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Ich habe dir niemals einen Hasenbraten versprochen

Cjamangos neues Filmtagebuch




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Mengenrabatt für traurige Männer



Die Menge (TV)

Johnny Sims wurde im Jahre 1900 geboren. Seine Eltern waren fest davon überzeugt, aus ihm müsse etwas Großes werden. 21 Jahre später sitzt Johnny unter zahllosen Angestellten, deren Eltern ebenfalls davon überzeugt waren, aus ihren Sprößlingen müsse etwas Großes werden, in einer Firma und jongliert mit Zahlen. Bei einer Spritztour lernt Johnny die holde Mary kennen und lieben. Sie heiraten und bekommen zwei Kinder. Das Leben könnte so schön sein. Doch dann wird die kleine Tochter von einem Lastwagen überfahren...

Als die Szene mit dem Lastwagen kam, wäre ich fast aus dem Sessel gefallen! Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß es in alten Hollywood-Großfilmen nicht gang und gäbe war, daß kleine Kinder von Lastwagen überfahren werden. Und es geschah an genau dieser Stelle, daß der Film für mich richtig bemerkenswert wurde. Der ganze Beginn ist nur ein Vorspiel, angefüllt mit exakt jener Art von lachenden Leuten, lustigen kleinen Alltäglichkeiten und der Ahnung, daß alles wieder gut wird, die alte Filme aus der heutigen Sicht manchmal wirklich sehr alt erscheinen lassen. Auch die Anfangsproblemchen, wenn die beiden Ehepartner in eine gemeinsame Wohnung gezogen sind, sind typische Zutaten, wie man sie aus mehr oder weniger belanglosen Melodramen kennt. Nein, es bedarf des Lastwagens, um das wirkliche Leben in den Film einbrechen zu lassen. Ein Schicksalsschlag, der die Ehe von Johnny Sims belastet, der seine Zuversicht in den Keller stößt und ihn völlig aus den Angeln hebt. Das Studio MGM war seinerzeit von King Vidors Projekt wenig angetan und erwartete einen kolossalen Flop. Da der Regisseur für viele Kassenerfolge verantwortlich zeichnete, ließen sie ihn aber gewähren. Tatsächlich hatte Vidor insgesamt neun unterschiedliche Enden konzipiert. Eine völlige Katastrophe traute man sich nicht, und mit einem verheerenden Ende wäre der Film vermutlich auch nicht der Kassenknüller geworden, der er nun mal wurde. Trotzdem mutete er seinem damaligen Publikum viel zu: Abgesehen davon, daß THE CROWD als der erste amerikanische Film galt, der eine Toilette zeigte (was ihm Ko-Produzent Louis B. Mayer niemals verzieh), wird der Protagonist Schicht für Schicht auseinandergepflückt. Zu Anfang ist Johnny noch ein Strahlemann, ein Daueroptimist, ein Blender vor sich und anderen. Er redet immer von seinem Zug, der irgendwann ankommen wird. Doch dieser Zug kommt am Fünfzehnten von niemals, und wenn es ernst wird, muß er feststellen, daß er für den harten Lebenskampf nicht gewappnet ist. Macht er sich mit seiner Frau zu Anfang noch über einen Werbe-Clown auf der Straße lustig, so ist es nach seinem Sturz genau dieser Job als Hampelmann, den er anzunehmen gezwungen ist, und er nimmt ihn mit Freuden... Einen dauerheulenden Mann zu sehen, muß für das damalige Publikum und ihre Errol Flynne und Clark Gables eine ziemliche Irritation gewesen sein, aber Johnny Sims ist halt nicht dem gleichnamigen Computerspiel entsprungen, sondern der Realität. Die Realität sollte leider auch den herausragenden Hauptdarsteller einholen, James Murray, der seinen Überraschungserfolg niemals wiederholen konnte und seinen Frust in Alkohol ertränkte. Wenige Jahre später schlief er auf der Straße und bettelte um Almosen. 1936 zog man seine Leiche aus dem Fluß. THE CROWD endet natürlich versöhnlicher, allerdings mit der deutlichen Anmutung von doppelten Böden. Der Titel bezieht sich eben auf jene Masse, die zwar mit einem ist, wenn man lacht und Fröhlichkeit anzubieten hat, die aber schnell weg ist, wenn das Schicksal zuschlägt. Der Anfang von THE CROWD bemüht sich um Allgemeingültigkeit mit dem Jahrhundertgeburtsdatum von Johnny Sims, den riesigen Wolkenkratzern von New York, an denen die Kamera hochfährt, den unzähligen Mitarbeitern von Johnny, die das Bild anfänglich als geometrische Form erfaßt. Wenn Johnnys Kind überfahren wird, werden die Menschen in der Umgebung zu einer gaffenden Menge, die die Tragödie stumpf in sich aufsaugt. In einer späteren Szene trifft sich der gerade einmal wieder optimistisch gestimmte Johnny mit seinem Kind vor einem Friedhof, mit all den Grabsteinen und –kreuzen im Hintergrund. Und das Finale schließlich erfaßt Johnny als Bestandteil einer lachenden Menge. Der ganze Film funktioniert somit wie ein Zoom in die Menge hinein und wieder aus der Menge hinaus. Ein Jahr später kam die Weltwirtschaftskrise. THE CROWD gehört zu den erwachsensten amerikanischen Filmen seiner Zeit, und vielleicht ist es auch ganz gut so, daß man sich für das Ende nicht für die düstereren Optionen entschied...




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