Zitat
Je länger man sich mit filmen beschäftigt, vor allem dann, wenn man gelegentlich amateurhafte kritiken wie diese schreibt, desto mehr entwickelt sich der blick für die filmischen elemente eines films- das also, was uns beispielsweise bei einer minutenlangen szene ohne schnitt begeistert aufspringen lässt, während andere sich langweilen, ohne überhaupt den grund dafür zu bemerken.
City of god hat die seltene eigenschaft, einen zuschauer wie mich, allein durch seine erzählung so mitzureissen, dass mir jener filmkritische blick nur allzu schnell abhanden kam.
Eine zweite sichtung wird auf jeden fall nötig sein, bevor ich ein endgültiges urteil fälle, vorerst also nur einige ansätze:
Es wird schon länger disskutiert, ob in zukunft der einfluß des asiatischen kinos zu gunsten des südamerikanischen abnehmen wird. Vielmehr noch als bei amores perros, der schon vorher vermutungen in dieser hinsicht hervorrief, werden hier ansätze eines, dem neuen südamerikanischen kinos angehörigen looks greifbar- die dynamische handkamera, der hyperschnelle schnitt, die uns hier gerade während der tötungsszen, in die perspektive des täters versetzt, es ist seine erregung die wir hier erfahren, ganz im gegensatz zur slo mo des hk kinos, welche durch die verlangsamung den blick derjenigen einfängt, welche zuschauen müssen.
Das ist vor allem deshalb so spannend, weil er noch roh und ungeschliffen ist, da wird noch mit splitscreens, stroboskopeffekten und handkameras experimentiert, es gibt noch kein festgelegtes muster, keine klischees.
Noch im vorspann lief der trailer zu matrix reloaded, angesichts dessen kalter, berechnender machart, bar jeglicher spielerei und innovation, mir ein heisser südamerikanischer wind gerade recht kommt- nun warte ich sehnsüchtig auf den dazugehörigen sturm.
Schön, dass Dir der Film so gut gefallen hat. Irgendwie dachte ich mir das schon, war aber dennoch schon ganz gespannt auf Deine Reaktionen. Blödes Internet - da denkt man im Alltag dann plötzlich an Leute, von denen man noch nichtmal weiß, wie sie aussehen!
Dein Tagebucheintrag deckt sich auch ziemlich mit meinen Eindrücken. In der Tat, die Erzählung des Filmes, überhaupt die ganze Atmosphäre, dieses seltsam flirrende Schweben des Filmes zwischen Zitat (Tarantino, Scorsese, Blaxploitation) und Eigenständigkeit (eigentlich hat das mit Tarantino, Scorsese, Blaxploitation auch wieder rein gar nichts gemein) hatte mich ungemein eingenommen, das formale blieb mir ebenfalls weitgehend verborgen. Im Inside las ich in einem Thread, der Film überzeuge vor allem durch seinen "dokumentarischen Stil", würde dadurch noch eindringlicher! Da habe ich, mit ein paar Wochen Distanz allerdings, erstmal geblinzelt: "Dokumentarischer Stil? Hä?" Bei der zweiten Sichtung achtete ich drauf und natürlich, ganz klar: der Film sorgt ja stellenweise geradezu für Schwindelanfälle, so verwackelt ist die Handkamera, so dicht dran ist man am Geschehen. Mag daran liegen, dass ich zwischen dokumentarischer und fiktiver Formalästhetik nicht mehr so recht unterscheiden kann/möchte, so dass mir das nicht aufgefallen ist, aber in der Tat hatte ich, geblendet - positiv gemeint! - von dem Film, kaum noch die Fähigkeit, mir die formale Ästhetik des Filmes wieder zu vergegenwärtigen. Zumindest konnte ich "dokumentarischer Stil" nicht sofort mit "wackelnde Handkamera" assoziieren.
Der Vergleich mit dem asiatischen Kino bietet sich, gewissermaßen, an, denn ich denke ebenfalls, dass das südamerikanische Kino dem asiatischen derzeit, zumindest was den "Exotismus-Bereich" der Filmwahrnehmung hierzulande angeht, gehörig den Rang abläuft (wenn auch das asiatische deswegen nicht schlecht ist!). Der grandiose Amores Perros, der ganz wunderbare Y Tu Mamma Tambien und nun auch der schlichtweg fasznierende City Of God lassen, wenn auch die ersten beiden aus Mexiko stammen, noch auf einiges hoffen. Ich bleibe jedenfalls gespannt, ob einem so katharsischen wie inspirierenden Sturm wie City Of God vergleichbares folgen wird. "Das wildeste Kino der 00er, vielleicht sogar der 10er Jahre stammt aus Südamerika und nicht mehr aus Fernost", war im übrigen auch einer meiner ersten Sätze nach der 2. Sichtung!
City Of God erzielt einen ähnlichen Effekt wie Punch-Drunk Love: er erneuert die innige Liebe zum Film, erinnert daran, was einst, mit noch naiverem Blick, zu dieser Liebe führte. Er macht offensichtlich, was man nach Jahren kalkulierter, konventioneller, immer zwar irgendwie nicht schlechter, aber dennoch seltsam diffus "netter" Filme verdrängt hat, was diese Liebe etwas einschlafen, zum Alltag hat gerinnen lassen: dass Film als Kunst eben auch das Wilde, das Unbändige, das Inspirierende, vor allem aber: das Inspirierte in sich bergen muss. Was nutzt jegliche formale Eleganz, wenn da kein Soul zu spüren ist? Was bringen schon Filme ohne Ecken und Kanten, noch besser: ohne Klingen und Widerhaken, die jeder, aber auch wirklich auch jeder mit einem Minimum an Geschmack und ohne sich irgendwie verbindlich positionieren zu müssen gut finden und sich dennoch nicht als einer jener "Mainstream-Kucker", unterm Strich also als was besseres, fühlen kann? Kino muss wieder weh tun, Kino muss wieder begeistern können!
Immo