Zum Inhalt wechseln


Herr Settembrini schaltet das Licht an

Oberlehrerhafte Ergüsse eines selbsternannten Filmpädagogen




Foto

Ikiru (Einmal wirklich leben)



Und hier der nächste von meinen noch vorhandenen kino.de-Texten (wobei ich leider vorwegnehmen muß, daß wohl keiner der Texte, die ich noch anzubieten habe, an die Qualität der Vertigo-Rezension herankommen sollte), zu Kurosawas Ikiru. Auch in diesem Text werden wesentliche Details der Handlung preisgegeben, als Hinweis für Leser, die den Film noch nicht kennnen und möglicherweise Anstoß daran nehmen könnten (obwohl Ikiru eigentlich nicht zu den Filmen gehört, wo solche Warnungen unbedingt nötig wären).



Der Beamte Kanji Watanabe, Leiter der Beschwerdeabteilung in seiner Behörde, erfährt, daß er an Magenkrebs leidet und nur noch ein halbes Jahr zu leben hat. Die niederschmetternde Nachricht wirft ihn aus der Bahn, er geht nicht mehr zu Arbeit und beginnt sich in Lokalen und Striptease-Bars herumzutreiben, bis er sich schließlich an einen schon so gut wie abgelehnten Antrag auf den Bau eines Spielplatzes, der in seinem Amt von einer Abteilung zur anderen weitergereicht wird, erinnert und eine Erfüllung darin findet, die Fertigstellung dieses Spielplatzes durchzusetzen, auf dem er schließlich seiner Krankheit erliegt.
Mit diesen knappen Sätzen könnte man die Handlung von Akira Kurosawas meisterlichem Ikiru (Einmal wirklich leben) zusammenfassen und hätte doch nichts gesagt. Tatsächlich ist Kurosawas Film ein sowohl inhaltlich als auch formal herausragender Film, der sich zudem durch seine thematische Vielschichtigkeit auszeichnet:er erzählt nicht allein das private Drama des alternden Beamten Watanabe, sondern macht auch die Absurdität und Leblosigkeit einer bis zum äußersten getriebenen, kafkaesken Bürokratie sichtbar, spricht schonungslos die innere Leere einer sinnentleerten Arbeitswelt an (was in der japanischen Gesellschaft besonders zu beachten ist) und knüpft zum Teil thematisch auch an Rashomon an, der unter anderem von der Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und der Wirklichkeit handelte.
Dabei versteht es Kurosawa immer wieder, durch den Aufbau und die Inszenierung des Films außergewöhnliche Wirkung zu erzielen. Deutlich wird das etwa an der Szene, in der Watanabe von seiner tödlichen Erkrankung erfährt: die meisten Regisseure hätten hier sicherlich gezeigt, wie ein Arzt dem Protagonisten mitteilt, daß seine Tage gezählt sind. Das wäre dann eine Szene, die sicherlich nicht ohne Kraft, aber doch konventionell ist. Kurosawa geht anders vor: er läßt Watanabe im Wartezimmer einen Mann treffen, der ihm erzählt, daß die Ärzte den hoffnungslosen Fällen niemals die Wahrheit sagen, sondern nur eine harmlose Gastritis diagnostizieren würden und beginnt dann damit, die Symptome eines fortgeschrittenen Magenkrebs zu schildern, zur Bestürzung Watanabes, dem sie alle schon vertraut sind. Als er wirklich vom Arzt aufgerufen wird und zu hören bekommt, er leide an einer Magenschleimhautentzündung, weiß er, daß damit in Wahrheit sein Todesurteil ausgesprochen ist.
Ähnliches gilt für das letzte Drittel des Films: statt Watanabes schließlich erfolgreichen Kampf um den Kindergarten geradlinig zu zeigen, führt Kurosawa den Zuschauer nach etwa zwei Dritteln des Films unmittelbar auf die Trauerfeier und zeigt Watanabes Bemühungen in Rückblenden; auf diese Weise entlarvt er zugleich (und hier gibt es eine Verwandtschaft mit Rashomon), wie diejenigen, allen voran der Bürgermeister, die wenig oder nichts dazu beigetragen haben, sich nun nachträglich mit fremden Federn zu schmücken versuchen.
Dabei verdankt der Film einen großen Teil seiner Eindringlichkeit Kurosawas souveränem Einsatz filmischer Mittel und seiner kraftvollen Bildersprache. In einer vorzüglichen Montagesequenz wird der Weg eines Antrags durch die verschiedenen Abteilungen eines Amtes gezeigt, womit die grotesken Kreisläufe innerhalb der Bürokratie deutlich werden; am Ende des Films zieht Kurosawa in einer Einstellung die Kamera allmählich in solcher Weise nach unten, daß die Beamten hinter ihren Aktenstapeln regelrecht verschwinden - so wird am Schluß auch deutlich, daß Watanabe zwar einen einzelnen Erfolg errungen hat, daß sich aber grundsätzlich gar nichts geändert hat. Es gibt eine Fülle von Bildern, die haften bleiben, so in einer wundersamen Einstellung, die Watanabe auf dem fertigen Spielplatz auf einer Schaukel sitzend zeigt, durch ein Klettergestell hindurch gefilmt - und doch fehlt dieser Bilderflut, die manchmal an die Werke von Orson Welles erinnert, alles manieristische oder gar narzißtische.
Die Darsteller sind wunderbar, besonders Takashi Shimura versteht zu überzeugen: er wirkt müde, vereinsamt und verzweifelt, fast ausgebrannt, und verleiht seinem Kanji Watanabe doch eine Würde, die ihm niemals abhanden kommt.
Ikiru ist ein stilles Meisterwerk Kurosawas, das einen Vergleich mit seinen herausragenden Samuraifilmen nicht fürchten muß, ein anrührender, bewegender Film, der von individuellen Problemen wie Sinnentleerung und Vereinsamung handelt, darüber hinaus aber auch eine gesellschaftliche Dimension besitzt und von einer zwar resignativen, doch nicht zynischen, sondern sehr menschlichen Sicht geprägt ist.

(Zuerst veröffentlich bei kino.de im Jahr 2008)

kino.de



In der Tat ein großartiger Film, sicher der ruhigste Kurosawa. Besonders gefallen hat mir die grobe Zweiteilung des Erzählung mit der Rückblendenstruktur. Auch die Szene, in der der Beamte seinen Sohn und dessen Frau über sich reden hört, bleibt einem eindrücklich im Gedächtnis. Oder der Versuch der jungen Frau, in ihm den Lebensmut neu zu wecken. Muss ich mir demnächst wieder mal anschauen.
  • Melden
Wie herausragend gut Shimura hier agiert, wird auch dadurch deutlich, da er seine ganze Rolle so gut wie ohne Text und Dialogpassagen zu gestalten weiß. Er sagt ja beinahe fast gar nichts den ganzen Film über. Er vermittelt alles über die Darstellung, das Spiel.
  • Melden

April 2024

M D M D F S S
1234567
891011121314
151617 18 192021
22232425262728
2930     

Neuste Einträge

Neuste Kommentare