Also das QRT-Zitat (der hieß in Wirklichkeit übrigens Markus Leiner; folgt das Zitat eigentlich auch im Original einer solch eigenwilligen Orthografie, oder sind das Tippfehler?); also das QRT-Zitat trägt natürlich ziemlich dick auf und dürfte der Intention nach vor allem als Affront gegen irgendwelche verstockten Akademiker aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm zu interpretieren sein. Aber wer wieß, vielleicht ist's auch ernst gemeint (der Mann hat schließlich auch mal behauptet, BRAINDEAD handle von der Konfrontation zwischen der Maori-Kultur und dem Katholizismus); in diesem Falle hat Herr QRT eben eine recht eigenwillige und wenig konsensfähige Vorstellung von Sozialwissenschaft, Medientheorie und Ethnologie...
Nichtsdestotrotz stellt CANNIBAL HOLOCAUST - genau wie einige weitere Exponate des Kannibalen-Genres - den seltenen Fall eines Exploitationfilms mit einer relativ klaren philosophischen Agenda dar. Allerdings ist diese im wesentlichen nicht auf Deodatos Mist gewachsen, sondern wurde vom Mondo-Genre ererbt bzw. übernommen. Dieser Tatbestand springt einem bei der Betrachtung von CANNIBAL HOLOCAUST nicht nur ins Auge sondern auch ins Ohr, denn der in der Diskussion mehrfach gelobte kontrastive Musikeinsatz aus CH läßt sich direkt auf Gualtiero Jacopettis MONDO CANE zurückführen. (Dass dies kein bloßer Zufall ist, das beweist die Tatsache, dass Deodato nicht nur den Modus übernahm sondern auch gleich Jacopettis "Hauskomponisten" Riz Ortolani für den Soundtrack engagierte.)
Um dies näher auszuführen ist ein kurzer historischer Exkurs erforderlich:
Vermeintliche "Dokumentationen", die das Gewand der Bildung dafür nutzten, um spekulatives Material an den Zensoren vorbei auf die Leinwand zu schmuggeln, sind wahrscheinlich so alt wie die Institution der Filmzensur; ja, dies dürfte sogar einer der ältesten Operationsmodi des Exploitationfilms sein. Meist herrschte in diesen Filmen aber ein moralisierender Ton, der die Position der öffentlichen Moral - und damit die der Zensoren - absolut setzte, um die "Abweichungen" als Negativbeispiel darzustellen. (Man denke in diesem Zusammenhang auch an die frühen "Aufklärungsfilme" über Drogen, Geschlechtskrankheiten usw.)
Die große Innovation von Jacopettis MONDO CANE war es - wir schreiben die frühen 60er, ein äußerst "progressives" Jahrzent - diese alten Zöpfe abzuschneiden und statt eines moralischen Absolutismus auf einen konsequenten Relativismus zu setzen. Scheinbar barbarische Praktiken bei Naturvölkern wechseln sich ab mit schonungslosen Darstellungen der zahlreichen Makel unserer "zivilisierten" Hälfte der Welt, und das Fazit ist recht eindeutig: es gibt keinen Fortschritt in der Natur des Menschen. (Fast könnte man in Jacopettis Film einen populärkulturellen Vorläufer zu Hans Peter Duerrs monumentaler Abrechnung mit dem "Mythos vom Zivilisationsprozess" sehen, denn z.T. bedienen siche beide sogar sehr ähnlicher Beispiele.)
Dieser Relativismus, der sich aus einer defätistischen Kontrastierung der Kulturen ergab, bildete in einer trivialisierten Form die Grundstruktur für praktisch alle Mondofilme der 60er und 70er, prototypisch verkörpert in den zahllosen Filmen der Castiglioni-Brüder und des Teams Morra/Climati.
Auf die weltweite Popularität von Mondo-Filmen wie AFRICA AMA (US-Titel: SHOCKING CANNIBALS!) oder SAVAGE MAN, SAVAGE BEAST reagierte die italienische Filmindustrie auch mit fiktionalen Aufarbeitungen dieser Grundprämisse (wobei das basale Handlungsmuster zunächst von Filmen wie DER MANN DEN SIE PFERD NANNTEN entlehnt wurde). Mit Lenzis MONDO CANNIBALE (übrigens ein wirklich sehenswerter Film) erblickte der Kannibalenfilm das Licht der Welt. Auch hier werden Vertreter der Zivilisation mit einer vorzivilisatorischen Wirklichkeit konfrontiert, in welcher sie sich entweder bewähren müssen, oder den Weg alles irdischen gehen.
Während die frühen Kannibalenfilme ihre zentralen Protagonisten noch zumindest ambivalent oder sogar als Identifikationsfiguren inszenierten, war es schon bei Filmen wie WEISSE GÖTTIN DER KANNIBALEN recht deutlich, woher der Wind wehte: die Zivilisation wird gleichgesetzt mit "niederen" Motiven (Profitsucht, Sadismus, etc.), welche die urtümlichen Grausamkeiten der Naturvölker mehr als relativiert - nicht zuletzt, weil sie über kurz oder lang den Untergang der Naturvölker bedeuten werden.
Den Höhepunkt in der Ausarbeitung dieses Topos bilden sicherlich CANNIBAL HOLOCAUST und CANNIBAL FEROX, wobei ersterer der wesentlich besser gemachte Film ist. Ein sehr cleverer Zug von CH ist es, auf der Plotebene über die "Dokumentarfilmer" um Alan Yates den Rückbezug zum Mondokino zu versuchen; eine Idee, die übrigens bereits in den 60er Jahren in Paolo Cavaras DAS WILDE AUGE ausgearbeitet wurde. Ironischerweise ist es aber gerade dieser ambitionierte Einfall, der dem Film seine Konsistenz nimmt und ihn in einen performativen Widerspruch verwandelt: das moralische Urteil, das über die gewissenlosen Filmer gefällt wird, trifft natürlich auch Deodato selbst und raubt damit dem Film die Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit.
(Dies ist im übrigen bei vielen moralisierenden Exploitationfilmen der Fall; und es ist spricht für die selbstreflexive Bedachtheit von Jacopettis Ansatz, dass man seinen Mondofilmen diesen Vorwurf nicht machen kann: Die Tatsache, dass die "zivilisierten" Massen in die Kinos strömten, um die Abstrusitäten von MONDO CANE zu sehen, belegt ja gerade die These des Films.)
Ich hoffe, diese Ausführungen stellen CANNIBAL HOLOCAUST einigermaßen in einen filmhistorischen Kontext (der bei diesem Film allzu oft unterschlagen wird). Natürlich "muß" man den film deshalb nicht gut finden (dies gilt im übrigen für für keinen Film; auch für CITIZEN KANE oder 2001 gibt es keine Argumente, die den Gegenüber zur Zustimmung
zwingen), aber zugleich hoffe ich, damit gezeigt zu haben, dass CH keinesfalls das Ergebnis seines "Zufallstreffers" ist, dessen Elemente man wie bei einer Zwiebel einzeln wegnehmen kann, sondern Teil einer umfassenden Entwicklung, die einer inneren Logik folgt.
Natürlich gibt es im Kannibalengenre auch einge Filme, die mit den obigen Ausführungen überhaupt nichts am Hut haben - z.B. die Eurocine-Dinger wie CANNIBAL TERROR, oder JUNGFRAU UNTER KANNIBALEN etc. - aber dies spricht keineswegs gegen die Ausführungen, sondern allenfalls gegen die einzelnen Filme.
(Und was FakeShemps Kritik am Schauspielerensemble von CH angeht, so kann ich diesen nicht nachvollziehen. Ich halte es sogar für eine recht effektive Idee, auf unbekannte Gesichter und ein relativ naturalistisches (d.h. wenig "künstlerisches") Spiel zu setzen, da eine Betonung des Artifiziellen kontraproduktiv gewirkt hätte.)
ach ja, nochmals @ fakeshemp:
Es ist übrigens auch durchaus legitim, einen Film auf moralischer Ebene abstoßend zu finden - über die Tiergreuel in CH läßt sich auch wenig anderes sagen; insofern verstehe ich deine moralischen Bauchschmerzen vollkommen -, während man zugleich ästhetische Qualitäten anerkennt. Ohne diese Trennung wäre unser kulturelles Leben sogar ziemlich arm. Wie sähen Kunst und Kultur aus, wenn jegliches Werturteil ein moralisches wäre, und alles an seinem Beitrag zu "Besserung des Menschen" gemessen würde?
Bearbeitet von delirio caldo, 10. Juni 2003, 21:38.