Geschrieben 07. Oktober 2004, 11:38
Ein Glückstag ( Un día de suerte ) , Sandra Gugliotta, 2002
(Kino)
Wie schwer würde es Dir fallen, alles , was Du kennst und liebst, zurück zu lassen und das Land, in dem Du aufgewachsen bist, zu verlassen ?
Wie leicht würde es Dir fallen, aufzubrechen in eine unbekannte, ungewisse Zukunft ?
Welche Sehnsüchte treiben Dich, wo siehst Du Deinen Platz in der Welt ?
Ein Flugzeug, das einen blassblauen Himmel voller Schäfchenwolken durchquert
Zwei alte Männer, die über die Zutaten für ein Eintopf-Rezept philosophieren
Eine Hand auf einem Knie
Die Häuser von Buenos Aires im diesigen Grosstadtlicht der untergehenden Sonne
Eine Brücke im nächtlichen Rom, eine junge Frau, die neben ihrem Koffer auf dem Bordstein sitzt, während die Menschen vorbeihasten
Grobkörnige Schwarzweiss-Bilder von Demonstrationen aufgebrachter BürgerInnen, die in ihren Vierteln wieder Strom haben wollen
Eine Münze, über die Schulter in einen Wunschbrunnen geworfen, im Moment des Eintauchens in das Wasser...
Buenos Aires nach dem Schock des Dezember 2001. Eine Stadt im Aufruhr, in der vielen BürgerInnen selbst die Möglichkeit fehlt, ihre Grundbedürfnisse abzudecken. Selbstorganisation und offener Widerstand sind für Viele das Gebot der Stunde, Andere wiederum halten sich mit Gelegenheitsjobs, kleinen Gauereien und Drogenhandel über Wasser. Die junge Laura und ihre Freundinnenclique gehören zu den Letzteren. Doch eigentlich möchte Laura weg aus Argentinien, sie träumt sich nach Rom, wo Candy lebt, in den sie sich in einer gemeinsam verbrachten Nacht unsterblich verliebt hat. Ihr Grossvater hingegen, welcher einst aus Italien emigrierte, sieht als gealterter Anarchist seinen Platz bei den Menschen, mit denen er Tür an Tür, Haus an Haus, lebt...
Ein Film über Hoffnung, Sehnsucht, den Traum, wegzugehen in ein besseres Leben in einem fremden Land, aber auch über den Mut, dazu bleiben und den Verhältnissen zu trotzen. So weit, so bekannt. Doch es sind vor Allem die kleinen, kaum auffälligen Gesten und Moment, die hier in sehr schön fotografierten Bildern in den Mittelpunkt gerückt werden und die exemplarisch für die "grossen" Dinge stehen.
Dabei wirken die Dialoge in ihrer Alltäglichkeit wirklich sehr realitätsnah, und in jedem Bild scheinen die politischen Verhältnisse durch. Die unterschiedlichen Strategien von Grossvater und Enkelin , sich mit ebendiesen Verhältnissen auseinander zusetzen und Handlungsräume zum Überleben zu eröffnen , sind dabei bewegend umgesetzt worden. Nur die Tatsache, dass jeweils die Liebe zu einer Person dabei so beispielhaft verhandelt wird, stiess mir ein wenig sauer auf. Dennoch : ein rauer Film, welcher nichts desto trotz viel Wärme und Hoffnung ausstrahlte. Ein kleiner, schöner Film, der mich ein wenig ratlos, aber mit einem guten Gefühl zurückliess.
"Die Suche nach Glück in einer Scheiss-Zeit." (Lateinamerika Nachrichten)
Fürwahr.
Ein Glücksfilm.
Ghosts...of the Civil Dead (John Hillcoat, 1988)
(Kino)
Ich habe jahrelang darauf gewartet, diesen Film mal wieder im Kino zu sehen, und war gespannt, wie ich ihn mit Foucault ("Überwachen und Strafen") und Deleuze im Kopf rezipieren würde. Letztlich wusste ich ja schon , dass es keine leichte Kost sein würde, gelinde geschrieben...
Central Industrial Prison. Ein Hightech-Gefängniskomplex, irgendwo im australischen Outback, begrenzt von Stacheldraht und elektrischen Zäunen. Die Inhaftierten und ihre Sozialstrukturen werden ausführlich geschildert, ebenso die Schikanen und Überwachungs-/ Kontrollmassnahmen des Wachpersonals. Doch langsam, unmerklich beinahe, beginnt die Situation, voran getrieben durch alllmählich immer härtere Verschärfungen der Haft- und Lebensbedingungen, zu eskalieren...Es wird zu einem Riot kommen....Am Ende wird eine Untersuchungskommsion einen im nüchternen BürokratInnenstil verfassten Bericht präsentieren....Die Verhältnisse selbst werden sich nicht ändern...Am Schluss werden einige wenige Überlebende in die Freiheit entlassen. Doch das Gefängnis ist mit ihnen gewandert, es scheint sich nur vergrössert zu haben...
Es sind mir nur wenige Filme bekannt, die die ZuschauerInnen dermassen hart und schonungslos mit ihrer eigenen Realität konfrontieren, und dies auch noch auf eine so unaufgeregte, beinahe schon dokumentarisch zu nennende Erzählweise. Denn eine Handlungsstruktur gibt es eigentlich nicht wirklich, auch die einzelnen Insassen werden im Laufe des Films kaum an Charaktertiefe gewinnen, das ist für den Film und seine Struktur auch irrelevant. Vor allem die Disziplinierungsmassnahmen und Kontrollmechanismen eines in sich selbst geschlossenen Systems, im dem die BewohnerInnen der Willkür derer ausgesetzt sind, die sie "verwalten", und wie über diese Machtverhältnisse etabliert werden und Menschen dadurch zu Handlungen, die sie unter "normalen" Umständen niemals begehen würden, getrieben werden, sind es, die hier abgehandelt werden. Und das Ganze wird auf eine Art und Weise bebildert, dass es zumindest mir noch lange im Kopf herumspuken wird. Sich von dem Gezeigten zu distanzieren fällt aufgrund der quasidokumentarischen Erzählweise und der unglaublichen Geschlossenheit und Wucht, die der Film rüberbringt, extrem schwer und macht es beinahe unerträglich, den Film bis zum Schluss durch zu halten. Mehr als einmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich am Liebsten den Kinosaal verlassen hätte, weil ich das, was der Film mir da zeigte, nicht sehen wollte. Und im Gegensatz zu z.B. dem widerlichen "Irreversible" (Gaspar Noe) spricht das dieses Mal für den Film.
Von der im Film vermittelten Eskalationstheorie halte ich zwar nicht soviel, auch ist mir die Art und Weise, wie chauvinistisch-sexualisierte Gewalt hier und ihre Umstände hier thematisiert werden, eher zuwider, dennoch ist "Ghosts...of the Civil Dead" ein Film, den ich zwar nicht allzu oft sehen möchte, der mir aber äusserst wichtig erscheint und meiner Meinung nach viel zu selten gezeigt wird. Eigentlich sollte jeder Mensch diesen Film einmal in ihrem / seinem Leben gesehen haben. Denn machen wir uns nichts vor : Alle der im Film gezeigten Massnahmen wurden oder werden in den Knästen dieser Welt (auch Abschiebeknästen, by the way) angewandt.
Ein Film , welcher mich mit einer bei Spielfilmen selten erlebten Kotzübelkeit zurückliess. Ein beinahe physisch wirkender Alptraum der modernen Überwachungsgesellschaft in Zelluloid.
Ein verstörendes Meisterwerk.