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Mille Fleurs, Baby!

Filmtagebuch




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Spiel mir das Lied vom Tod



Spiel mir das Lied vom Tod

Nebenschauplatz: Der Ozean und Morton


In einem Film voll Rache und Mord ein ergreifender, aber auch seltsam deplazierter Wunsch: Einfach nur den Ozean erreichen. Der, der ihn hegt, heißt Morton: Ein Eisenbahnmagnat, so reich wie todkrank. Beide Charakteristika spiegeln sich in seinem privaten Eisenbahnwagon wieder, in dem man ihn meist sieht: Die stilvolle Ausstattung, das Geld, das ohne große Sicherungsmaßnahmen in den Schubfächern des Schreibtisches liegt, und die Tatsache, dass jemand dem Massentransportmittel Eisenbahn den komfortablen Luxus eines eigenen und nach eigenen Wünschen verkehrenden Privatzuges mit individuellem Wagon abgetrotzt hat – all dies spricht für Mortons Reichtum. Das Innenleben des Zuges betont aber auch seine Krankheit – durch das von der Decke herablassbare Gitter, an welchem er seinen erschlaffenden Körper trainiert – und seinen Wunsch, den Ozean zu erreichen, ausgedrückt durch ein Ölgemälde tosender Wellen. Mortons Wagon ist zugleich Thron und Schutzwall, außerhalb dessen er „wie eine Schildkröte ohne ihren Panzer“ wirkt, wie es sein Handlanger Frank einmal formuliert.
Überhaupt: Frank. Mortons Beziehung zu ihm ist zwiespältig. Wir wissen, dass beide schon länger zusammenarbeiten, aber wir wissen nicht wie diese Zusammenarbeit ausgesehen haben mag, wie sie sich durch Mortons Krankheit verändert hat. Es ist aber sicher, dass Frank nun mehr und mehr die Oberhand in dieser Beziehung gewinnt. Vielleicht war Morton früher skrupelloser, jetzt aber sind ihm die Methoden seines Handlangers unangenehm, einerseits weil sie unnötig brutal sind, andererseits, weil Franks zunehmend eigenmächtigeres Handeln seine Ambitionen verrät. Morton verlässt sich lieber auf sein Geld und die Macht, die es ihm verleiht, während Frank um die Macht seines Revolvers weiß, was ihn aber nicht daran hindert, zusätzlich auch nach Geld und Einfluss – beides potenziell durch die Inbesitznahme von McBains Land erreichbar – zu streben. Während der Geschäftsmann Morton Skrupel gegenüber dem Töten hegt und krankheitsbedingt immer schwächer wird, dringt der Revolvermann Frank auf dessen Territorium vor, will beides: Mörder und Kapitalist sein. Später im Film werden die beiden Männer ihre Rivalität ausfechten, sich jeweils auf die Waffe ihrer Wahl verlassend: Geld versus Schützenkunst. Keiner wird den anderen töten. Aber: Keiner wird den Film überleben.
Was Mortons Figur so interessant macht, sind auf menschlicher Ebene seine Verzweiflung und seine Verletzbarkeit, und außerdem die Tatsache, dass er – fast schon wie im klassischen Drama – quasi als schuldlos Schuldig-Gewordener in den Konflikt zwischen Frank, Mundharmonika und Cheyenne hineingezogen wird: „Schuldlos“, weil er Franks Mordtat an der McBain-Familie weder befiehlt noch gutheißt, „schuldig“, weil er dennoch Franks Auftraggeber ist und nicht die Augen vor dem Charakter und den Methoden seines strebsamen Unterlings verschließen kann.
Regisseur Sergio Leone wird ein Zitat zugesprochen, das lautet: „Wenn einer bei John Ford aus dem Fenster schaut, dann tut er es, um die Landschaft zu bewundern. Wenn einer bei mir aus dem Fenster schaut, dann wird er erschossen.“ Was heißt das für einen, der, wenn er aus dem Fenster sieht, Wüste erblickt und sich doch nichts sehnlicher wünscht, als den Ozean zu erreichen?
In einer wunderschönen und doch todtraurigen Szene, eine der berührendsten des ganzen Films, wird Morton sein Ziel schließlich erreichen und doch verfehlen: Die Pfütze als Ozean. Ende einer Nebenfigur. Nur der Tod ist gewiss.

Texte aus kino.de-Zeiten



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