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Short Cuts





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Viskningar och Rop (Schreie und Flüstern) (Ingmar Bergman) SE 1972



Viskningar och Rop (Schreie und Flüstern)


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Ein Herrenhaus in Schweden, Ende des 19. Jahrhunderts. Agnes (Harriet Andersson) hat Krebs und liegt im Sterben. Ihre zwei Schwestern Maria (Liv Ullmann) und Karin (Ingrid Thulin) sind mit ihren Männern angereist um bei ihr zu verweilen. Beide sind äußerst distanziert in ihrem Verhältnis zu Agnes. Karin ist absolut gefühlskalt und Maria falsch und aufgesetzt in ihrer oberflächlichen Wärme. Allein die Magd Anna (Kari Sylwan) pflegt sie geduldig und kann Agnes Liebe, Trost und Zärtlichkeit spenden. In Rückblicken, denkt sie an ihre Mutter (ebenfalls Liv Ullmann) . Als der Arzt David (Erland Josephsson) kommt, versucht Maria ihre einstige Affäre mit ihm wieder aufleben zu lassen, doch er weißt sie ab. In einer weiteren Rückblende, mit Erzählerkommentar versehen, werden Szenen aus dieser Affäre gezeigt, die zum Selbstmordversuch ihres Mannes Joakim (Henning Moritzen) führte. In einer Rückblende aus Karins Vergangenheit sehen wir ihr Verhältnis zu ihrem verhassten Ehemann Fredrik (Georg Årlin), den sie schockiert, in dem sie sich im Intimbereich mit einer Glasscherbe verletzt. Als Agnes stirbt und der Pfarrer Isak (Anders Ek) ihr die letzte Weihe gibt wird dies zu einem erschütternden Bekenntnis seiner Glaubensunfähigkeit. Als die Schwestern nun den Nachlass ordnen, kommt es zwischen Maria und Karin zu einer Annäherung, die aber bald an ihre Grenzen stößt. Als Anna eine Vision hat, in der die tote Agnes sie anfleht, sie nicht allein zu lassen, ist sie die einzige die fähig ist Agnes in die Arme zu schließen. Alle anderen fliehen entsetzt aus dem Raum. Anna liest in Agnes Tagebuch ihre Erinnerungen in der die Schwestern glücklich durch den Schlosspark wandeln.


Nach Passion ist dies der erste Bergman Film der 70er innerhalb unser chronologischen Reihe. Die US/Schwedische Co-Produktion The Touch, stand uns leider nicht zur Verfügung und so sind wir jetzt schon im Jahre 1972 angelangt.

Bergman hatte eine Vision :"Ich sehe ein Mädchen auf dem Weg zu einem großen, herrschaftlichen Haus. In dem Haus gibt es einen roten, großen Raum, in dem drei Schwestern in weißen Kleidern sitzen und miteinander flüstern. Meinst Du das könnte ein Film werden ?", fragte er seinen Kameramann Sven Nykvist. Als er das Drehbuch entwickelte stand für ihn fest, dass er Liv Ullmann, Ingrid Thulin, Harriet Andersson und vielleicht auch Mia Farrow bekommen muß. Mit Mia Farrow klappte es nicht dafür sagten alle anderen selbstverständlich zu. Den Titel entlieh Bergman einem Musikkritiker, der über Mozarts Klavierkonzert Nr. 24 schrieb es klinge wie "Schreie und Flüstern". Bergman und Nykvist tüftelten sehr lange vor Drehbeginn über die Farbgestaltung des Films, besonders die verschiedenen Nuancen der Farbe "rot". Laut Bergman hat er sich seit seiner Kindheit die menschliche Seele immer als rötliche Haut vorgestellt, ähnlich wie Schleimhäute. Die Produktionsgeschichte des Films ist keine einfache. Seiner Haus und Hof Firma Svensk Filmindustri war das Thema zu schwierig. Auch internationale Produzenten, zu denen er seit The Touch Kontakt hatte lehnten ab. So drehte Bergman diese nicht gerade günstige Produktion mit seiner eigenen Firma Cinematograph, ein bißchen Geld vom Filminstitut und einem Teil der Darsteller und Technikergagen. Der Film, uraufgeführt in New York, wurde ein weltweiter Erfolg sowohl bei Publikum als auch bei Kritikern. Sein erster seit "Das Schweigen". Sven Nykvist erhielt für seine Kameraarbeit einen Oscar.

Soweit die Produktionsnotizen. Francois Truffaut und Woody Allen nennen ihn ein absolutes Meisterwerk. Aber erst eins nach dem anderen.

Ersteinmal ist es ein äußerst faszinierendes Unterfangen diesen Film zu sehen, allein was die Farbgestaltung, Kameraarbeit und Lichtinszenierung angeht. Wenn man zuvor Passion noch das Suchen und experimentieren ansieht, ist dies hier schlichtweg ein Hammer. Die Überblendungen ins rote, bei denen sich die Leinwand färbt sind grandios. Die enorm große Stärke des Films abgesehen von dem, wie immer glänzend spielenden Bergman-Ensemble, ist, dass hier ähnlich wie in Persona Ästhetik und Inhalt hier eine Linie ergeben. Bergman findet für seine Vision diese extrem krassen Farben und Bilder, die das Innerste nach Außen kehren, das sichtbar machen, was sonst nicht sichtbar gemacht werden kann.

Kammerspiel

Ausgewogenheit, Konzentration, die blutroten Räumlichkeiten. Die Beziehung der Schwestern zueinander oder zu ihren Männern wird fast ausschließlich in Nahen oder Halbnahen Einstellungen eingefangen. Dazu kommt, dass die Atmosphäre des Films von Beginn an zum Bersten ist. In den einzelnen Gesprächen hat man wieder die berühmten, choreographierten Bergman-Bilder, die die 4. Wand zu sprengen scheinen. Ein Punkt, den man übrigens bei Bergman noch näher durchleuchten könnte. Episodisch wird das Ganze aufbereitet. Der Prozess des Sterbens von Agnes in der Gegenwart ist das Gerüst, die Rahmenhandlung in der innerhalb des Films episodische Einschübe gemacht werden. Für jede der 3 Schwestern wird in Rückblenden eine Situation gezeigt, die ihr Wesen und ihr Handeln verständlich macht bzw. veranschaulicht. Aus der belasteten Beziehung von Agnes zu ihrer Mutter ergibt sich fast symbolisch die Beziehung zur Magd Anna, die ihre Tochter verloren hat. Marias Beziehung zum Arzt David scheitert und die Ehe von Karin ist schon längst gescheitert. Diese Rückblenden werden durch das Blenden ins Rot ein und ausgeleitet. Auch das titelgebende "Flüstern" kommt hier zum Einsatz. Nicht nur die Rückblenden verzahnen sich durch das Rot mit der Gegenwart, auch die Vision von Agnes am Ende des Films wird so ein und ausgeleitet.
Rotblenden :
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3 Schwestern

Maria ist im Grunde kalt. Immer sehr distanziert in ihrer Form, läßt sie keine richtige Nähe zu und es kommt ihr auch nichts nah. Ihre Figur wird auch schon früh in der Szene mit David beschrieben, als er ihr sagt :"Dein Teint ist matt und blass. Du schminkst dich. Diese feine, breite Stirn hat nun 4 Falten über jeder Augenbraue. Weißt Du wie sie dorthin kamen ? Gleichgültigkeit, Maria. Und diese feine Kontur vom Ohr zum Kinn ist nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Selbstzufriedenheit und Trägheit haben sich dort eingenistet. Warum lächelst Du immer so höhnisch Maria ? Siehst Du das ? Das machst Du zu oft. Unter den Augen, diese scharfen, kaum sichtbaren Falten der Langeweile und Ungeduld."
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Karin hat diesen Schutz mit dem sich Maria auf Distanz hält nicht. Sie kann sich nur mit großer Anstrengung zusammennehmen. Dabei kann sie nach außen auch nicht so souverän wirken, wie Maria sondern wirkt immer verbissen. Sie verdrängt ihr innerstes mit größter Anstrengungskraft, ist immer der Vulkan kurz vor dem Ausbruch und steht unter einem innerem Druck, der durch die Ehe mit einem alten, zynischen Diplomaten nur verstärkt wird. Dieser Druck wird wunderbar in der Essensszene zwischen ihr und ihrem Gatten gezeigt, die quälend diesen Ekel veranschaulicht.
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Im Gegensatz zu ihrer Schwester ist sie ein heißer und gefühlvoller Mensch, der umsomehr vom Frust zerfressen wird. Besonders auch auf sexueller Ebene. Sie will etwas fühlen und empfinden können und fügt sich dort Schmerzen zu, wo sie auch am stärksten empfindet, im Genitalbereich. Zuvor wird in einer faszinierenden Montage gezeigt, wie sie von Anna entkleidet wird, so als ob ihr das Korsett vom Leib gerissen wird. Als sie sich dann in der darauffolgenden Szene mit einer Scherbe zwischen den Beinen verletzt wirft sie ihr Leid ihrem schockierten Gatten in extremstem Ausmass entegen.
Eine Szene, die Lars von Trier fast 40 Jahre später in "Antichrist" abwandelt.
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Am Ende ist auch Karin diejenige, die sich der Liebe ihrer Schwester vergewissern möchte, dann aber an Marias Kälte scheitert.

Agnes hat durch ihre jahrelange Krankheit am meisten gelitten ist aber auch von allen dreien am unverstelltesten und natürlichsten. Sie sucht nicht nur Wärme sondern findet sie auch. Einmal in der erlösenden Schlussszene am Ende und auch in den Szenen mit Anna, wo sie Geborgenheit und Mütterlichkeit spürt. Annas Rolle als Ersatzmutter für Agnes wird besonders in ihrer Vision am Ende deutlich als Agnes nach ihrem Tod erwacht und die Schwestern zu sich bittet. Beide wenden sich unter Vorwänden und Ekel von ihr ab. Nur Anna kann sich ihr annehmen. Diese Mütterlichkeit hält Bergman in dieser bemerkenswerten Szene fest, die an eine Pietà Michelangelos erinnert :
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Bergmans Themen sind hier wieder alle parat : Bewusstsein, Sterben, Tod, Beziehung zwischen Mann und Frau und nebenbei läßt er nicht nur was die Bildsymbolik angeht religiöses miteinfließen. Die letzte Weihe, die der Pfarrer Agnes gibt wird zu einem Selbstbekenntnis der Unfähigkeit seines Glaubens. Hier schwingt die ganze Lebensfeindlichkeit des Geistlichen mit, der unter Tränen gesteht, dass ihr Glaube stets größer als seiner gewesen ist. Eine Szene, die nicht nur in der Bildkomposition an Dreyers Ordet gemahnt.

Als ich den Film das erste Mal sah habe ich ihm zwar die meisterliche Bild und Farbkomposition zugestanden aber inhaltlich ließ er mich doch relativ distanziert zurück. Ich hatte große Probleme die Ebenen innerhalb des Films, besonders die Rückblenden, die durch das Rot auf und abgeblendet werden, einzuordnen. Dies änderte sich nun beim zweiten Sehen. Nun konnte ich mich nicht nur an den statischen Bildern erfreuen, er wühlte mich auch emotional auf und entließ mich mit einem erhabenen Gefühl der Befreiung.
Diese Erlösung am Ende, nach all den tiefen, roten Abgründen in die man blickt, gehört genauso zur Wahrhaftigkeit des Films, wie auch die erschütternden Szenen um Agnes und Karin. Im Grunde eine Erlösung, die auch an das Ende von Wilde Erdbeeren erinnert.

Und somit legen sich die Schreie und das Flüstern

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10/10

Ingmar Bergman Sven Nykvist Sterben Vision Seele Psyche Krankheit Rot Blende Schwestern Glaube Sehnsucht Liv Ullmann Harriet Andersson Ingrid Thulin



Schön, daß dieses überragende Meisterwerk nun mit einem ausführlichen Text (zu dem ich mich leider nicht aufraffen kann) gewürdigt wird. Ich mache ja kein Geheimnis daraus, daß ich Schreie und Flüstern für den besten Bergman-Film halte, woran auch die Tatsache, daß ich den deutlich heitereren und damit auch viel leichter zu ertragenden Fanny und Alexander persönlich etwas lieber mag, nichts ändert, denn an diesem Film ist wohl alles vollkommen: dieses Rot und die mit dieser Farbe verbundene strenge Stilisierung des ganzen Films; die ungeheure Intensität des Spiels aller Darsteller; die kunstvolle Erzählstruktur und das Geschick, mit dem die Rückblenden eingeflochten sind; die so quälend gedehnte Sterbeszene; besonders aber auch die Souveränität und Leichtigkeit, mit der Bergman in diesem Film die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit überschreitet. Das alles sind Dinge, die sich auch in anderen Bergman-Filmen finden lassen, hier aber sind sie in besonderer Fülle vorhanden, und zudem so vollkommen, wie es selbst bei Bergman nur selten der Fall ist. Ein unglaublicher Film!
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Hallo Settembrini ! Danke für Deine Worte :)
Ja, ein unglaublicher Film, der aber erst einem zweiten Anlauf bedurfte um vollständig zu mir durchzudringen. Ob es sein bester ist, vermag ich noch nicht zu sagen. An meinem ersten Platz "Persona" kann er jedenfalls noch nicht rütteln. Wenn wir irgendwann in baldiger Zukunft die Reihe beendet haben werde ich noch ein Ranking mit allen gesehenen Bergman Filmen veröffentlichen.
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Letztens wollte ich dich aufgrund deiner Worte zu KINDSKÖPFE 2 loben, und jetzt kommst du mir wieder mit diesem Schmarrn von Mountainman an.
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Letztens wollte ich dich aufgrund deiner Worte zu KINDSKÖPFE 2 loben, und jetzt kommst du mir wieder mit diesem Schmarrn von Mountainman an.

Ja, sowas aber auch ! :otto: Du bist mir auch so n Mountainman :D

@Settembrini : Weiß ja selber wie das so ist mit dem Aufraffen. Besonders wennn man den eigenen Anspruch hegt, ausführlich zu sein. Nichtsdestotrotz fände ich es natürlich großartig wenn Du doch noch den Film besprechen würdest. Schätze mal, dass Du biografisch dort noch einiges hinzufügen kannst ! :)
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Wieder mal eine grandiose Erinnerung, mich an meinen Tystnaden-Text zu machen...
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@Short Cut: Trotz Deiner wirklich netten Einladung zu einer ausführlichen Besprechung meinerseits wird eine solche wohl so bald nicht kommen, denn dafür müßte ich mir den Film natürlich vorher noch mal ansehen, damit keine Ungenauigkeiten in den Text kommen. Das wird aber noch ein wenig dauern, da die letzte Sichtung noch nicht so sehr lange zurückliegt, und Schreie und Flüstern gehört nun doch nicht zu den Filmen, die ich mir dauernd ansehen könnte.
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Das wird aber noch ein wenig dauern, da die letzte Sichtung noch nicht so sehr lange zurückliegt, und Schreie und Flüstern gehört nun doch nicht zu den Filmen, die ich mir dauernd ansehen könnte.
Was ich wiederum auch verstehen kann ;)
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