Zum Inhalt wechseln


Gernguckers Filmtagebuch





Foto

September '12: "Liebe" und mehr



Eine insgesamt recht interessante und lohnenswerte Kinoausbeute im September:


"Liebe" (Michael Haneke) überträgt die Provokationen und Herausforderungen von Haneke so emotional und bedrückend wie noch nie. Zwei Menschen (wie immer in seinen eigenen Drehbüchern: Georges & Anne) am Abend ihres Lebens, in Liebe und trauter Zweisamkeit vereint. Haneke weiß, dass sich diesem Thema niemand entziehen kann, vor dem Alter bleibt niemand gefeit. Er bleibt so schonungslos nah dran an seinen Figuren wie gewohnt, wodurch auch ihre Geschichte von Treue und Aufopferung sich nur schwer durchstehen lässt. Bis auf eine Ausnahme bleibt das bewegende menschliche Drama ein Kammerspiel, bleibt hinter verschlossenen Türen für "die anderen" verborgen, ein absolut intimes letztes Zeugnis von Liebe. In der einzigen “Aussenszene” lässt uns Haneke übrigens nach seinen Figuren in der Masse fischen, wie bereits im Schlussbild von "Cache". Damals entließ er eine Söhnegeneration in ein neues hoffnungsvolles Nebeneinander, hier in "Liebe" sammelt er seine Protagonisten vom letzten Ausflug in das gesellschaftliche Leben ein.


"Herr Wichmann aus der dritten Reihe" (Andreas Dresen) macht den bodenständigen Lokalpolitiker aus Brandenburg echt sympathisch. Ein moderner Don Quixotte im Kampf mit den unglaublichsten Alltagsproblemen seiner Bürger, für die er so empfänglich bereitsteht. Eine politische Bestandsaufnahme an der schmerzhaft wahren Basis ohne "Parteinahme".

"Holy Motors" (Leos Carax) mit seinem labyrinthischen Aufbau und Metamorphosen könnte man als Hommage an das Kino, wo alles möglich, nichts real ist, deuten. Eine Hommage an die Fiktion auf der Leinwand, überbordend und grenzenlos, ein Zappen von Film zu Film, ein magischer Ort der Verwandlung, eine tolle Spielwiese für Maske, Kostüme und Kulissen. Oder ein verschlungener Traum, ein verästeltes, an den Rändern offenes Gedankenkonstrukt, ein Dutzend im Kopf herumspukender Ideen nicht realisierter Projekte. Oder ...

"The Exchange" (Eran Kolirin) verfolgt den Ausbruch eines jungen Uniprofessors aus seinen gewohnten Bahnen, der plötzlich sein Leben mit dem Blick eines Außenstehenden sieht. Ein ganzes Stück weit interessant, nachvollziehbar, herausfordernd und unbedingt diskussionsanregend, denn an einigen Stellen ist mir persönlich das Verständnis für den Protagonisten abhanden gekommen und hat sich regelrecht umgekehrt. Der Film ist ähnlich wie bereits "Die Band von nebenan" sehr ruhig und beobachtend gestaltet.

"Was bleibt" (Hans Christian Schmid) rückt eine Frau in seinen Mittelpunkt, die an Depressionen leidet (litt), die selbst unsichtbar bleiben und nur über das Verhalten der Familienmitglieder und den Verweis auf früher angedeutet werden. Das Familiendrama rüttelt am Beziehungsgefüge, offenbart allmählich die vorhandenen Risse im Vertrauensverhältnis der Familie, dem sich die Frau auf ihre Weise entzieht.

"Die Fee" (Dominique Abel & Co.) ist eine ganz wunderbar-schräge Groteske von den Machern von "Rumba", die sich in ähnlichem Stil erneut hoffnungslos für einzelne ganz urkomische Szenen verausgaben und dafür in Kauf nehmen, dass ihre kleine sympathische und mitunter sehr artistisch wirkende Aufheiterung keinen nennenswerten dramaturgischen oder erzählerischen Zielen folgt. Hab den Film trotzdem gemocht.

"To Rome with Love" (Woody Allen) dekliniert auf der nächsten Station von Woodys Europareise auf gewohnt witzig und charmante Weise Rom für die Leinwand durch (Liebe, Temperament, Architektur, Kunst, Familie, Touristen, Kochen & Essen, Cafes & Nebenstraßen, Medien & Kunst). Kurzweilig und unterhaltsam wie immer. Für mich leider kein so bleibender Film wie "Midnight in Paris".

"Suicide Room" (Jan Komasa) ist ein toller zeitgemäßer Jugendfilm der Generation Internet. Geschichte und Form gehen hier sehr gut zusammen und offenbaren ein sehr bewegendes und lebendiges Porträt auf Augenhöhe seines Protagonisten.

"Der Fluß war einst ein Mensch" (Jan Zabeil) ist ein bemerkenswertes deutsches Regiedebüt, das ohne Drehbuch als echtes Abenteuer in Afrika entstand, weniger ein Film statt einem todestraumwandlerischen(?) wie entbehrungsreichen Erfahrungstrip, den ein junger Deutscher in Afrika erlebt.




HOLY MOTORS hat keitel schon mit einschränkungen empfohlen. habe den leider nicht gesehen, denn er lief bei uns nur um 23.00h oder so ähnlich. wird aber nachgeholt.
LA FEE mochte ich. das war mein erster film dieser leute. alles sehr märchenhaft, sympathisch, humoristisch teilweise wahnwitzig kreativ. aber leider halt auch etwas gefällig/anbiedernd. aber egal: würde ich mir wieder angucken.
SUICIDE ROOM hatte ich mal auf dem radar. letztendlich habe ich ihn nicht angesehen, weil das nicht so interessant für mich klang. nach deiner empfehlung werde ich den film aber nachholen! danke.
TO ROME WITH LOVE werde ich mir auch ansehen, natürlich.

p.s.: von THE EXCHANGE höre ich hier zum ersten mal. ist wohl völlig an mir vorübergegangen.
  • Melden
Ein September-Überblick, sehr hübsch. Im Fall von "Holy Motors" hatte ich einen Kinobesuch kurzfristig erwogen, mich aber letztlich doch dagegen entschieden (was ich im Kurzkommentare-Thread erklärt habe), und bei "Liebe" hat mich das Thema letztlich doch so abgeschreckt, daß ich ebenfalls auf den Kinogang verzichtet habe, obwohl der Film vermutlich sehr gut ist.

"Suicide Room" sehe ich doch etwas reservierter. Den Hauptdarsteller fand ich ziemlich gut, aber die virtuellen Szenen nahmen m.E. ein wenig überhand, und dann fand ich es (fetter Spoiler) doch nicht ganz überzeugend, daß Dominik sich nach der Aussprache mit seinen Eltern doch noch umgebracht hat. Vorher hätte ich es als durchaus stimmig empfunden, so fand ich es dagegen nicht ganz rund.
  • Melden

Ubaldo Terzani sagte am 03. Oktober 2012, 22:34:

p.s.: von THE EXCHANGE höre ich hier zum ersten mal. ist wohl völlig an mir vorübergegangen.

Ich glaube, “The Exchange” hatte nur eine Art Pflichtkinostart und musste lediglich in einer bestimmten Anzahl Kinos 7 Tage hintereinander laufen. Der Film ging im großen Startgewusel um den 31. August leider total unter, man hat praktisch nichts über ihn berichtet. Selbst eine große Filmzeitschrift wie der "Filmdienst" hat seine Filmbesprechung jetzt erst nach vier Wochen nachgeliefert. Ich bin nur hellhörig geworden, als ich über einen neuen Film aus Israel vom Regisseur von “Die Band von nebenan” las und der bei uns gezeigt wurde. Der Kinobesuch war dann auch eine Privatvorstellung nur für mich, niemand sonst hatte sich an diesem Tag in diesen Film verirrt. Schade eigentlich, denn der Film hält durchaus Diskussionspotential bereit. Ich konnte anschließend mit niemanden meine kleine Rage teilen, in die mich das Verhalten des (der) Protagonisten geführt hat.
  • Melden

Settembrini sagte am 04. Oktober 2012, 17:23:

"Suicide Room" sehe ich doch etwas reservierter. Den Hauptdarsteller fand ich ziemlich gut, aber die virtuellen Szenen nahmen m.E. ein wenig überhand, und dann fand ich es (fetter Spoiler) doch nicht ganz überzeugend, daß Dominik sich nach der Aussprache mit seinen Eltern doch noch umgebracht hat. Vorher hätte ich es als durchaus stimmig empfunden, so fand ich es dagegen nicht ganz rund.

Ach stimmt ja, du hattest “Suicide Room” damals zur Berlinale gesehen. Ich hab gerade noch mal deinen Text herausgesucht, ist ja noch online erreichbar. Der Anteil der virtuellen Szenen war in der Tat sehr groß und grenzwertig. Aber angesichts der Tatsache, dass Dominik sich zu einem größeren Teil in dieser virtuellen Welt aufhielt, war das also durchaus angemessen und im Sinne der Charakterisierung des Protagonisten. Hat mich (noch) nicht gestört. Zu deinem Spoiler: Eine Aussprache mit den Eltern gab es ja nicht wirklich. Dominik hat doch nur nach einem Weg gesucht, um seiner Cyberfreundin die gewünschten Tabletten zukommen zu lassen. Und dazu musste er aus seinem Zimmer raus, musste Pseudovertrauen aufbauen, folgte den Instruktionen, was er sagen musste, um an die richtigen Tabletten zu kommen. Nein, die Aussprache war nur ein Mittel zu einem anderen Zweck. Aber dass letztlich er doch schon so krank im Kopf war, dass er selbst die Tabletten schluckte, war auch für mich eine kleine Überraschung.
  • Melden

Gerngucker sagte am 04. Oktober 2012, 19:53:

Ich glaube, “The Exchange” hatte nur eine Art Pflichtkinostart und musste lediglich in einer bestimmten Anzahl Kinos 7 Tage hintereinander laufen. Der Film ging im großen Startgewusel um den 31. August leider total unter, man hat praktisch nichts über ihn berichtet. Selbst eine große Filmzeitschrift wie der "Filmdienst" hat seine Filmbesprechung jetzt erst nach vier Wochen nachgeliefert. Ich bin nur hellhörig geworden, als ich über einen neuen Film aus Israel vom Regisseur von “Die Band von nebenan” las und der bei uns gezeigt wurde. Der Kinobesuch war dann auch eine Privatvorstellung nur für mich, niemand sonst hatte sich an diesem Tag in diesen Film verirrt. Schade eigentlich, denn der Film hält durchaus Diskussionspotential bereit. Ich konnte anschließend mit niemanden meine kleine Rage teilen, in die mich das Verhalten des (der) Protagonisten geführt hat.

ah, also nicht nur vom stil her ähnlich wie BIKUR HATIZMORET (wie in deinem ftb-eintrag anklang) sondern auch noch vom selben regisseur.
-> kommt auf ubaldos "must see"-liste :doc: :love:
  • Melden
ubaldo film jetzt gesehen. die virtuellen szenen sind m. e. zwar scheiße, aber gottseidank sehr sparsam gesät (da widersprech ich euch beiden :bart:). die szenen in der realität fand ich hingegen ganz ordentlich inszeniert.

zum ende: hm ja, melodramatisches drehbuchkonstrukt. das hat mich, wie settembrini, nicht wirklich überzeugt (wenn auch aus anderen gründen; nämlich: er wollte sie vom suizid abhalten und leben, sie wollte nicht leben, und am ende ist es genau andersrum ...ist schon sehr konstruiert, dieser plötzliche dramatische twist, finde ich)

abgesehen davon ist SALA SAMOBOJCOW für mich ein interessanter, in manchen szenen berührender, in manchen szenen schockierender (die eltern, himmel!) und formal durchaus ansprechender film.

7/10

ich glaub, dieses jahr habe ich aus polen nix besseres gesehen, sondern nur schlechteres als diesen film. ich bin also zufrieden. :) danke nochmal an gerni für den filmtipp.
  • Melden
nachtrag:

ubaldo sollte nachts im alkoholisierten zustand keinen film kommentieren, weil: sieht scheiße aus und klappt eh nicht.
  • Melden
Gut, auf den Gedanken, daß die Aussprache für Dominik nur Mittel zum Zweck war, war ich seinerzeit nicht in dieser Klarheit gekommen, aber er ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Allerdings hat Ubaldo ja inzwischen überzeugend erklärt, warum das Ende trotzdem nicht wirklich stimmig ist...
  • Melden

Filmtagebuch von...

Gerngucker
  • Mitglied
  • PIP
  • 42 Beiträge

Neuste Einträge

Neuste Kommentare

Letzte Besucher