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Herr Settembrini schaltet das Licht an

Oberlehrerhafte Ergüsse eines selbsternannten Filmpädagogen




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Das Schweigen der Lämmer



Hinweis: An dieser Stelle die übliche Warnung vor preisgegebenen Inhalten...

Mein Filminteresse erwachte vor mittlerweile fast zwanzig Jahren im Jahr 1994 zwar nicht gerade von einem Tag auf den anderen, aber doch innerhalb sehr kurzer Zeit durch recht wenige Filme. Einer davon war Das Schweigen der Lämmer, der auf Anhieb zu einem meiner Lieblingsfilme wurde - und dies bis heute geblieben ist.

Das Schweigen der Lämmer ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Thomas Harris; dabei steht die junge FBI-Agentin Clarice Starling im Mittelpunkt von Buch und Film. Clarice wird von ihrem Chef Jack Crawford beauftragt, den Psychiater und kannibalistischen Serienmörder Dr. Hannibal Lecter zu interviewen; der Fragebogen, mit dem er Clarice zu Lecter schickt, ist allerdings nur ein Vorwand (hier unterscheidet sich der Film übrigens vom Roman), denn tatsächlich vermutet Crawford (zu Recht) eine Verbindung zwischen Lecters Fall und dem eines noch frei herumlaufenden Serienmörders, der von der Presse "Buffalo Bill" genannt wird, und hofft, daß Clarice Informationen aus Lecter herausholen kann (da er wohl ebenfalls zu Recht annimmt, daß auf einem anderen Weg überhaupt nichts aus Lecter herauszubekommen wäre). Tatsächlich gibt Lecter Clarice (häufig recht verschlüsselte) Hinweise, verlangt aber, daß sie im Gegenzug persönliche Details aus ihrer Kindheit verrät. Clarice gelingt es schließlich, "Buffalo Bill" zu finden und dabei zu töten - gerade noch rechtzeitig, um seinem letzten Entführungsopfer das Leben zu retten; allerdings zu einem hohen Preis, denn Lecter ist unterdessen die Flucht gelungen, was vor allem Dr. Chilton, der arrogante Leiter der Anstalt, in der Lecter jahrelang einsaß, zu verantworten hat (dafür folgt ihm Lecter aber in der Schlußeinstellung auch mit nicht mal zehn Metern Abstand...).

Jonathan Demmes meisterhafter Film folgt Harris' Roman (der zumindest teilweise als Fortsetzung des Romans Roter Drache angelegt ist, während im Film alle Verweise auf die frühere Geschichte sorgfältig entfernt sind, so daß er völlig für sich steht) recht genau (die vielleicht gravierendste Änderung habe ich bereits erwähnt) - und ist für mich trotzdem eines der besten Beispiele für eine Romanverfilmung, die das zugrundeliegende Buch noch beträchtlich übertrifft. Das liegt nicht so sehr am Inhalt, sondern vor allem am Stil. Harris ist sicherlich ein guter Handwerker, der seinen Roman mustergültig aufgebaut hat und sehr gut weiß, wie er Spannung beim Leser erzeugen kann; es käme mir aber nicht in den Sinn, ihn als wirklich großen Schriftsteller zu bezeichnen. Der Film dagegen versteht es, nicht nur eine sehr starke äußere Spannung zu erzeugen, sondern gehört auch zu den vergleichsweise seltenen Thrillern (wenn man ihn als Thriller rezipieren will, denn man könnte ihn auch als Drama einerseits, als Horrorfilm andererseits betrachten - besonders für letzteres sprechen so einige Gründe), die daneben auch starke und interessante Figuren zu bieten haben; und er zeichnet sich durch eine Vieldeutigkeit aus, die ich dem Roman beim besten Willen nicht zugestehen kann.

Dabei lohnt es sich aber durchaus, zunächst einmal zu betrachten, auf welche Weise der Film zunächst Spannung erzeugt und diese auf permanent hohem Niveau hält: Jonathan Demme bedient sich klassischer Suspense-Techniken, wie man sie von Hitchcock kennt: erwähnt sei etwa, wie die Kamera den so verhängnisvollen Kugelschreiber, der zu einem Werkzeug bei Lecters Flucht wird, so ins Bild setzt, daß dessen Bedeutung erkennbar wird; erwähnt sei auch die meisterhafte Parallelmontage kurz vor dem Ende des Films, wenn der Zuschauer erst am Ende der Sequenz erkennt, daß das FBI das falsche Haus stürmt, während Clarice ganz allein mit "Buffalo Bill" (der tatsächlich Jame Gump heißt) fertig werden muß. Hinreißend ist auch, wie verschiedene Szenen oftmals durch einzelne Dialogsätze, also über die Tonspur verbunden werden; so etwa, wenn Dr. Chilton eine Frage beantwortet, die Clarice zuvor Jack Crawford gestellt hat. Das ist ein ganz altes Verfahren, das man schon in Fritz Langs M findet, aber nur wenige Filme haben seit M so überzeugenden Gebrauch davon gemacht. Andererseits arbeitet Demme in den gemeinsamen Szenen von Jodie Foster und Anthony Hopkins hauptsächlich mit Schuß-Gegenschuß und läßt seinen beiden überragenden Hauptdarstellern weitgehend den Vortritt. Und er tut gut daran, denn daß die Beziehung zwischen Clarice und Dr. Lecter zu einer der faszinierendsten und vielschichtigsten der Filmgeschichte gehört, ist sicher auch der Vorlage (wo die direkten Konfrontationen der zentralen Figuren zu den stärksten Passagen gehören) und Ted Tallys hervorragendem Drehbuch zu verdanken, zu einem beträchtlichen Teil aber dem Spiel von Foster und Hopkins. Gerade eine der Schlüsselszenen des Films, die letzte direkte Begegnung zwischen Clarice und Lecter, gewinnt so eine wunderbare Mehrdeutigkeit: ist es der kannibalische Serienmörder, der Clarice dazu drängt, ihm ihr Kindheitstrauma zu schildern, weil er sich daran ergötzen will? Oder spricht hier der Psychiater, der seine Patientin heilen will? In dem ungemein intensiven Moment, in dem sich die Finger der beiden sekundenlang berühren, erscheint dann sogar die Lesart möglich, daß zwischen ihnen eine heimliche, nicht ausgesprochene und nicht eingestandene Liebe besteht (und nur in dieser Form ist das reizvoll, während ich Harris' Einfall, aus Clarice und Lecter in der Fortsetzung ein wirkliches Liebespaar zu machen, völlig meschugge finde). Aber diese seltsame Beziehung lädt noch zu weiteren Interpretationen (oder Assoziationen, um es etwas vorsichtiger auszudrücken) ein: so scheint in der Vereinbarung mit Dr. Lecter, auf die Clarice sich einläßt, natürlich auch das faustische Motiv vom Pakt mit dem Teufel durch.
Dabei sollte man natürlich nicht übersehen, daß Clarice die eigentliche Hauptfigur ist: der Film schildert vor allem, wie sie sich in einer Männerwelt, die in ihrer Gesamtheit von Gewalt, entfesselten Trieben und Wahnsinn beherrscht wird, behaupten muß, und Jodie Foster versteht es dabei auf hinreißende Weise, Clarice als ebenso mutige wie ehrgeizige, aber auch verletzliche junge Frau zu zeigen, die es schließlich versteht, sich auch von ihrem Ersatzvater Jack Crawford wie von Dr. Lecter zu emanzipieren - insofern steht Das Schweigen der Lämmer auch dem klassischen Bildungsroman durchaus nahe. Zu der Eindringlichkeit, mit der Clarice' mühsame Behauptung dargestellt wird, tragen natürlich auch die Bilder maßgeblich bei: so zeigt Demme noch in der Titelsequenz, wie Clarice als einzige Frau in einen Fahrstuhl einsteigt, in dem lauter (recht kräftig gebaute) Männer sind - und verdichtet so ein zentrales Thema des Films in einer einzigen, noch dazu sehr kurzen Einstellung (vergleichbare Bilder findet man in der Szene, die der Obduktion eines der Opfer Jame Gumps vorausgeht). Zuvor sah man Clarice im Wald verschiedene Hindernisse erklimmen, die als Vorboten der Hindernisse, die sie im weiteren Film noch überwinden muß, erscheinen. Doch auch die Rückblenden, die Clarice als kleines Mädchen zeigen, sind wunderbar und zeugen davon, mit welchem Einfühlungsvermögen sich Demme seiner Hauptfigur nähert.

Besonders zugute kommt dem Film zudem Demmes Gespür für Atmosphäre (welches sich sehr schön etwa bei Jame Gumps seltsamen Tanz zum Song "Goodbye Horses" kurz vor dem Finale des Films zeigt), von dem bereits sein vorzüglicher Konzertfilm Stop Making Sense so profitiert hatte, aber auch seine Fähigkeit, in den zumeist realistischen Stil des Films Bildmetaphern und stilisierte Elemente einzuflechten, die dann Spielraum für faszinierende Interpretationsansätze eröffnen. Wenn etwa Clarice erstmals Lecter besucht und am Eingang zu dem Korridor, in dem Dr. Lecter und die anderen Gefangenen sie erwarten, steht, wird das Bild von einem intensiven Rot erfüllt - gerade so, als ob Clarice jetzt in den Tartaros einträte; und auch das Haus "Buffalo Bills" gemahnt an ein Unterweltreich. Dies lädt zu geradezu mythologischen Deutungen ein; insofern könnte der Film auch "Clarice in der Unterwelt" heißen. Zwingend ist diese Lesart selbstverständlich nicht, aber reizvoll.
Ebenso reizvoll ist auch die Verwendung des Schmetterlings- bzw. Insektenmotivs, das (nicht zuletzt nach Dr. Lecters Worten) für Verwandlung steht: neben den wirklichen Nachtfaltern, die zu sehen sind, gibt es auch Anklänge an dieses Motiv. So verleiht das Nachtsichtgerät, das Jame Gump benutzt, ihm ein fast insektenartiges Aussehen, allerdings erscheint er nicht wie ein Schmetterling, sondern eher wie ein Insekt, das eine nicht geglückte Transformation durchlaufen hat (so wie auch die vom ihm angestrebte Metamorphose nicht gelingt).
Stilisiert ist auch die grausige (und auch beim x-ten Sehen immer noch äußerst beklemmende) Szene, die Lecters Ausbruch aus seinem Käfig zeigt: sie wirkt geradezu choreographiert und ist vielleicht gerade deshalb so schockierend. Auch dies gehört wohl zu den vielen Geheimnissen dieses Films: daß seine brutalsten Momente zugleich die am stärksten stilisierten sind und daß er mit Schockeffekten nicht eben geizt, diese aber trotzdem nicht zum Selbstzweck werden.

Durch solche Qualitäten ist Das Schweigen der Lämmer ein Film, der auch beim wiederholten Sehen faszinierend bleibt, weil er immer wieder neue Sichtweisen zuläßt - und weil sich immer wieder Details entdecken lassen, die einem zuvor noch nicht aufgefallen sind. Interessant ist dabei, daß man sich den Film heute mit keinem anderen Regisseur und auch keinen anderen Hauptdarstellern vorstellen kann; doch es stand keineswegs von Beginn an fest, daß das Team, das ihn schließlich gedreht hat, in dieser Form zusammenfinden würde. Vielmehr war vor Jodie Foster schon Michelle Pfeiffer die Rolle der Clarice Starling angeboten worden, und Gene Hackmann erwog wohl, sowohl die Lecter-Rolle zu spielen als auch die Regie zu übernehmen. Daß der Film also in seiner jetzigen Form entstand, ist wohl auch ein glücklicher Zufall, vielleicht der glücklichste Zufall seit Casablanca.

Erstaunlicherweise erkannte sogar die Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die solche Filme wie Das Schweigen der Lämmer normalerweise mit spitzen Fingern anfäßt, die Qualitäten des Meisterwerks und zeichnete es in einer ihrer Sternstunden mit den fünf "Hauptoscars" aus. Die Berlinale-Jury (unter dem Vorsitz von Volker Schlöndorff) hatte kurz zuvor leider die Gelegenheit verpaßt, dem Film den Goldenen Bären zuzusprechen, denn in der Jury wollte man "Kunst statt Horror" sehen - und übersah dabei, daß das eine das andere nicht ausschließen muß. Der (zudem geteilte) silberne Bär für Jonathan Demmes Regie war da eher ein Alibi-Preis. Schade.
So großartig ich den Film insgesamt und auch Anthony Hopkins Darstellung des Dr. Lecter finde, muß ich hier allerdings noch anmerken, daß mir der Hannibal-Lecter-Kult, den der Film ausgelöst hat (und der wohl der Hauptgrund dafür ist, daß diverse weitere Lecter-Filme und neuerdings auch eine Fernsehserie gedreht wurden) ein wenig suspekt ist. Es ist inzwischen zur Mode geworden, Das Schweigen der Lämmer allein zur Hannibal-Lecter-Show zu reduzieren, was dem Film in keiner Weise gerecht wird.
Dies ändert aber nichts an meiner Bewunderung des Films selbst, den ich vielmehr für den besten Film der 90er Jahre halte - und darüber hinaus für einen der zehn besten Filme überhaupt. Daß er natürlich nach wie vor auch dem engsten Kreis meiner Lieblingsfilme angehört, muß ich wohl nicht eigens betonen.




Hut ab kann ich da nur sagen und weiter so :)

Ich weiß nicht mehr wo und in welchem Zusammenhang aber ich habe vor gar nicht allzu langer Zeit gelesen, dass die Szene in der der ausgeweidete Polizist am Gitter, in einer Mischung aus Schmetterling und Kreuzigung, hängt, ein direktes Zitat ist. Weiß nicht mehr wo und von was.
Wenn ich das nochmal finde reich ich es nach !
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Ich meine mich zu erinnern, daß dieses grausige Detail auf eines der Papst-Bilder Francis Bacons (die ihrerseits auf Velazquez zurückgehen) recht deutlich anspielt, wie auch schon der Käfig, in dem Lecter sitzt. Da bin ich aber auch nur durch ein Buch drauf gestoßen und wäre vermutlich nie selbst drauf gekommen, und deshalb habe ich es im Text auch nicht weiter erwähnt.
Allerdings hätte der Polizist am Gitter eigentlich schon in meinen Text gehört, ich weiß auch nicht so recht, warum ich dann doch nichts dazu geschrieben habe. Aber ich hatte gestern Abend gleich nach dem Film einen Zettel mit äußerst eng mit Notizen in sehr kleiner Schrift beschrieben, um mir zu überlegen, worauf ich alles eingehen will, habe dann aber doch ein paar wichtige Sachen vergessen... Denn diese unglaublichen Einstellungen im Finale, wenn man durch das Nachtsichtgerät hindurch sieht, wie "Buffalo Bill" die Hand nach Clarice Haar ausstreckt, hätten eigentlich ebenfalls eine kurze Betrachtung verdient.
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Das mit Bacon könnte sein. Ich meine aber es war ein filmgeschichtliches Zitat. Werd da mal die nächsten Tage graben....

Zitat

Aber ich hatte gestern Abend gleich nach dem Film einen Zettel mit äußerst eng mit Notizen in sehr kleiner Schrift beschrieben, um mir zu überlegen, worauf ich alles eingehen will, habe dann aber doch ein paar wichtige Sachen vergessen...

Lustig, genauso mache ich das auch meistens. Bis auf Bergman. Das ist dann Brainstorming mit meinem Mitstreiter.

Zitat

Denn diese unglaublichen Einstellungen im Finale, wenn man durch das Nachtsichtgerät hindurch sieht, wie "Buffalo Bill" die Hand nach Clarice Haar ausstreckt, hätten eigentlich ebenfalls eine kurze Betrachtung verdient.
Halte ich ja für einen der geilsten POV Shots der Filmgeschichte !
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