und nun sagt Trinity zu ihm: „Steh auf!“ (E 36.2d) Mit diesem dritten
„Steh auf!“, nach dem Gang durch Opfer und Tod, wird Neo zu seiner wahren
Identität erweckt. Die Kugeln der Agenten vermögen ihm nichts mehr anzuhaben,
die Matrix verliert alle Macht über ihn. Er wird zum Befreier der Menschheit.
Die suggestive Kraft der Matrix liegt meines Erachtens darin, dass die Wachowskis
aus vielfältigen Quellen schöpfend Gedanken, Symbole und Bilder
verwenden, die alle die Sehnsucht der Menschen nach Befreiung, ja sogar Erlösung
Ausdruck verleihen. Die Verbindung dieser Tiefendimension mit atemberaubenden
Actionszenen, unerträglicher Spannung und noch nie gesehenen
visuellen Effekten resultiert in einen Sf-Film, der zu den besten seiner Art
gehört.
quelle:
Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig
Zwischen Illusion und Wirklichkeit. Wachowskis
Matrix
als filmische
Auseinandersetzung mit der digitalen Welt.
Diplomarbeit
eingereicht
von
Christof Wolf
Fachrichtung Dramaturgie
vorgelegt am 17. April 2000
Mentor: Dr. Sven Thomas
cheers
rocknrollriot