Stummfilm: „Rein technisch ein Film ohne Ton.“ – Doch wer glaubt, dass Stummfilme deshalb „stumm“ seien, täuscht sich. Manchmal haben diese Filme mehr zu erzählen als so mancher Tonfilm. Und auch rein akustisch bleiben die Werke nicht ohne Ton. Sie wurden von Orchestern oder einzelnen Musikern begleitet. Zwei Jazzmusiker haben es sich nun zum Ziel gesetzt, diese Tradition wieder aufleben zu lassen: Jo Ambros an der Gitarre und Jogi Nestel am Schlagwerk vertonen live vier surreale Stummfilme: „Ein Phantastisches Film-Konzert“. Die Auswahl der Filme erstreckt sich dabei von Klassikern, wie dem „Andalusischen Hund“ bis hin zu dem aktuellen „Copy Shop“ aus dem Jahre 2000. Doch der erste Film entstand fast einhundert Jahre früher...
Voyage a Travers L’Impossible (George Melies, 1904)
Diesen Film im Kino sehen zu dürfen ist etwas ganz besonderes, und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen ist dieser Film in diesem Jahr genau 100 (in Worten: einhundert) Jahre alt geworden, zum zweiten stammt er von dem Regisseur George Melies (1861-1938), dessen Einfluss auf die Filmkunst nicht zu unterschätzen ist. So ist er z.B. der Erfinder der sog. „Verschwundenen Jungfrau des Films“, also des „Stop-Action-Tricks“ oder des „Linked Tableau“. Bei der erstgenannten Montagetechnik, die auch in „Voyage a Travers L’Impossible“ Anwendung findet, wird die Kamera mitten in der Aufnahme angehalten, die Szenerie verändert, und schließlich weitergefilmt. Melies nutzte diese Technik dazu, um eine junge Frau in Sekunden altern zu lassen. Saß am Anfang eine bildhübsche, junge Frau auf einer Bank, befand sich an ihrer Stelle nach einer Explosion eine um vierzig Jahre gealterte (daher der Name).
Melies kam „von Anfang an“ zum Film: Er war einer der 30 Gäste, die Zeuge der ersten Filmvorführung der Gebrüder Lumiere wurde. Von der neuen Kunstform begeistert, wollte er sogleich den Projektor der Lumieres abkaufen... erfolglos. Doch kein Jahr später entwickelte Melies seine erste Kamera, den „Kinetographen“, und produzierter bereits 1896 achtzig Filme. Insgesamt führte Melies in den Jahren 1896-1912 bei über 1500 Filmen Regie – daneben fungierte er als Produzent, Drehbuchautor, Kameramann und Schauspieler. Aktuell sind allerdings nur etwa 500 seiner Filme bekannt, da viele seiner Werke im ersten Weltkrieg von der französischen Armee konfisziert wurden und zu Sohlen für Stiefel eingeschmolzen wurden.
Der hier gezeigte „Voyage a Travers L’Impossible“ erinnerst enorm an sein zwei Jahre früher entstandenes Werk
„Le voyage de la lune“. In beiden Filmen verbindet Melies zwei Menschheitsträume: Das Festhalten von bewegten Bildern, und der ewige Drang zu den Sternen. - Hommage an die „großen Jules Verne’schen Phantasien.“
Professor Mabouloff, – von Melies selbst gespielt – Präsident des Instituts für „Inkonsequente Geographie“, behauptet mit Hilfe seiner Erfindung bis zur Sonne fliegen zu können. Nach etlichen Fehlversuchen gelingt der Start der dampfbetriebenen Lokomotive schließlich von „Gipfel der Jungfrau“. Nach einigen Komplikationen kehrt die Crew unversehrt zur Erde zurück. Jedoch nicht ohne vorher auch noch die Unterwasser-Tauglichkeit des Raumschiffs zu testen...
Melies, der ursprünglich aus dem Theaterfach kommt, scheint in diesem Filme – wie auch in seinem gesamten Oeuvre – ganz bewusst, und mit sichtlicher Freude sämtliche Limitationen der Bühne hinter sich zu lassen. Hier setzt er das um, was ihm im Theater verwehrt blieb. Er hatte endlich die Möglichkeiten gefunden seine Ideen in adäquater Weise mit Hilfe eines neuen Mediums umzusetzen...
Copy Shop (Virgil Widrich, 2001)
Hundert Jahre später nun hat sich das mittlerweile „alte Medium“ Film ebenfalls weiterentwickelt. Nach dem Schritt hin zu den bewegten Bildern, war die logische Konsequenz der Weg zum Digitalen. „Copy Shop“ setzt diesen Schritt (in)konsequent um: Rein formal besteht „Copy Shop“ aus fast 18.000 fotokopierten Digitalfilmkadern, die mit einem handelsüblichen Laserdrucker ausgedruckt, am Tricktisch animiert und in 35mm abgefilmt wurden. Doch nicht nur der Herstellungsprozess des Films wird von Kopien beherrscht. Auch in der, fast kafkaesk anmutenden Geschichte selbst geht es im Duplikate und den Verlust der Individualität. „Copy Shop" zeigt einen Protagonisten, der als Individuum um seine Originalität kämpft...
„Copy Shop handelt von einem Kopierzentrum, d. h. von der Vervielfältigung von Einzelbildern, die in immer schnellerer Abfolge durch technische Geräte (in diesem Fall: Kopiermaschinen) gejagt werden. Das Tempo dieser Vervielfältigung stellt in seinem Rhythmus, der sich im Lauf der Geschichte auf bis zu 24 Bildern pro Sekunde steigern wird, eine akustische und optische Beziehung zu dem artverwandten Vorgang in einem Filmprojektor dar. Kager, der Held von "Copy Shop" kämpft nicht nur gegen seine Doppelgänger, sondern vor allem auch gegen die Bilder, die sie kopieren und damit gegen den Film, in dem er selbst für immer gefangen ist.“
1 An dieser Stelle sei auch die informative
Homepage empfohlen, mit dem Tip, dass die DVD bereits im Handel erhältlich ist. Denn der Film ist definitiv einen Blick wert, bedenkt man, dass er bereits zahlreiche Preise gewonnen hat und 2001 sogar für den Oscar nominiert war.
Un chien andalou (Luis Buñuel, 1929)
„Un chien andalou“ gilt als das Paradebeispiel des surrealen Films, und beinhaltet daneben den wohl berühmteste Prolog der Filmgeschichte: „Ein Mann (Bunuel) schärft des Nachts sein Rasiermesser. Er betrachtet durch die Fensterscheiben den Himmel und sieht... Eine leichte Wolke, die sich dem vollen Mond nähert. Dann der Kopf eines Mädchens mit weit aufgerissenen Augen. Eine Rasierklinge bewegt sich auf eines dieser Augen zu. Die leichte Wolke zieht jetzt am Mond vorüber. Die Rasierklinge fährt durch das Auge des Mädchens...“
Doch nicht nur die Anfangssequenz des Films ist harter Tobak – Bunuel und Dali reihen bedrohliche und surreale Szenen aneinander – Fragmente wie aus Alpträumen. Und auch beim heutigen Sehen erschließt sich mir der Sinn des Films nicht. Ich suche krampfhaft eine Handlung in der Abfolge der Bilder, und auch die Aussagen Dalis höchstpersönlich bringen keine wirkliche Befriedigung: Er und Bunuel hätte das Drehbuch anhand einer sehr einfachen Regel geschrieben – „22 Traumsequenzen ohne erkennbaren Handlungsverlauf zu verarbeiten.“
Vielleicht ist gerade dies das verstörende und subversive Element an dem Film, dass man immer angespannt und krampfhaft versucht einen Sinn und eine Handlung zu suchen...
„Der Film erzielte den Erfolg, mit dem ich gerechnet hatte. Er machte an einem einzigen Abend zehn Jahre Nachkriegszeit und falsch verstandener intellektueller Avantgarde zunichte. Dieses schändliche Zeug, das man abstrakte oder nicht-figurative Kunst nannte, fiel uns tödlich verwundet vor die Füße, um nie wieder aufzustehen...“ (Dali in seinem „Geheimen Leben“)
Mysterien des Frisiersalons (Bertolt Brecht/Erich Engel, 1923)
Den Abschluss bildet das Werk eines komischen (sic!) Duos:„Mysterien des Frisiersalons“ entstand aus einer Kooperation zwischen Bertolt Brecht und Karl Valentin. Leider konnte ich die Zwischentitel überhaupt nicht lesen, wodurch wohl einiges vom Witz des Films verloren ging. – Trotzdem ganz nett, und irgendwie hat mich das ganze an Argentos Trauma erinnert....
Anmerkung: „Mysterien des Frisiersalons blieb bis heute relativ unbekannt, da Valentin die Aufführung verbieten ließ, nachdem er zufällig dahinter gekommen war, dass der Film die Handlung eines ausländischen Films plagiierte.“