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Gernguckers Filmtagebuch





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Bela Tarr



Bela Tarr

Der ungarische Regisseur hat nur 10 Langspielfilme gedreht, von denen mir die ersten fünf - "Csaladi tüzfeszek - Family Nest" (1979), "Szabadgyalog - The Outsider" (1981), "Macbeth" (1982), "Panelkapcsolat - The Prefab People" (1982) und "Öszi Almanach - Almanac of Fall" (1984) - leider unbekannt sind.
Ich kenne erst die zweite Hälfte von Bela Tarrs Filmwerk, in dem er sich immer stärker auf die Spuren von Andrej Tarkowski begab: kontemplative, bildstarke, in langen Einstellungen gedrehte Filme. Mit Erscheinen seines jüngsten Filmes, "Das Turiner Pferd", gab Bela Tarr bekannt, dass dies sein letzter Film als Regisseur gewesen sein soll, da er nun alles gezeigt habe, was es zu zeigen gab, und er sich in seinem Werk nicht wiederholen möchte.


Verdammnis - Kárhozat (1988)
(116 min, 55+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 122 sek.)
Die menschliche Gesellschaft steht am Abgrund, überall herrscht Gesetzlosigkeit, falsche Moral und Ausweglosigkeit. Ein Mann rafft sich auf und zeigt die Menschen aufgrund ihres falsch gewählten Weges vor einem höheren Gericht an, für die er beispielgebend vor die Hunde geht.

Satanstango - Sátántangó (1994)
(450 min, 154+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 173 sek.)
Ein Szenario des Schreckens, in vielen Persepektivwechseln festgehaltener Niedergang einer dörflichen Gemeinschaft. Die Menschen erniedrigen sich immer mehr, selbst das jüngste Mitglied der zerbröckelnden Gemeinde vergeht sich an einem noch wehrloseren Wesen. Bis ein Visionär auftaucht, sie alle blendet und die letzten Reste der Gemeinschaft zerstört.

Die Werckmeisterschen Harmonien - Werckmeister harmóniák (2000)
(145 min, 37+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 223 sek.)
Auch hier steht eine Gesellschaft vor ihrem Niedergang. Eine rechte Diktatur manifestiert sich, deren Anhänger als randalierender Mob durch die Straßen zieht, Angst verbreitet und die geordnete Welt aus den Angeln hebt. Ein letzter Anblick der Menschlichkeit stoppt den Gewaltzug, nicht aber den Sittenverfall.

Der Mann aus London - A Londoni Férfi (2007)
(139 min, 29+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 269 sek.)
Ein die Genrekonventionen mißachtender Kriminalfilm. Ein Polizeiinspektor taucht in einer französischen Hafenstadt auf, fahndet nach einem Mann und einem Geldkoffer. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf den Wächter des Hafenturmes, der wie ein stiller Beobachter über dem Schauplatz thront.

Das Turiner Pferd - A Torinói Ló (2011)
(146 min, 28+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 292 sek.)
Bela Tarrs Umkehrung der Schöpfungsgeschichte lässt die uns bekannte Welt in sechs Tagen untergehen. Ein unablässiger Wind heult, ein Pferd versagt seinen Dienst, das Wasser versiegt, das Licht schwindet. Kompromissloser kann man weder einen Niedergang zeigen noch sein Filmwerk beenden.


All diese Filme sind schwarzweiß, in langen Einstellungen und mit respekteinflösenden, komplexen Kamerabewegungen gedreht. Als Kameramänner fungierten u.a. Fred Kelemen (der selbst formal gleichartige Filme dreht) und Gabor Medvigy. Bei "Die Werckmeisterschen Harmonien" arbeiteten sogar insgesamt 6 Kameramänner mit.
Mit jedem Film steigerte Bela Tarr seine durchschnittliche Einstellungslänge auf bis zu 292 Sekunden je Einstellung. Dabei sind einzelne Einstellung sogar an die 10 Minuten lang. Schon bereits bei "MacBeth" experimentierte er mit den Plansequenzen und drehte diesen Film in nur 2 Einstellungen. Damit gesellt sich Bela Tarr an die Seite ähnlich arbeitender Filmemacher wie Andrej Tarkowski oder Theo Angelopoulos, die mit langen Plansequenzen und wenig Schnitten arbeiteten. Zum Vergleich: der Film "Casablanca" besteht aus einer durchschnittlichen Einstellungslänge von 7,3 Sekunden. Bela Tarr dehnt also die Leinwandzeit gewaltig und bricht dadurch Zeit und Raum in seinen Filmen auf. Deshalb ist sicher auch seine Stamm-Cutterin Agnes Hranitzky, die an insgesamt 8 seiner Filme mitwirkte, meist auch Co-Regisseurin, da die Filme durch die langen Einstellungen über eine innere Montage verfügen und sorgsam geplant werden müssen.

Die Figuren in den Filmen von Bela Tarr sprechen in der Regel eher wenig. Sie ergeben sich ihrem Schicksal, registrieren stumm den Zerfall ihres Umfeldes. Der allgemeinen Sprachlosigkeit setzt Bela Tarr in jedem seiner Filme mindestens einen langen Monolog einer Figur entgegen.
Fast alle Filme haben lange nächtliche Szenen, die mit der Dunkelheit spielen, die auf die Figuren drückt und sie vereinsamt. Hinzu kommt das Einbinden von Wetterunbilden wie Wind ("Das Triner Pferd") oder Regen ("Verdammnis", "Satanstango"), die den Handlungsort zu einem gebeutelten, schmutzigen Flecken Erde kurz vor seiner Ausradierung ausgestalten.

Alle oben genannten 5 Filme sind in Zusammenarbeit mit Laszlo Krasznahorkai entstanden, ein Autor, dessen Romane Bela Tarr verfilmte, bzw. der die Drehbücher für die anderen Filme mitschrieb. Zwischen Tarr und Krasznahorkai muss eine große Seelenverwandschaft bestehen, denn gemeinsam ersannen sie immer wieder Stoffe über den Niedergang der Menschheit, über drohende kleine und große Apokalypsen. Den Krasznahorkai-Roman "Satanstango" verfilmte Bela Tarr in einer Laufzeit von siebeneinhalb Stunden, weil das genau die Zeit ist, die man braucht, um das Buch zu lesen. Diese Verfilmung ist deshalb auch sehr werksgetreu, ja fast wortgetreu ausgefallen.

Auch der Komponist Vig Mihaly gehört zu den engsten Mitarbeitern von Bela Tarr. Seit "Öszi Almanach" steuerte der ungarische Musiker die Filmmusik bei und fügt dabei eine ganz wichtige Komponente zum Gelingen der Bela Tarr-Filme hinzu. Im Film "Satanstango" übernahm er auch die Rolle des Verblenders Irimias. Jedem Film widmet Vig Mihaly eine unverwechselbare melancholische, schmerzlich berührende Grundmelodie, die dann im Film meist drei, vier, fünf Szenen über mehrere Minuten hinweg gleichförmig untermalt. Das sind dann fast immer die intensivsten Minuten eines Filmes und jene, die einen letzten Rest Hoffnung bewahren und die Menschen zusammenrücken lassen. Diese Szenen sind traurig, schmerzhaft-schön und absolut berührend.
Hier sind zwei Hörbeispiele aus den Filmen "Verdammnis" und "Werckmeistersche Harmonien":



Auch vor der Kamera gibt es ein wiederkehrendes Stammpersonal in den Bela Tarr Filmen. Janos Derzsi spielte nicht nur den runzeligen, mimisch-starken Besitzer des "Turiner Pferdes" sondern in Nebenrollen auch den Kraner in "Satanstango", den "Mann aus London" oder einen der Anführer des gewaltbereiten Mobs in "Werckmeistersche Harmonien". Erika Bok ist eine wunderbare Zufallsentdeckung fernab des Filmgeschäftes, die drei Filme bereicherte, unvergesslich sind ihre Rollen als Estike in "Satanstango" und die Bauerstochter im "Turiner Pferd". Als dritter sei Miklos Szekely erwähnt, der Hauptrollen in "Satanstango" und "Verdammnis" übernahm.


Die Rangfolge der mir bekannten Filme sieht wie folgt aus:

(1) Das Turiner Pferd - A Torinói Ló (2011)
(2) Die Werckmeisterschen Harmonien - Werckmeister harmóniák (2000)
(3) Satanstango - Sátántangó (1994)
(4) Verdammnis - Kárhozat (1988)
(5) Der Mann aus London - A Londoni Férfi (2007)


Obwohl ich das Werk von Bela Tarr nicht insgesamt kenne, sondern nur dessen zweite Hälfte, ist Bela Tarr mit diesen fünf Filmen zu einem meiner absoluten Lieblingsregisseure aufgestiegen. Ich mag diese langsamen Filme, die mit langen Einstellungen, eindringlicher Musik einen Sog entwickeln, der mich nicht mehr entkommen lässt.




Den Mann muss ich tatsächlich noch entdecken (bis jetzt kenne ich erst ein paar Titel). Danke, dass du ihn mir wie Honig durchs Maul ziehst! :) Ich verlasse mich mal auf deinen Geschmack.
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Ein hübsches kleines Tarr-Porträt, auch wenn ich ja kürzlich schon auf anderem Wege geschrieben habe, daß mir ein wenig der Ehrgeiz zu gründlichen Tarr-Studien fehlt, dafür hat mich "Das Turiner Pferd" dann doch nicht genug begeistert. Aber gut ist es allemal, wenn auf ein filmisches Werk wie Tarrs mal das Scheinwerferlicht eines Filmtagebucheintrags fällt.
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Ich finde den Text sehr sehr informativ, denn bisher kenne ich von Tarr nur den überwältigenden A TORINIO LO. Vorher war mir den Name Tarr gar nicht geläufig.
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Vielen Dank für eure Rückmeldungen zu einem ganz sicher nicht massenkonformen aber dennoch viel zu unbekannten Filmemacher.

@zodiac:
Wenn Du dich auf meinen Geschmack verlässt, verlasse ich mich auf deine Geduld. Vielleicht läuft ja das "Turiner Pferd" demnächst auch in deiner Nähe? Das wäre eine gute Gelegenheit, Bela Tarr anzutesten und im Kino zu begegnen, wo seine Filme unbedingt hingehören.
Bela Tarr hat mich die letzten Wochen sehr in Beschlag genommen. Habe die fünf Filme alle ein zweites Mal gesehen und mich noch besser in ihnen zurechtgefunden, als nach den schon beeindruckenden Erstsichtungen vor ca. 2 Jahren.
Habe deshalb auch leider meine Antwort auf deinen tollen Lelouch-Text aus den Augen verloren, so wie ich auch die jünste Kinoaufführung von "So sind die Tage und der Mond" nicht geschafft habe.

@Settembrini:
Mit den Tarr-Filmen bin ich nun doch schon schneller durchgewesen, weil meine momentane Faszinationswelle mich nicht zur Ruhe kommen ließ. An der Literaturfront beschäftige ich mich nun noch weiter mit Krasznahorkai, lese gerade "Melancholie des Widerstands", der jedoch nicht so werksgetreu wie "Satanstango" verfilmt wurde. Zumindest ist das mein anfänglicher Eindruck. Ich werde also trotzdem noch eine Weile im Bela Tarr Kosmos gefangen bleiben.

@Ubaldo:
Zum Weiterschauen empfiehlt sich nun wohl "Die Werckmeisterschen Harmonien", weniger sicherlich "Satanstango". Das ist dann was für die ganz verrückten, fortgeschrittenen und unbelehrbaren Bela Tarr-Fans. ;-)
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@Gerngucker

Mach dir wegen Lelouch keine Sorgen! :) Man teilte mir in den Kommentaren schon mit, welche seiner Filme noch zum Einstieg taugen (offenbar so ziemlich alle). Und vermutlich hört der Mann erst auf, wenn er wirklich nicht mehr kann. :))

"So sind die Tage und der Mond" sollte übrigens als DVD günstig zu haben sein. Und früher oder später ist Bela Tarr unumgänglich. Mein Blogger-Programm bis zum ersehnten Urlaub steht nur schon fest, und momentan mühe ich mich mit einem Verriss ab, obwohl mir diese Art von Besprechung sonst leicht aus den Fingern schlüpft. ;)
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Habe kürzlich die ungarische DVD von "Die Werckmeisterschen Harmonien" gekauft und empfehle die hier mal wegen des deutschen Tons. Das ist soweit ich weiß die einzige DVD, die den anbietet. Die Hauptdarsteller haben alle auf Deutsch gedreht und ich habe beispielsweise die Fistelstimme von Lars Rudolph bei der Erstsichtung vermisst.
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Nemo sagte am 26. April 2012, 17:38:

Habe kürzlich die ungarische DVD von "Die Werckmeisterschen Harmonien" gekauft und empfehle die hier mal wegen des deutschen Tons. Das ist soweit ich weiß die einzige DVD, die den anbietet. Die Hauptdarsteller haben alle auf Deutsch gedreht und ich habe beispielsweise die Fistelstimme von Lars Rudolph bei der Erstsichtung vermisst.

Sowohl von "Werckmeistersche Harmonien", "Verdammnis" als auch "Satanstango" besitze ich ebenfalls die ungarischen DVDs. Nur "Werckmeistersche Harmonien" ist überhaupt als Film mit deutschem Ton verfügbar soweit mir bekannt ist. Und ich kenne auch nur diese deutsche Fassung. Ich kann mir einen Lars Rudolph und eine Hanna Schygulla ohne ihre markanten Stimmen ebenfalls nicht vorstellen, so sehr die Bedeutung von Worten in Bela Tarrs Filmen dessen Bildern auch zurückstehen vermögen.
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Gerngucker
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