die fragen nach den begriffen usw. führen leider wieder von dem eigentlich interessanten punkt der frage nach bedingungen von rezeption weg. das thema hat einen weiten vorlauf über die empirische sozialforschung, über luhmann und habermas bis hin zu kant
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Anders gefragt: Kann es denn nicht möglich sein, sich auf dem öffentlichen Platz auszutauschen? Geht das? (Im Leben geht es doch auch - mal mehr, mal weniger.)
irgendwie bleibt die frage dunkel, deshalb folgende mutmaßung: mit dem "öffentlichen platz" meinst du soetwas wie arena, also die bereiche, in denen verschiedene teilöffentlichkeiten aufeinandertreffen und sich verständigen. ob das geht? ja.
das ist ja gegenstand der empirischen forschung, die im unterschied zu habermas (strukturwandel der öffentlichkeit) eben stärker mit messbaren größen operiert. das ideologiekritischen öffentlichkeitskonzept von habermas hingegen gäbe entlang seiner politischen orientierung eine andere antwort auf deine frage.
und was das leben betrifft, da freut es mich, daß du kein anhänger der theorie des simularums bist und wir sitzen was das betrifft an einem tisch
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Wir können doch grundsätzlich davon ausgehen, dass zwischen dem Experten und dem Laien Abstufungen in verschiedenen Graden bestehen (wobei letztendlich – ganz extrem – ein Mensch/Rezipient „eine Stufe“ darstellt), wobei man sich immer weiter qualifizieren kann (d.h. auch: spezialisieren).
das hat immo auch schon geärgert. ich finde die begriffe auch nicht 100prozentig gut, weil sie eben auch umgangssprachlich vorkommen, und dadurch sind sie mit negativen assoziationen belastet. allerdings sind sie wissenschaftlich etabliert, ich hab sie mir nicht ausgedacht, und ich glaube auch nicht daran, mirnichtsdirnichts einfach irgendwelche anderen begriffe dafür nehmen zu können oder womöglich neologismen unterzukriegen. das ist adorno mit dem "nichtidentischen" gelungen, jedoch ist das das einzige beispiel, welches mir einfällt. wenn wir wollen können wir forenmutzer
uns selbstverständlich auf andere worte einigen (im sinne einer "teilöffentlichkeit"), wenn das als hilfreich empfunden wird.
ich habe die begriffe konkret von einem autor namens albert dresdner entliehen. von diesem erschien 1915 ein buch über kunstkritik (die entstehung der kunstkritik). darin unterscheidet er laientum und kennertum, ferner eben laienpublikum und kennerpublikum. die rezeptionsproblematik hat durch diesen text meines erachtens auf gelungene weise zugriff erfahren, wie nirgends sonst. er geht unter anderem von dem akademismus in frankreich und der opposition zur akademischen theorie aus. er zeigt, daß moderne kunstkritik als ein laienurteil seinen anfang genommen hat, emanzipatorisch, als opposition. die kunst selbst hatte sich ja in der renaissance emanzipiert und deshalb wollten die künstler sich nicht mehr von den alten auftraggebern und ihren "sachverständigen" vorschreiben lassen, was zu tun sei. man arbeitete von da an nicht mehr für kunstkenner, sondern für laien, die sind von da an adressat und publikum. die künstler unterwarfen sich sozusagen dem laienurteil, weil sie die laien ja als publikum ins auge gefasst hatten. klar, daß sie da keine kritik "von oben" wollten.
bis ins späte 17. jahrhundert gab es überhaupt kein publikum. erst nach dem kampf der rubenisten gegen die poussinisten entsteht publikum, weil die durchsetzung "antiklassischer" werke (von laien) als fortschritt angesehen wurde: weil diese werke der bevölkerung thematisch, formell etc. entgegen kamen, und nicht mehr nur den kennern.
übrig blieb das kennertum und hatte an sich keine funktion mehr, deshalb - so dresdner - schob es sich unzulässig zwischen kunst und publikum. daß die "tyrannei des kennertums" bis zum heutigen tag nicht überwunden ist, halte ich angesichts solcher vorgänge für wahr, von denen z.b. buttgereit letztens aufm podium berichtet hat: daß er mit nem film auf festivals geht, wo die kenner in der jury nicht dazu in der lage sind, eine sachliche (z.b. auf die gefallenskundgaben des publikums bezogene) bewertung zu erstellen
es stellt sich die frage, ob diese entwicklung korrigierbar ist. (selbst diderot hat es seinerzeit nicht geschafft, den akademismus aus der kunstkritik herauszubringen, obwohl er "mut im talent"
hatte.)
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"...tarkowskij-filme als vorlkstümliche werke..." Das ist eine starke These ... aber eben nur eine These (versuch das jetzt bitte nicht, mit einen Tarkowski-Statement zu belegen ... daran glaube ich nicht).
ich sehe das so, sonst hätte ich gleich tarkowskij sprechen lassen
volkstümlich deshalb, weil a) die ARBEIT der schauspieler für das publikum nachvollziehbar ist.
durch die detailfreudigkeit und durch die kompositorische genauigkeit, die offensichtlich ohne zauberkasten, sondern quasi in handarbeit ausgeführt ist, bekommt das publikum direkten zugriff auf den
film als produkt.
c) der verlust von ortserfahrung spielt bei tarkowskij eine große rolle, wenn nicht die wichtigste. räumlich und gestisch sind die filme in heimatstil abgefaßt, der diesen verlust und dessen folgen ernst nimmt: den verlust von erkenntnis und selbsterkenntnis. auch die thematisierung verlorener werte ist d) ein hinweis darauf (verorene unterschiede und unterscheidungsmöglichkeiten wie herkunft, religionszugehörigkeit, lebenserfahrung etc.). dazu kommt e) die
materialästhetik, die ich als versuch sehe, die fortlaufende monotonisierung der gesellschaft zu durchbrechen (industrialisierung). die einmalige, unwiederholbare gewachsene struktur der situation natürlicher herkunft, sei es nebel, birkenwald, bewegtes wasser, eine ausdünstende wiese u.a. können als symbole aufgefaßt werden, die den (russischen) menschen ihre individualität jenseits allen materiellen besitzes zurückbringt.
dazu kommen f), g), h) der bescheidenheitsgestus, das dezente distinguierte auftreten und die erzwingung eines genauen wahrnehmens, eines bewußtseins um die details.
ps.: leseprobe dresdner:
"
die abhängigkeit vom regelcodex trug auch eine hauptschuld daran, daß die kritik außerstande war, kunstwerke in ihrer totalität zu erfassen. daß die vorstellung des kunstwerkes als eines organischen ganzen der kritik, wie der ganzen zeit, noch völlig fernlag, das ist der grundmangel gewesen, welcher den inneren fortschritt des kritischen denkens unterband. die regel konnte ja eben nur allenfalls das einzelne fassen und festlegen und der kritiker nur diese einzelrubriken anwenden. so wurden die kunstwerke für die beurteilung atomisiert, und es bestand der kern der kritischen technik darin, daß man das kunstwerk nach kategorien fällte."
Bearbeitet von kazanian, 16. Juli 2003, 21:52.