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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0





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OLIVER TWIST (David Lean/UK 1948)



"Where is this audacious young savage?"

Oliver Twist ~ UK 1948
Directed By: David Lean

Die frühen, turbulenten Lebensjahre des Waisenknaben Oliver Twist (John Howard Davies), geboren von einer im Kindbett verstorbenen, gehetzten jungen Mutter, aufgewachsen unter existenzverspottenden Umständen in einem düsteren Waisenstift, als billige Arbeitskraft missbraucht von einem Sargmacher (Gibb McLaughlin), schließlich nach London geflüchtet, dort unter die Fittiche des raffgierigen Gauners und Seelenverkäufers Fagin (Alec Guinness) genommen um nach einigen Verwicklungen, die ihn mehrfach bald das Leben kosten, endlich in die Obhut seines lieben Großvaters (Henry Stephenson) zu gelangen.

Leans zweite Dickens-Verfilmung ist noch formvollendeter als die erste und wäre nicht jener spezielle mystische Touch, der "Great Expectations" so auszeichnet und der ganz besonders dessen Kinoqualitäten untermauert, dieser mehr als ebenbürtig. So bleibt das mitreißende, bildgewaltige Epos einer Kindheit, deren schicksalhafte Wendungen in einer Zeit, die Kinder erwiesenermaßen hasste, das eine ums andere Mal zu tiefster Betrübnis anhalten, ganz so, wie es bereits Dickens' epochale Geschichte vollbringt. Bekanntermaßen ist diese ein Meilenstein humanistischer LIteratur und David Lean, lebenslanger Kompositeur schmuckster Leinwand-Grandezza, rettet sie nahezu verlustfrei in sein Medium hinüber. Von der denkwürdigen, berühmten Guinness-Darstellung des Fagin bis hin zu Bill Sikes' (Robert Newton) unglückseliger Promenadentöle durchleidet man samt und sonders sämtliche Figurenschicksale, etwas, das lediglich ganz große Tragödieninszenierer wie eben dieser Brite so gewinnend zum Leben zu erwecken vermögen.
Ein Hochgenuss, selbst für härteste Kerle nur in Verbindung mit inflationärem Herzschmerz zu verdauen!

10/10

David Lean Charles Dickens London period piece



Es wird also Lean geguckt. Den hebe ich mir ja gerne für die Weihnachtstage auf. Habe das so seit der Kindheit drin. Weihnachten läuft "Oliver Twist". Und was ein Schocker, für ein Kind. Habe auch "Great Expectations" als Kind gesehen, und aus ganz anderen Gründen später immer noch klasse gefunden. Eines der Geheimnisse von Lean.

Ob sie im England des 19. Jahrhunderts aber wirklich ihre Kinder nachweislich gehasst haben? Wurden denn Kinder im 18. oder 17. oder 15. Jahrhundert so viel besser behandelt? Ich schätze, sie haben sie nur nicht so gehätschelt wie heute. Man war streng. Erwachsene Boss, Kinder Schnauze. Wie zu allen Zeiten außer der unmittelbaren Moderne. Und man hat Unterschichtkinder, weil's zeitlich anstand, in der Industrie ausgebeutet. Statt bloß in Landwirtschaft, Handwerk, Seefahrt und Kriminalität, wie vorher.

Ansonsten konntest du als Kind der viktorianischen Ära wahrscheinlich genauso viel Glück oder Pech haben wie zu anderen Zeiten, wo und wie du aufwächst. Und hattest schon mal generell Glück, weil du ein Engländer warst. Und kein Ire. Oder Russe. Oder Kongolese. Klar wurde routinemäßig geprügelt. Aber das wurde in dreißig hochkultivierten Jahrhunderten zuvor auch, an so ziemlich jedem Ort der Welt, inkl. bei Indianers. Damit hat erst unsere Nachkriegsgeneration (langsam) aufgehört. Kann man also auch nicht speziell den Viktorianern vorwerfen. Wenn sich jemand gehasst oder verachtet hat, dann doch eher die Klassen. Oder der Arme den noch Ärmeren. Und zwischen deren Stühle geraten gerne die Helden von Dickens.
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Erstmal danke für deine Einlassung :)

Du deutest es ja selbst schon an: Der Vorstoß der Industrialisierung, speziell in England und Preußen, bedeutete für den kindlichen Lebensalltag eine nochmal bitterere Pille als es die Jahrhunderte zuvor ohnehin schon waren. Dies lässt sich peziell für diese Ära hervorragend repräsentativ nachvollziehen, weil daraus eine Vielzahl von Zeitzeugenberichten und Dokumenten existieren. Ferner machte sich sich langsam ein Umbruchsdenken bemerkbar; "Pädagogen" (eine Berufsstandesbezeichnung, die es zunächst noch gar nicht gab und auch als völlig lächerlich und überflüssig wahrgenommen worden wäre) wie Pestalozzi kämpften für die Akzeptanz und den Status von Kindern, die häufig bloß wahlweise als lästige Mäuler zum Stopfen, billige Arbeitskraft, Prügel- und/oder Sexualobjekt, Altersversicherung galten, und kaum als vollwertige Menschen. Natürlich lässt sich dies nicht speziell auf das frühe 19. Jahrhundert festnageln, aber die Fülle von Zeitdokumenten hinterlässt betreffs dieser Periode eine starke Markanz.
Ferner noch eine kleine historische Pingeligkeit: Mit der Einordnung von "Oliver Twist" in die Viktorianische Ära wäre ich nämlich etwas vorsichtig. Der Roman wurde sozusagen parallel zu Victorias Regierungsantritt veröffentlicht. Das entsprechende Zeitalter sollte sich bekanntermaßen erst in den nächsten Dekaden zur Blüte und Prägnanz entwickeln.
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Geh mit den Epochen nicht zu pedantisch um, Funxton! Nicht die Monarchen machen sie, und sie machen sich schon gar nicht selber. Vielmehr sind es wir Nachgeborenen, die offenbar so etwas wie eine Einteilung benötigen und sie oft recht willkürlich vornehmen. - Die englische Romantik endet z.B. offiziell 1837, obwohl der erzromantische Lyriker Wordsworth noch jahrelang immer schlechtere Verse schmiedete. Andererseits bedienen sich die beiden grossen (viktorianischen) Romane der Brontë-Sisters (beide 1847 erschienen) gnadenlos beim Arsenal des romantischen Romans mit seinen "Gothic Heroes". Dass sich Charlotte Brontë einen Faux Pas leistete, weil sie "Jane Eyre" dem Viktorianer Thackeray widmete, dürfte bekannt sein... ;)

Tatsächlich spielte jedoch der Roman (obwohl seinerzeit noch nicht so hoch gehalten wie die Lyrik) eine grosse Rolle bei der späteren "Epocheneinteilung". Er wurde verschlungen, in ihm konnte man soziale Probleme auf wenigstens z.T. "realistische" Weise zur Sprache bringen (Industrial Novels) - und mit dem Viktorianischen Zeitalter begann (dies ganz oberflächlich, aber für die Rezeption von grosser Bedeutung) die Hoch-Phase der "Three-Volume-Novels", die man sich in Teilen in den öffentlichen Bibliotheken auslieh. Das heisst: Weil die Dinger viel zu teuer waren, las Miss Delacey den ersten Teil eines Romans und musste auf den zweiten warten, bis ihn Mrs. Fitzpatrick zu Ende gelesen hatte. --- Der Roman jener Zeit scheint also neben Veränderungen im Denken für das "Viktorianische Zeitalter" prägend gewesen zu sein. Und obwohl innerhalb dieser Zeit weitere Differenzierungen nötig sind (man kann etwa die naturalistisch anmutenden Spätwerke von Thomas Hardy nicht mit dem - pardon! - etwas sentimentalen "Oliver Twist" vergleichen), gehört Dickens neben Thackeray, der den historischen Roman von Walter Scott weiterentwickelte zweifellos dem Viktorianismus an. Ich würde auch bereits seine herrlichen "Pickwick Papers" der Epoche zuordnen. Sowohl das gedankliche Gefüge als auch Stil und Originalität des Erzählens heben sich merklich vom mit der Zeit etwas festgefahrenen Roman der Romantik ab.

Dies als Ergänzung, die in einem Filmforum keine Sau interessiert. Der alte Anglist musste aber seinen Senf dazugeben. Möge er sich in ein Literaturforum trollen!

Ach ja: Seid mal froh, dass ihr es nicht mit Lord Byron zu tun habt! Ich könnte einer Verlinkung zu meiner Besprechung seines "Don Juan" kaum widerstehen. - Wobei: Man besprach auch mal ein Gedicht von Thomas Hardy. Leider lässt es sich kaum mehr dem Viktorianischen Zeitalter zuordnen. :(
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Du glaubst gar nicht, was mich alles interessiert :D Andererseits interessiert mich mindestens genausoviel auch überhaupt nicht... :kork:
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Doch, ich glaube es zu wissen: Nackte Weiber interessieren dich. Dass sich der alte Zodiac, der nun mal kein nacktes Weib ist, für dich die Finger wund tippt, interessiert dich nicht. :cry:
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Doch, das interessiert mich auch :mango:
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Funxton

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